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etwas Richtiges, wie sich auch Persönlichkeiten finden, die merkwürdiger Weise beide miteinander vereinten. An der Scholastik war anerkennenswert, daß ihr die Wahrheit der christlichen Lehre als ganz fest und unzweifelhaft galt und daß sie sich nur berufen fand sie in die einzelnen Begriffe auseinander zu legen, dem Verständnis nahe zu bringen und als wahr zu erweisen. Die Gefahr der Scholastik war dann freilich, daß man sich zu sehr mit dem begrifflichen Entwickeln und Erkennen begnügte. Wir fühlen uns alle viel mehr zur Mystik des Mittelalters hingezogen und wissen, daß dieselbe die schönsten Blüten christlichen Lebens im Mittelalter getrieben hat. Wir brauchen nur an Männer wie Heinrich Suso oder Johann Tauler zu erinnern. In den Kreisen der Mystik bereitete sich auch die Reformation vor, wie denn Luthers unmittelbarer Lehrer, dem er unter menschlichen Lehrern am meisten verdankte, Johann von Staupitz, auch aus der Mystik des Mittelalters hervorgegangen war. Aber auch für die Mystik bestand eine Gefahr, sobald sie nämlich ihren Grundsatz: „Nur durch Erfahrung wird die Wahrheit erkannt,“ loslöste von der Schrift und auf das eigene Erleben allein stellte. So sind tatsächlich Ausläufer der Mystik die Schwarmgeister, die neuen Propheten gewesen, mit denen Luther soviel zu schaffen hatte, die sich unmittelbarer Eingebung berühmten und sich darauf beriefen, daß sie den Geist hätten, während sie Luther einen Buchstabenknecht schalten und behaupteten, er habe aus der Bibel einen papiernen Papst gemacht. Andrerseits sind auch ungläubige Richtungen, an denen es der Reformationszeit gleichfalls nicht gefehlt hat, aus der ausgearteten Mystik hervorgegangen, die den Grundsatz hegte, der ganz der Stellung unserer jetzigen Modernen entspricht: nur das ist wahr, was man selbst erfahren hat. In Nürnberg besonders war diese Richtung vertreten durch die beiden Behaim und den Schulrektor Denk an St. Sebald. Als der letztere vor dem geistlichen Ministerium über seine kirchliche und theologische Stellung vernommen und ihm die Frage vorgelegt wurde, ob er Christum für Gottes Sohn erkenne, sagte er: „Das weiß ich nicht, das habe ich noch nicht erlebt.“. In der lutherischen Kirche hat die Mystik in ihrer edelsten Weise sich fortgepflanzt. Denken wir an Johann Arnd, denken wir an Lieder, wie: „O Lebensbrünnlein tief und groß,“ das ganz die Art gesunder Mystik an sich trägt. Wir müssen uns dabei scharf unterscheiden von der Stellung der Modernen. Sagen die letzteren: „Wahr ist nur, was man selbst erfahren und erlebt hat,“ so sagen wir: Die göttliche Wahrheit, die in der Schrift niedergelegt, im Bekenntnis der Kirche bezeugt ist und von der Kirche dargeboten wird, muß von uns erfahren und erlebt werden. Das bezieht sich nun ganz besonders auf das, was von der Liebe Gottes zu sagen war. Wir haben in unserem Gesangbuch ein Lied,