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sieht man oft, wenn offene und unterrichtete Köpfe examinert werden und man ihnen ohne vorhergegegangene Einleitung Fragen vorlegt wie diese: was ist der Staat? oder was ist das Eigenthum? oder dergleichen. Wenn diese jungen Leute sich in einer Gesellschaft befunden hätten, wo man sich vom Staat oder vom Eigenthum schon eine Zeit lang unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit durch Vergleichung, Absonderung und Zusammenfassung der Begriffe die Definition gefunden haben. Hier aber, wo diese Vorbereitung des Gemüths gänzlich fehlt, sieht man sie stocken, und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen, daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat sei, gestern auswendig gelernt und morgen schon wieder vergessen haben, werden hier mit der Antwort bei der Hand sein.

Vielleicht gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade ein öffentliches Examen.[1]

Abgerechnet, daß es schon widerwärtig und das Zartgefühl verletzend ist, und daß es reizt, sich stetig[2] zu zeigen, wenn solch ein gelehrter Roßkamm[3] uns nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen; – es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüth zu spielen und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst der Gedanken, wie Kant[4] sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem Sechswöchner, Mißgriffe thun könnte.

Was übrigens solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch, in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist der Umstand, daß die Gemüther der Examinatoren, wenn die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können. Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit dieses ganzen Verfahrens, – man würde sich schon schämen, von Jemandem, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte, zu fordern, viel weniger seine Seele – sondern ihr eigener Verstand muß hier eine gefährliche Musterung passiren, und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus dem Examen gehen können, ohne sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der eben von der Universität kommende Jüngling, gegeben zu haben, den sie examinirten.



  1. Der Aufsatz schloss ursprünglich hier, unter Einbeziehung der zweiten Hälfte des jetzigen Schlusssatzes: „Vielleicht giebt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich von einer vortheilhaften Seite zu zeigen, als grade ein öffentliches Musterung passiren, und sie mögen oft ihren Gott danken, wenn sie selbst aus dem Exame[n] gehen können, ohne, sich Blößen, schmachvoller vielleicht, als der Jüngling gegeben zu haben, den sie examinirten. (Die Fortsetzung folgt.)“ Siehe Heinrich von Kleists Werke, Band 4, S. 393. Eine Fortsetzung folgte nicht.
  2. abgeleitet von „stätisch“: widerspenstig
  3. verächtlicher Vergleich „mit dem Examinator, der den Wert eines Menschen nach den fünf oder sechs Kenntnissen, die er feststellt, nicht nach seinem ganzen Wesen bestimmt, wie der ‚gelehrte Roßkamm‘, etwa ein Roßarzt, den Wert des Pferdes nach seinen theoretischen Regeln beurteile, anstatt, wie ein praktischer Pferdekenner, das Pferd nach seinen gesamten Eigenschaften und Leistungen einzuschätzen.“ Reinhold Steig, Heinrich von Kleists Werke, Band 4, S. 249.
  4. Kant bezeichnet Lehrer als „Hebamme seiner [des Schülers] Gedanken“, Metaphysik der Sitten, 2. Teil, 1797 und bezieht sich darin auf die Mäeutik des Sokrates.