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Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen

Volkspoesie der Lebenssaft, der sich aus allen Taten herausgezogen und für sich bestanden hat? und es so tun mußte, weil anders keine Geschichte zum Volk gelangen und keine andere vor ihm gebraucht werden könnte? Und diese Volksgeschichte ist wahrhaftig Bienenlauterkeit, keine Spinne hat dazu gesogen und keine Wespe papieren daran gearbeitet; ihr Geist aber von jeher ist allzu flüssig, rührig und bewegig gewesen, als daß er sich von Namen oder Zeiten hätte binden lassen, darum ist er doch unerlogen geblieben, ja äußerlich fast niemal gefälscht worden, obwohl er sich unaufhörlich von innerhalb neu gestaltet und wiedergeboren hat. Wenn wir also hiermit ganz besonders die Märchen der Ammen und Kinder, die Abendgespräche und Spinnstubengeschichten gemeint haben, so wissen wir zweierlei recht wohl, daß es verachtete Namen und bisher unbeachtete Sachen sind, die noch in jedem einfach gebliebenen Menschengemüt von Jugend bis zum Tod gehaftet haben. Sodann aber denken wir uns, daß auch in der abgeschlossenen Kraft der besonderen Stände wie unter kühlem Baumschatten die Sagenquelle nicht so versiegen können, während was in die Mitte, in die allgemeine Sonnenhitze geflossen, längst vertrocknen gemußt; gewiß, unter ehrsamen Handwerkern, still wirkenden Bergmännern, den grünen freien Jägern und Soldaten hat sich manche Eigentümlichkeit und damit eigentümliche Rede und Sage, Sitte und Brauch forterhalten, welche zu versammeln hohe Zeit ist, bevor völlige Auflösung erfolgt, oder neue Formen jener Traditionen Bedeutung mit sich fortgerissen. Dieses alles nun wünschen wir höchst getreu, buchstabentreu aufgezeichnet, mit allem dem sogenannten Unsinn, welcher leicht zu finden, immer aber noch leichter zu lösen ist, als die künstlichste Wiederherstellung, die man statt seiner versuchen wollte. Worauf wir durchaus bestehen zu müssen glauben, ist die größte Ausführlichkeit und Umständlichkeit der Erzählung, ohne alles Einziehen eines noch so kleinen gehörten Umstandes, ob wir uns gleich da, wo jene Genauigkeit der Tradition ausgeht, lieber noch mit dem bloßen Verlauf der Begebenheit begnügen, als auch seiner entbehren. Sowohl in Rücksicht der Treue, als der trefflichen Auffassung wüßten wir kein besseres Beispiel zu nennen, als die von dem seligen Runge in der Einsiedlerzeitung gelieferte Erzählung vom Wacholderbaum, plattdeutsch, welche wir unbedingt zum Muster aufstellen und woran man sehen möge, was in unserm Feld zu erwarten ist.“

Aus diesem altdeutschen Sammler wurde nun freilich nichts. Brentanos durch die strenge Grimmsche Auffassung von Sage und Märchen schnell abgekühlter Eifer kam auf die Angelegenheit nicht mehr zurück. Dagegen mahnte Arnim die Brüder fort und fort, mit der Veröffentlichung ihrer Sammlungen vorzugehen.

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Steig: Über Grimms „Deutsche Sagen“. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Georg Westermann, Braunschweig und Berlin 1916, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Steig_Ueber_Grimms_Deutsche_Sagen.djvu/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)