Seite:Reymont - Der Vampir.djvu/229

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wie an einem Granitblock zerschlug, er kämpfte mit ihr, rang mit seinem eigenen Hirn, trat gegen seine eigene Seele in die Schranken, – er wollte sich nicht in den Abgrund des Wahnsinns hinunterstoßen lassen. Ja, war es denn möglich, daß eine physische Unmöglichkeit zur Tatsache werden konnte? Daß sich der Mensch in zwei Identitäten spalten konnte? Ein Wunder vollzog sich vor seinen Augen, ein Wunder, das er mit ansah, mit vollem Bewußtsein feststellte. Er sah es und konnte es dennoch nicht verstehen; schließlich erfaßte ihn das Grauen und zwang ihn vor irgendeiner unbekannten Gewalt in den Staub. Er wurde plötzlich gleichsam sehend, und indes seine geblendeten Augen in unermeßliche Fernen tauchten, wankte er an der Schwelle des Geheimnisses und wäre vielleicht in den plötzlich sich öffnenden Schlund gestürzt, wäre nicht jenes furchtbar bittere Empfinden seiner ganzen menschlichen Nichtigkeit gewesen.

„Gott, mein Gott!“ seufzte er klagend, und sein erschrockenes Herz empfand ein tiefes Verlangen, zu beten. Zum erstenmal in seinem Leben lastete über ihm das Unbekannte; zum erstenmal im Leben hatte er in die blinden Augen des Rätsels geschaut und war erstarrt in heiligem Entsetzen, aus seinem Herzen rissen sich die Worte irgendeines vergessenen Gebetes heraus. Er wußte nicht, vor wem er seine angstgeschwollene Seele enthüllte, wen er pries, noch vor wen er sich demütige, doch er wußte, daß er es tun mußte mit seiner ganzen Seele, mit der ganzen Tiefe seines flammenden Gefühls.

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Władysław Reymont: Der Vampir. Albert Langen, München 1914, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Reymont_-_Der_Vampir.djvu/229&oldid=- (Version vom 1.8.2018)