Ich habe Euch schon erzählt, theure Verwandte, daß diese schwarzen Oblatenfresser das Licht scheuen und nur im Dunkeln ihre Unternehmungen machen. Man hat sie vielleicht nur deßhalb Kakerlaken genannt, weil sie lediglich in der Finsterniß sich wohl befinden. Zwingt man sie aus ihrem Verstecke, an das Licht hervor, so ziehen sie die Beine dicht an den Leib, verbergen ihre scharfen Kiefer hinter der gespaltenen Unterlippe, legen die Fühlhörner zurück und nehmen ein äußerst unschuldiges, sanftmüthiges Aussehen an. Fleisch und Fett, sonst ihre Lieblingsspeisen, rühren sie jetzt nicht an, zuweilen nur genießen sie etwas Zucker. Kaum aber ist die Leuchte des Tages hinter den Bergen hinabgesunken, so erwacht ihre Gier, und mit verdoppeltem Eifer stürzen sie auf die Speisen, von denen sie am Tage glauben machten, daß sie ihnen verboten seien.
So üben sie schon früh sich in die Heuchelei. Allen ihren Sünden wissen sie eine glatte Außenseite zu geben, sie zu entschuldigen, zu verdecken vor fremden Thieren und Hausgenossen – im Geheimen nur üben sie ihre Laster. So kommt es denn auch, daß nur wenige Thiere ihr verderbliches Treiben kennen. Die meisten, welche Tags über sich beschäftigen, sehen die Kakerlaken ruhig in den Spalten der Bäume, in den Ritzen der Fußböden, in den Löchern der Mauern sitzen, und halten sie für ein harmloses, gutmüthiges Geschlecht, das einsam in Entbehrung und guten Werken seine Tage hinbringe. Sie werden deßhalb oft die Betrauten ihrer Nachbarn, bis diese zu spät merken, daß ihr Vertrauen gemißbraucht wurde. Mit allen nächtlichen Thieren leben die Kakerlaken auf freundschaftlichem Fuße. Die hochnasigen Laternenträger, die in ihrem hohlen Kopfe ein Licht zu tragen behaupten, und von welchen auch die
Carl Vogt: Untersuchungen über Thierstaaten. Literarische Anstalt, Frankfurt am Main 1851, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Untersuchungen_%C3%BCber_Thierstaaten-Carl_Vogt-1851.djvu/152&oldid=- (Version vom 1.8.2018)