Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/108

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Barmherzigkeit unter uns verordnet haben, wie das Haus Stephana, zu ihrem schönen Amte, das man selig preisen muß, weil Geben seliger ist als Nehmen, die schwesterliche Tugend der Einfalt bekommen, keine fremden, eigennützigen Zwecke einmischen, sondern allewege nur auf die beste Verwendung der Gabe und darauf sehen, daß damit der gnädige und gute Wille des HErrn geschehe. Wir haben Vorsteher unter uns, Kirchenvorsteher der Gemeinde, dazu auch Wächter und Regierer, die nach Gottes Vorsehung auf die Ordnung aller Gemeinden im Lande sehen: bittet den HErrn, daß ihnen zum Amt die schwesterliche Gabe des Eifers nicht fehle, damit die Wolfahrt der Gemeinden allenthalben erbaut werde. Allen aber, die an den Gemeinden dienen und arbeiten, erflehet barmherzige Seelen, die mit Freude und Heiterkeit zu den Wunden des armen Lazarus, der armen Kirche treten, die vor den Pforten des reichen Mannes, d. i. der Welt, in ihren Schwären liegt, und auf den Tag der Erlösung wartet. Es ist ein Elend, wenn die Aerzte, die Helfer, die Lehrer, Tröster, Pfleger und Regierer zum Kranken ohne Freudigkeit, ohne Heiterkeit, ohne Hoffnung treten, mit jenem Mistrauen in die Zukunft, und jenem Achselzucken der Verzweiflung, das den Kranken niederdrückt. Der Aerzte und Helfer heitere Freudigkeit ist wie ein Anfang der Genesung, der in die Kranken übergeht. So betet also, daß uns kein Gabenpaar mangele, das zur Weidung und Leitung der Gemeinden nötig ist, und daß wir alle Fülle haben mögen.


II.

 Doch wißen wir ja, lieben Brüder, daß die Wolfahrt der Gemeinden nicht allein von den Gaben der Gemeinde-Leitung und -Bedienung abhängt. Setze den besten Hirten, ausgestattet mit den reichsten Gaben, unterstützt von Männern, welche ihrerseits wieder die edelsten Gaben besitzen, über eine Heerde von wilden Thieren, so wird es nichts helfen. Es müßen Schafe sein, die eine Heerde ausmachen können; Bestien der Wildnis, Löwen und Tiger und Bären laßen sich nicht weiden. So ist es gerade mit den Menschen auch. Was helfen denn Propheten, Apostel und Lehrer, Ermahner, Tröster, Pfleger und Vorsteher, Einfalt, Eifer, Barmherzigkeit, Freudigkeit und Heiterkeit, wenn die Leute sich nicht wollen leiten laßen, sondern in die eigensinnige Ungebundenheit ihre Ehre setzen, und durch die Welt hingehen wollen, wie sie’s treibt. Man kann es überall sehen, daß die Aemter der Kirche nur den Gliedern der Kirche nützen und dienen, daß sie aber trotz alles herbstlichen Reichtums edler Früchte, in dem sie prangen, doch nur wie unfruchtbare Dornsträuche stehen, wo der HErr ihnen keine Gemeinden zugibt, die sich Seinem Wort und Willen mit Freuden überlaßen. Es kann zwar wol sein, daß einer auch in einer verkommenen und verderbten Gemeinde Segen stiftet; aber das ist dann der Segen des Missionars, der neuen Grund des Lebens legt und schafft, ein Segen, der nicht verglichen werden kann mit den seligen Wirkungen und den Strömen lebendigen Waßers, welche von den heiligen Aemtern auf willige Gemeinden fließen. Daher liegt auch so viel an den Gaben, welche für das gemeindliche Leben nötig sind, und der Apostel legt uns im zweiten Teile unsres Textes von diesen Gaben die schönsten und nötigsten vor.

 In derselbigen gedrungenen und wunderbaren Kürze, welche wir schon im ersten Teile gesehn haben, setzt er seine Rede fort, und schildert zuerst die Liebe im Allgemeinen, dann die Bruderliebe und endlich im elften Vers drei große Tugenden, welche der Liebe nimmermehr fehlen dürfen.

 Die Liebe sei ohne Falsch, ohne Heuchelei, also wahrhaftig, aufrichtig, nicht gemacht, nicht erzwungen zum Schein, sondern aus der neuen Natur des Christen, aus dem Wolwollen eines göttlichen Gemüthes unwillkürlich strömend. So wie die Bäume, wenn sie grünen, blühen und Früchte tragen, von einer Zier und Schönheit in die andre übergehen, und sich ohne Mühe und Arbeit in tiefer Stille und großem Frieden verwandeln, so ist die Liebe eines christlichen Herzens, sie grünt, blüht und trägt Frucht, und das alles nach dem Drang und lautern Zug der Natur, nemlich der andern Natur, der neuen Creatur. Diese einfältige, ursprüngliche, lautere Liebe ist unter allen Gaben und Tugenden, welche der himmlische Vater zum Gemeindeleben gerne verleiht, weitaus die größte und nötigste, die Grundtugend und größte Gabe, ohne welche alles Uebrige nach dem Zeugnis St. Pauli 1. Cor. 13 den Werth verliert. Wolwollen, Gütigkeit, ein liebe- und opferwilliges Herz, muß vor allen Dingen vorhanden sein, wo man zur Gemeinschaft

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/108&oldid=- (Version vom 1.8.2018)