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Walther Kabel: Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 5)

behaupten, daß die gefiederten Räuber und so wohl auch die meisten übrigen Vögel außerstande sind, eine Gruppe von Menschen, deren Zahl über fünf beträgt, auf ihre Anzahl hin zu schätzen, während ihnen dies bei nur vier Personen noch möglich ist. Anders ausgedrückt: Die Vögel können höchstens bis vier zahlen. Jede darüber hinausgehende Anzahl von Menschen oder Gegenständen verschmilzt für sie zu einer ihrer Zusammensetzung nach nicht mehr zu zerlegenden Gruppe.

Viermal war mir Gelegenheit gegeben, diese Jagdmethode persönlich auszuprobieren. Regelmäßig habe ich dabei, während meine Begleiter das Gescheide eingruben, mit einem guten Glase den Himmel abgesucht, um die Anwesenheit etwaiger Raubvögel festzustellen, was mir aber nur zweimal gelang. Im übrigen schien, soweit meine bewaffneten Augen reichten, der Äther ausgestorben zu sein. Schien – denn kaum hatte ich nachher etwa eine Viertelstunde in der Jagdhütte gesessen, als auch schon mit leisem Rauschen der erste geflügelte Räuber, bald ein Adler, bald ein Geier, sich wenige Meter von dem verscharrten Gescheide niederließ und sich dann vorsichtig der Stelle näherte. Meist folgte dem ersten Vogel umgehend ein zweiter, bis dann im Verlaufe von weiteren zehn Minuten stets acht bis zehn Tiere der verschiedensten Arten versammelt waren, unter denen ich mir in aller Ruhe ein Opfer für meine Kugel auswählen konnte. In kurzer Zeit hatten die Vögel die Erde über dem Aase fortgekratzt und begannen krächzend und sich streitend ihr ekles Mahl, bis der Knall meiner Büchse die ganze Gesellschaft, mit Ausnahme des erlegten, für alle Zeiten verscheuchte. Nie werden Raubvögel einen solchen Hinterhalt, der einem der Ihren das Leben kostete, zum zweiten Male aufsuchen. Die Peruaner, besonders aber die viehzuchttreibenden Indianer an den Westabhängen der Anden, pflegen daher auch mit Schrotflinten sehr großen Kalibers, deren Ladung aus gehacktem Blei besteht, unter die versammelten Vogel zu schießen, wobei sie dann meist drei bis vier Tiere derart verletzten, daß sie nicht abstreichen und leicht vollends getötet werden können.“

In dem die europäische Raubvogelwelt behandelnden

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Von der Schärfe des Sehvermögens der Raubvögel (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 5). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1914, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Von_der_Sch%C3%A4rfe_des_Sehverm%C3%B6gens_der_Raubv%C3%B6gel.pdf/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)