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sondern überhaupt sehr wenig Handwerker. Früher lebten sie von dem Ertrag ihrer Acker, oder sie waren Beamte der türkischen Regierung. Heute noch können sie nicht darauf verzichten, Beamte zu spielen, und schlagen die Zeit tot, indem sie in den Kaffeehäusern und Herbergen umherschlendern. Die Muselmanen (Türken und Kurden) führen ein sorgenfreies Dasein; aber man darf hoffen, daß sie eines Tages zu arbeiten beginnen werden, wenn sie die Nichtigkeit einer solchen Existenz einsehen werden.“[1]

Dieses Zeugnis eines türkischen Beamten, der, wenn ich nicht irre, selbst Mohammedaner war, ist köstlich.

Man behauptet, daß die Türken in Wan nur das Monopol der Gerberei und in einem gewissen Maße das der Waffenfabrikation in Händen behalten haben. Aber alle ihre Produkte haben nicht viel Wert.

Der Armenier, und mag er noch so weit hin verschlagen worden sein, sei es in Indien, in Österreich, in Frankreich oder Amerika, behält stets das Nationalgefühl in voller Lebhaftigkeit. Dieses Nationalgefühl wurzelt immer tiefer in dem Maße, wie die Verbindungen leichter werden, wie die Daheimgebliebenen von den Vorteilen unterrichtet werden, deren sich die zivilisierten Völker erfreuen, und wie die im Auslande über die erbärmliche Lage ihrer Landsleute unterrichtet werden; von beiden Seiten kommt man sich hierbei entgegen. Als der letzte russisch-türkische Krieg ausbrach, wagten die Armenier sogar, von einem unabhängigen Armenien zu träumen.

Aber dieser Traum verwirklichte sich nicht. Es wäre nicht genug, daß die armenischen Provinzen von der Türkei losgerissen würden, die sie besaß;[2] Rußland müßte gezwungen werden, das ganze Thal des Aras aufzugeben, denn ein armenisches Reich ohne den Ararat und ohne Etschmyadsin, dem religiösen Mittelpunkt, ist nicht denkbar.

Aber Rußland ist bekanntlich nicht sehr großmütig, und selbst wenn es damit einverstanden gewesen wäre, würden die andern Mächte ihre Bedenken gegen ein so großes Unternehmen geltend gemacht haben.

Das unabhängige Armenien wäre doch nur ein Vasallenstaat Rußlands geworden. Aber Rußland hat es vorgezogen, Etschmyadsin unter seinem direkten Befehle zu behalten, damit es imstande ist, auf das türkische Armenien seinen Einfluß fortwährend geltend zu machen. Die Enttäuschung war groß, und heute sind die Armenier weit davon entfernt, das russische Protektorat mit der frühern Begeisterung zu betrachten. Sie merken, daß Rußland bei allen Unternehmungen nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht ist, daß es ihre Nationalität und ihre Kirche aufsaugen und vernichten will; sie sind mißtrauisch geworden, und die russischen Armenier schicken sich an, das Element der Opposition, die „Polen des Südens“ zu werden. Für die türkischen Armenier hat Etschmyadsin seinen Zauber verloren; denn die Hand des Zaren macht sich zu sehr bemerklich, und das Patriarchat von Konstantinopel gewinnt von Tag zu Tag mehr an Einfluß.

  1. Churchid Effendi, angeführt bei Arzruni: Les Arméniens en Turquie, 16.
  2. Sie verbanden sich mit den Vilayets von Wan, Bitlis, Darsim, Erserum und einem Teil von Diarbekr und Kharput.
Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/188&oldid=- (Version vom 1.8.2018)