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jeder Zeit ist er bereit, unermeßliche Wüsten zu durchlaufen und die Hälfte seines Lebens in irgend einer verlorenen Ecke des ausgedehnten Reiches zu verbringen. Das abenteuerliche Leben entwickelt in dem Russen einen gewissen Nomadeninstinkt, so daß es scheint, als ob er ohne sein Vorwissen unter demselben Einfluß stände, der unaufhörlich von einem Lager zum andern die unzähligen andern vagabundierenden Völkerschaften des Kaiserreiches treibt.

Die Größe sucht noch Größeres, und Rußland leidet an dieser Krankheit; es muß noch immer mehr erobern. In dem Eifer des Eroberns werden die Reichtümer der Länder vielleicht unvollkommen entdeckt, aber nicht ausgebeutet. Und später kommt es auch kaum dazu, man muß weiter gehen, weiter erobern: das russische Nationaltemperament treibt dazu.

Und gerade der Russe, der an unermeßliche Länderstrecken gewöhnt ist, eine rauhe Lebensweise führt, dazu von einem unaufhörlichen Bedürfnis der Verbreitung gequält wird und nichts versäumt hat, die modernen Empfindungen in seinen Dienst zu ziehen, dieser Russe scheint dazu bestimmt, der Länderräuber unserer Zeit zu werden. Daß er die an die Knechtschaft gewöhnten Mohammedaner unterjocht, ist ein Fortschritt zu nennen. Aber wo er auf seinem Siegeslaufe christliche Völker unterjochen wird, wird er mit seiner Herrschaft auch die Tyrannei und die Verachtung des Individuums feierlich einsetzen. Und gerade dies wird in Rußland bewundert. Was ich davon gesehen habe, rief in mir unwillkürlich den Gedanken wach, daß Rußland heute das Land einnimmt, woher die Barbarenhorden kamen, die Europa verwüsteten, und ich glaube, daß der Geist dieser Horden in dem russischen Volke weiter lebt, wenn er auch im Laufe der Jahrhunderte durch den Einfluß des Christentums etwas gemäßigt worden ist. Ich sage es frei heraus: Ich liebe Rußland durchaus nicht, sondern als ein Freund der Freiheit und der freien Institutionen muß ich sagen: ich fürchte es.

Was den Kaukasus betrifft, so ist dieser, um meine Eindrücke zusammen zufassen, eine starke Militärkolonie, wo eine Eisenhand einige Fortschritte einzuführen sucht mit der größten Bequemlichkeit der Verwaltung und durch die Mischung der verschiedensten Elemente; das ist alles!

Empfohlene Zitierweise:
Paul Müller-Simonis: Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen. Verlag von Franz Kirchheim, Mainz 1897, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Vom_Kaukasus_zum_Persischen_Meerbusen.pdf/97&oldid=- (Version vom 1.8.2018)