Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen | |
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Wie da bei dürrer Linde lag
Die Jungfrau in rotem Blute,
Er machte da ein tiefes Grab,
Der Braut zum Ruhebette,
Und sucht’ eine Linde Berg auf und ab,
Die setzt’ er an die Stätte.
Und einen großen Stein dazu,
Der steht noch in dem Winde,
Da schläft die Jungfrau in guter Ruh,
Im Schatten der grünen Linde.
Aus diesem Liede nun haben die Brüder Grimm ihren Sagentext hergestellt, dem man leicht am ganzen Sinn und an bestimmten Stichworten den Zusammenhang mit dem Texte anmerkt: „Dieser Ritter gewann die schöne Jungfrau auf dem Kindelsberg lieb“ usw. Die Brüder haben hier also den Weg rückwärts gemacht, den wieder jüngere Dichter wie Wilhelm Müller u. a. von ihren deutschen Sagen aus vorwärts taten, indem sie aus den alten Sagen neue volkstümliche Lieder schufen.
Nr. 241 (Der Binger Mäuseturm). Ziemlich eng, doch wieder mit stilistischer Freiheit, in Johann Banges thüringischer Chronik 1599, S. 35b nacherzählt. Den ursprünglichen Ausruf des Bischofs Hatto: „Hört, hört, wie schreien die Kornmeuse“ haben Grimms in das geflügelte Wort: „Hört, hört, wie die Mäuse pfeifen“ umgesetzt. Nur eine Stelle bei Grimms ist weniger gut geraten, nämlich die: „Und wie sie [die Menschen] in die Scheune gegangen waren, schloß er die Thüre zu, steckte mit Feuer an und verbrannte die Scheune sammt den armen Leuten“. Die Anstößigkeit liegt in der Objektlosigkeit von „anstecken“. Der ursprüngliche Text dagegen lautet: „Als sie in die Scheure kamen, Schloß er zu, Steckete sie an mit Fewer vnd verbrandte die Scheuren mit den Armen Leuten“. Wie man sieht, hat bei Grimms die Hinzufügung des Wortes „Thüre“, die die Tilgung des Objekts „sie“ bei „anstecken“ nach sich zog, die nicht mehr heilbare Unbequemlichkeit des Satzes verschuldet.
Nr. 247 (Das Mäuselein). Die Sage schließt sich mit einiger Freiheit an den Text in Prätorius’ Weltbeschreibung 1, 40 f. an. Einzelne Wendungen, die gut und alt scheinen, wie „das gerade gekleffte Fenster“', stehen nicht in der Quelle und sind erst von Grimms eingeführt. Wenn es bei Prätorius nur heißt: „eine vorwitzige Zoofe … rüttelt nicht allein die entseelte Magd, sondern beweget sie auch auff eine andere Stelle etwas fürder“ – bei Grimms aber: „eine vorwitzige Zofe … ging hin zu der entseelten Magd, rüttelte und schüttelte an ihr, bewegte sie auch an eine andre Stelle etwas fürder“, so empfinden wir die Einwirkung der gleichzeitigen Arbeit an den Märchen.
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/37&oldid=- (Version vom 1.8.2018)