Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen | |
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die ja aus der Arnim-Brentanoschen Gruppe, wie er wußte, kam, nicht zur Lektüre reizen sollen? Von dieser Gruppe stand er abseits, ob er gleich von ihnen, auch von Grimms zum Blaubart, Kater u. a., ehrenvoll genannt wurde. Grimms Art, Märchen zu erzählen, war eine andere als die Tiecks. Grimms litterarische Formgebung der Märchen machte fast da schon Halt, wo Tiecks Arbeit erst begann. Brentano selbst, als Grimms Märchen erschienen, äußerte sein Mißbehagen an denselben: natürlich, da er die Märchen wieder auf seine Art behandelte. Und so sehe ich in dem, was Reimer als die Ansicht Tiecks hinschreibt, zuerst eine gewisse Nichtzufriedenheit desselben mit der Sammlung der Brüder. Tieck hat kein kritisches Wort öffentlich gegen Grimms gesagt, ebensowenig Clemens Brentano: aber darin, daß beide an ihrer Manier festhielten, liegt eine unausgesprochene Kritik der Grimmschen Art verborgen. Die Widerstände selbst gegen ein Werk wie die Grimmschen Märchen waren ihrer Zeit viel stärker und zäher, als es heute, wo sie allgemein durchgedrungen sind, uns scheinen möchte. Die Angabe, daß Tieck von Runge selbst die Märchen anders, als die schriftliche Gestaltung lautete, gehört habe, ist doch gar zu interessant für uns. Reimer hat sie nicht sich aus der Luft gegriffen; denn auch Steffens erzählte Wilhelm Grimm 1809 in Halle, von Runge, der sonst keine Märchen kenne, die beiden plattdeutschen öfters gehört zu haben. Ich glaube daher an die Richtigkeit der ganzen Reimerschen Aussage. Diesen Glauben erleichtert mir die allmähliche Ansammlung unvollständiger Varianten der beiden Märchen bei Grimms und ihren Nachfolgern und erschwert mir keineswegs der Brief Runges an Arnim vom 31. Mai 1808, worin er allzu bescheiden jedes Verdienst für seine Person ablehnte, „da es bloß Zufall sei, daß er die beiden Märchen vollständig zu hören bekommen habe“. Tiecks Erinnerung konstatiert nur das, was bei unbefangener Betrachtung des Aufbaus der Märchen sich ohnehin ergeben muß.
Trotz Tieck fühlte sich Reimer doch noch immer in der Klemme. „Inzwischen“, fuhr er zu Wilhelm Grimm am 1. Dezember 1812 fort, „sind alle diese Gründe bei weitem nicht hinreichend, um Ihrem Autorrecht nur die geringste Kraft zu entziehen, und ich bescheide mich gern, wenn Sie es verlangen, die
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/18&oldid=- (Version vom 1.8.2018)