Seite:Rellstab Empfindsame Reisen 2.pdf/96

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Ludwig Rellstab: Empfindsame Reisen: Nebst einem Anhang von Reise-Berichten, Skizzen, Episteln, Satiren, Elegien, Jeremiaden, usw., Band 2

einen solchen Dintenbecher täglich mehrmals leeren zu dürfen! Die Promenade ist, dies sei der einzige Sonnenblick in der Jeremiade, – eine schöne Lindenallee, eine Art Wäldchen. Uebrigens ist die Gegend so dürr wie die Seele eines Badegastes par plaisir. Links eine mühsame Ruine auf kahlem Gipfel, rechts ein noch mühsameres Lusthaus. Nach beiden wird der Spaziergang gerichtet; aber welch ein Spaziergang! Kein einsamer oder zweisamer an lieber Seite, sondern ein zwanzig-, funfzig-, hundertsamer. Vorher schluckt jeder etwas Gift, welches die Medisance besser in Fluß bringt, ohne die kein gewürzter Spaziergang zu denken ist. Zwar die Apotheker haben kein Recht, das Gift zu verkaufen, doch die Badegäste präpariren sich’s untereinander. Denn die Gräfin Emma hat einen neuen Shawl um, der zwanzig Damen hinlänglich einen ganzen Morgen und Vormittag vergiftet; sie ihrerseits wird durch ein neues Collier der Fürstin P… vergiftet. Doch die Fürstin schließt sich von dem patriotisch geselligem Giftnehmen nicht aus, sondern saugt es ihrerseits aus den rosigen Wangen und Lippen des jungen Fräulein Henriette von S…, die am Morgen auf der Promenade so ungemein von dem Grafen C… ausgezeichnet worden ist, der doch pflichtmäßig seine Huldigungen der Fürstin zu widmen hat, – so ungemein, daß man keine Kissinger Brunnenkranke

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Rellstab: Empfindsame Reisen: Nebst einem Anhang von Reise-Berichten, Skizzen, Episteln, Satiren, Elegien, Jeremiaden, usw., Band 2. Brockhaus, Leipzig 1836, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Rellstab_Empfindsame_Reisen_2.pdf/96&oldid=- (Version vom 1.8.2018)