Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/95

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Er nimmt alle andern Flüsse auf und trägt ihr Wasser ins Meer, wo er von den kosakischen Schicksalen erfährt. Er nimmt an den Freuden und Schmerzen der Menschen teil und „wenn er zürnt, weint die Ukraine“ (‚Die Hajdamaken‘). Er gräbt die Ufer aus und wäscht die Wurzeln des Ahorns. „Alt steht er da, niedergebeugt wie ein düstrer Kosak.“ In den „Hajdamaken“ singt Jarema: „Mein Dnipró, du breiter und langer! Viel des kosakischen Bluts hast du ins Meer getragen, Vater, doch noch mehr wirst dahin du tragen, Freund. Und der Dnipró erhob die Wellen gleich Bergen inmitten der Schilfrohre, als ob er gelauscht hätte.“ Und in der Verbannung seufzt der Dichter selbst:

„O würd’ vom Dnipró mir ein Winken,
ein einzig Lächeln meinem Sehnen!“




Wenn Schewtschenko vor dem Jahre 1847 – dem Wendepunkt seines Lebens – als epischer Dichter gelten mochte, scheint er mir nach diesem Jahre eher ein lyrischer zu sein. Je mehr er sich von der Heimat entfernt, um so mehr steigert sich sein Heimweh, und je mächtiger die religiösen Gefühle und die einsamen Selbstbetrachtungen überhand nehmen, um so mehr trauert er über den sittlichen und politischen Verfall der ländlichen Bevölkerung. Er sieht sein Vaterland am Dnipró nicht mit den gleichen Augen an wie früher, wo ihn die Überlieferung des freien Kosakentums zu lebensfrohen epischen Lobgedichten begeisterte. In einem Gedicht vom Aralsee (1848) entschlüpft ihm sogar das trostlose Bekenntnis: „Zuletzt fand ich, daß es nur dort gut ist, wo wir nicht sind.“[1] Ein tiefer Pessimismus weht aus dem folgenden Gedichte (1848):


  1. Diese Zeile mutet mich an wie eine literarische Reminiszenz aus Gribojedows berühmter Charakterkomödie „Gore ot uma“. Als die flatterhafte Sofija (1. Akt, VII. Szene) fragt: „Wo ist es besser als in Moskau?“ gibt der sarkastische Tschatskij die beißende Antwort: „Gdje nas njet (wo wir nicht sind)“.