Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/94

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dichterischen Schaffens gern an den Ufern des Stromes weilte und der in der Lobpreisung des Heimatlandes sich zu dem charakteristischen Ausrufe hinreißen ließ: „O Steppen, wie herrlich seid ihr! Hol’ euch der Teufel!“[1]

Für Schewtschenko aber war der Dnipró etwas mehr als ein naturschöner Fluß; er war ein Teil seiner selbst; ein heiliger, die Personifizierung des freien Kosakentums, der Spiegel der unermeßlichen Steppen. Als er in Orsk weilte (1847), war es sein sehnlichster Wunsch, daß die Winde ihm wenigstens eine Handvoll Erde von den Ufern seines heiligen Dniprós senden möchten. Es ist auch ein sonderbarer Zufall, daß der Dnipró sowohl in seinem allerersten Gedicht („Die Besessene“) wie auch in dem allerletzten an seine Muse erwähnt ist. In der ersten Ballade, die sich am Ufer abspielt, wird der Dnipró fünfmal genannt, schon in der ersten Zeile heißt es: „Rewe ta stohne Dnipr schyrokyj“ (Der breite Dnipró brüllt und stöhnt). In dem Abschiedsgedichte, das er am Vorabend seines Todes in Petersburg schrieb, lauten die Schlußzeilen wörtlich:

„Am Phlegeton selbst oder am Styx im Paradies wie am breiten Dnipró im Haine werde ich eine Hütte bauen und ringsum ein Gärtchen pflanzen. Du wirst in den schattigen Raum hinschweben, ich werde dich wie eine Königin setzen heißen. Wir werden den Dnipró und die Ukraine uns ins Gedächtnis rufen, die heitern Dörfer in den Hainen, die Gräber wie Berge auf den Steppen und wir werden fröhlich singen.“[2]

Der Dnipró nimmt in der Dichtung Schewtschenkos wie in der Volksphantasie unendlich große Dimensionen an und verwandelt sich schließlich in einen greisen Sagenhelden. Er ist „mein Bruder“ (im Gedicht „Der aufgewühlte Grabhügel“) und „die Welt kennt nur einen Dnipró und keine zweite Ukraine“. Die Freiheit der Kosaken ist weit wie der Dnipró. Er ist wie ein blinder Greis, der am Zaun singt. Er ist breit und lang und unermeßlich wie das Meer.


  1. In „Taras Buljba“.
  2. Der Schluß des Gedichtes ist auch dem zur Erinnerung an Oksana 1850 geschriebenen Gedichte (s. Seite 43) etwas ähnlich.