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Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen

ganze Erzählung, welche gerade einen Bogen einnimmt, genau nach der Handschrift abdrucken zu lassen, wenn Sie aus irgend einem Grunde dies für besser achten. Verzeihen Sie sodann nur meinen Eingriff in Ihr Recht, der aber in der besten Absicht geschah. Billigen Sie hingegen, wie ich nach den Umständen doch kaum erwarte, mein Verfahren, so werde ich die angezogene Stelle der Anmerkung dahin ändern, daß der Eigenthümlichkeit des Ausdrucks keine Erwähnung geschieht. Ihre kurze Antwort erwarte ich umgehend, damit der Druck und die Ausgabe des Büchleins nicht verzögert werde; vielleicht ist es möglich, sie mit der Abschrift des fehlenden Märchens („Von den drei Schwestern“, nach anderen Briefen) zugleich zu erhalten.“

Die Brüder Grimm werden von diesen Bekenntnissen nicht erbaut gewesen sein. Allein Weihnachten und das Weihnachtsgeschäft stand vor der Thür. Einspruch von ihrer Seite bedeutete Verzögerung und Verlust. Einige Ausstellungen allgemeiner Art scheinen sie gemacht zu haben. Am 20. Dezember 1812 sandte Reimer ihnen mit den noch übrigen Aushängebogen die geforderten Exemplare auf gewöhnlichem und Druckpapier. Er habe in möglichster Eile den Druck beendigen lassen, weil die Zeit höchst knapp geworden sei: „So mag es wol gekommen seyn, daß am Schluß vielleicht einiges versehen worden, oder bei der Correctur die Sorgfalt weniger genau gewesen ist. Doch, denke ich, soll Alles ohne bedeutende Fehler abgegangen seyn, was ich jetzt nicht durchsehen kann, da selbst diese Revision Mangel an Zeit nicht gestattet.“

Und weiter dann in demselben Briefe: „Ihrer Erlaubniß gemäß, sind also die plattdeutschen Märchen geblieben, wie ich sie anfangs habe abdrucken lassen. Die Abweichungen von dem landesüblichen Dialekt waren in der That nur aus Unkenntniß oder Mangel an Gedächtniß beim Erzähler entstanden, und da diese Abweichungen in sich nicht einmal consequent durchgeführt waren, wie ich aus vielen Stellen deutlich beweisen kann, so würden sie nur als Unvollkommenheiten erschienen seyn; deshalb halte ich die Aenderungen wirklich für eine Verbesserung.“ Es bereitet einem ein psychologisches Vergnügen, zuzusehen, wie sich Reimer ganz unschuldig zu dem Bewußtsein einer verdienstlichen That hinauftäuscht.

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Zur Entstehungsgeschichte der Märchen und Sagen der Brüder Grimm. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen. Georg Westermann, Braunschweig 1907, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Entstehungsgeschichte_Maerchen_Sagen_Grimm.djvu/19&oldid=- (Version vom 1.8.2018)