Der Gewinn dieser Feststellung liegt klar zu Tage. Sie entzieht uns die Möglichkeit, das Lenorenlied etwa nach dem Briefe der Frau Pattberg vom 8. Mai 1808 für ein neueres Produkt ihr noch bekannter Volksdichter auszugeben. Ihre eigene Autorschaft aber ist an und für sich, nach Anlass und Absicht ihrer Sendungen, gänzlich ausgeschlossen. Und halte ich mir gegenwärtig, wie Brentano der blosse Zweifel an der Herkunft einer Romanze zu eifriger Nachfrage bestimmte, und dass Arnim, noch ehe er in Sachen des Lenoren-Liedes das Wort ergriff, seine Gegner ruhig auffordern konnte, ihm ein einziges Lied, das volksmässiger Grundlage entbehre, aufzuweisen, so bleibt nur der Schluss übrig: im Sinne der Frau Auguste Pattberg, die es einsandte, und nach der Überzeugung Arnims und Brentanos, die sich für die Aufnahme entschieden, war das Lenoren-Lied ein unverdächtiges Volkslied. Zu dieser Ansicht mussten sie um so leichter geneigt sein, als in Hippels Lebensläufen zweimal (1778. 1, 224 und 3, 313), und zwar in der ergreifenden Dichtung von seiner Liebe zu Minchen, des Volksliedes
Der Mond scheint hell,
Der Tod reit’t schnell!
Feins Liebchen, graut dir auch?
als eines „bekannten“ mit gleich bekannter Melodie gedacht war, und Arnim, wie wir von ihm selber wissen (Arnim und Brentano S. 212) kaum ein halbes Jahr zuvor in Königsberg das merkwürdige Buch gelesen hatte.
Nun hat das Lied das seltsame Geschick gehabt, in hervorragendem Masse der Träger des Streites zwischen Voss und Arnim zu sein. Die Ähnlichkeit dieser Volks- und Naturballade mit Bürgers Kunstballade Leonore musste natürlich von Anfang an in die Augen fallen. Der Stoff derselbe. Einzelne Wendungen ähnlich. Der Unterschied aber der: dass in dem Pattberg’schen Volksliede Feinsliebchen sich mit einer Art nüchterngesunden Gefühles gegen das Geisterhaft-Gespenstige dem Rufe des Geliebten versagt, während Bürgers Leonore, wie sich hier überhaupt das Wirkliche mit dem Übersinnlichen grenzlos bindet, dem Geiste Wilhelms auf sein Ross und in die Totenwohnung folgt. Um diesem irgendwie beschaffenen Verhältnis Ausdruck zu leihen, gaben Arnim oder Brentano nach ihrer Art, die Liedertitel im Hinblick auf persönliche, litterarische oder politische Dinge frei zu erfinden, dem Gedichte die Überschrift „Lenore“ und fügten den Vermerk hinzu: „Bürger hörte dieses Lied Nachts in einem Nebenzimmer.“
Dieser Vermerk hat nun viel Missbehagen und Widerspruch hervorgerufen.
Reinhold Steig: Frau Auguste Pattberg geb. von Kettner. Koester, Heidelberg 1896, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Frau_Auguste_Pattberg.djvu/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)