Von Zeit zu Zeit drängt sich mir ein leiser Zweifel auf, ob auch der Mensch wirklich das vollkommenste Geschöpf sei? Man hat sich so viel Mühe gegeben, uns dies von Jugend auf begreiflich zu machen! Wenn wir als Kinder kopfschüttelnd dem Fluge des Weih’s mit den Augen folgten, und nicht einzusehen vermochten, warum der vollkommene Mensch niederträchtig und langsam auf dem festen Boden einherstelzen müsse, während der so unvollkommene Vogel dennoch als Konig im Reich der Lüfte hoch in den Wolken hinsegelt – wenn wir das nicht einzusehen vermochten, so sagte man uns, das Auge des Falken sei zwar scharf, aber unser geistiges Auge sei noch viel schärfer; sein Flug sei zwar schnell, aber unser Gedankenflug sei noch schneller und könne sich über die Wolken hinaus selbst bis zu den Sternen, und bis zu dem lieben Gott erheben.
Wir begriffen diese Schlußfolgerung damals nicht, aber sie prägte sich uns ein und wurde nach und nach ein Axiom, das keines Beweises bedurfte. Ja es kam eine Zeit, wo wir verächtlich auf den Vogel blickten und achselzuckend seinen Flug geringschätzten, einzig im unzerstörbaren Bewußtsein unserer Menschenwürde und unserer Menschen-Vollkommenheit. Das Stückchen Erde, welches der Falke überschaut, war so unendlich klein gegen die unermeßliche Gedankenwelt, die wir im Kopfe herumtrugen! Wir mußten durch die
Carl Vogt: Untersuchungen über Thierstaaten. Literarische Anstalt, Frankfurt am Main 1851, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Untersuchungen_%C3%BCber_Thierstaaten-Carl_Vogt-1851.djvu/21&oldid=- (Version vom 1.8.2018)