Seite:Taras Schewtschenko. Ein ukrainisches Dichterleben. Von Alfred Jensen (1916).djvu/109

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werde. Die junge Braut aber mögen sie grüßen, auf daß sie seiner nicht mehr harre … Das Gedicht ist eine musterhafte Bearbeitung eines wohlbekannten Volksliedes.

Wie im alten Igorlied, dessen Fragmente von Schewtschenko 1860 übersetzt wurden, wird auch hier die Natur lebendig. Die Sonne übernachtet hinter dem Meere; der weißwangige Mond wandert am Himmel und betrachtet die endlose See, und Eichen aus der Hetmanenzeit stehn wie hochwüchsige Greise. Der Wind wird für Schewtschenko, sowie für die Volksphantasie überhaupt, ein lebendiges Wesen, das in menschliche Ereignisse eingreift und an den Schicksalen der Ukraine teilnimmt; bald flüstert er nachts mit den Schilfen, bald schreitet er über die Steppe und knüpft mit den Kurhanen (Grabhügeln) Gespräche an. Bald donnert seine Stimme gegen das Meer – alles wie mit einigen Pinselstrichen veranschaulicht, wie z. B. in der Einleitung zu den „Hajdamaken“: „Das Meer spielt, der Wind weht, die Steppe verfinstert sich und der Grabhügel spricht mit dem Winde.“

Ebenso rufen die Menschen die Winde, die Blumen oder das Meer an, wenn sie in Not sind oder die ungewisse Zukunft erraten wollen. Das Mädchen, vergeblich des Geliebten harrend, fleht den Sturmwind an, daß er zum Meere fliege und erspähe, wo der Teure bleibt:

„Wind, du wilder, Wind, du wilder!
     der du sprichst zum Meere:
Weck es auf, durchstürm es, frag es,
     wo mein Liebster wäre!
Frag, wo mein Geliebter weilet,
     hast ihn doch getragen
und allwo es ihn gelassen,
     muß das Meer dir sagen.“[1]


  1. Übersetzt von Julia Virginia; auch von Szpoynarowskyj.