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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wo der heimfahrende sterbende Märtyrer mit großem Ernste von der kommenden Rache Gottes über die Tyrannen und Feinde des christlichen Namens predigt, und das in einer Weise, die dem lauschenden Ohre deßen, der die Geschichte lesen hört, keineswegs recht und ganz nach dem Sinne des neuen Testamentes zu sein scheint. Das Gebet um Verzeihung von sterbenden Lippen für die Beleidiger gethan, ist so überaus lieblich und schön, daß man kaum etwas anderes an seiner Stelle haben und hören will. Allein es legt sich doch am Ende alles ganz anders zurecht. Was willst du das Beispiel des sterbenden Hohenpriesters und Gotteslamms anführen, der Seine besonderen Wege geht, auf welchen du Ihm eben so wenig nachfolgen kannst, als der Wurm im Staube dem Adler in den Lüften nachfolgt? Und warum soll Sein Gebet am Kreuze mehr Recht haben, als z. B. Seine gewaltigen Worte vom Gericht und von der Rache, die Er im Bewußtsein der Todesnähe, in der Woche vorher im Tempel, und in den Stunden vorher vor den Hohenpriestern und auf dem Kreuzeswege gesprochen hat? Und warum setzest du das letzte Gebet Stephani nicht in Vergleich mit den gewaltigen, zürnenden Worten, die er vorher nach Apstlg. 7, 51–53. den Juden zugerufen hat, die ihm die Steinigung zu Wege brachten. Und wenn auch manchesmal ein Märtyrer in seinen Leiden dem Geiste des himmlischen Vaters sich entzog, und andere Worte redete, als solche, die ihm eingegeben wurden nach der Verheißung JEsu: hast du denn deshalb die Erlaubnis, jeden Märtyrer, der sterbend Gottes Gericht und kommende Rache verkündigt, zu tadeln und seine Worte hinter die Gebete derer zu setzen, die um Verzeihung für ihre Beleidiger bitten? Ist es doch Ein Geist, der JEsum und Stephanum gewaltig predigen und am Ende für die Beleidiger beten heißt! Kann es doch Ein Geist sein, der den einen Märtyrer zum Fürbitter seiner Feinde, den andern aber zum ernsten Bußprediger macht! Kann doch beides nützen, beides von Segen sein, beides von verschiedenen Personen, beides von einer und derselben Person zu verschiedenen Zeiten, mit reinem Herzen und im reinen Geiste geschehn. Ja ich könnte mir denken, und sehe es ja auch an dem Gebete der Märtyrer unter dem Altare, daß die reinste, gottverlobteste, heiligste Seele glühende Gebete um Rache betet, und das gerade, weil sie alle Dinge, auch die Beleidigungen der eigenen Beleidiger im Lichte Gottes ansieht, völlig eines Willens mit Gott geworden ist, und alles, was Er will, also auch die Rache, mit der innersten Kraft, aus dem tiefsten Grunde ihres Wesens umfaßt. Es ist das allerdings eine cherubinische Verklärung der Seele und eine hohe Stufe, aber eben von der ist ja die Rede, und das ist ja eben die Meinung, daß die Hingabe der Rache in die Hände Deßen, der gesagt hat: „Die Rache ist mein, ich will vergelten,“ eine hohe Stufe des inwendigen Lebens voraussetzt. Du kannst zwar sagen: Ich will es zugeben, daß es eine hohe Lebensstufe sei, ich will mir die Fluchgebete in den Psalmen so zurecht legen, und sie in der Einheit des Willens der Beter mit dem göttlichen Willen und in dem ihnen geschenkten göttlichen Lichte der Offenbarung begründet finden; aber wenn ich auch eine höhere Lebensstufe darinnen finde, so finde ich doch keine höhere Stufe der Feindesliebe, und davon redet ja der Text. Allein, mein Freund und Bruder, vergiß doch nicht, daß keine Rede ist von dem Gebete einer racheschnaubenden Seele, keine von einem Gebete, in welchem sich vielleicht die Rache selbst ausspricht und sich eben damit in ihrer häßlichsten Form offenbart. Die Seele, welche die Rache Gott anheim stellt, ist zugleich eine solche, die ohne alle persönliche und fleischliche Rachsucht ist. Sie rächt sich selbst nicht; sie ist nicht schnell zu Rede und Zorn; sie gibt dem Zorne Raum, dem eignen, unter Bußethränen zu verrauchen, dem Zorne Gottes, Seine Zeit und Stunde einzuhalten; sie weiß, daß die Rache Gottes ist, sie setzt sich nie an Gottes Stelle, des alleinigen Rächers, sie rächt sich nicht und eifert auch nicht in Seinem Namen; sie ist ganz stille zum Gotte ihres Lebens, sie kann auch zu Ihm um Vergebung beten, die höchste Geduld und Mildigkeit üben, bei den empfindlichsten Beleidigungen die eigne Sache zu führen unterlaßen, kein Recht vor Menschen suchen, ja wie wir bald sehen werden, dem Feinde wohlthun. Schon nach dem Gesagten kannst du’s faßen, daß eine solche Gesinnung nicht blos eine hohe Stufe des geistlichen Lebens überhaupt, sondern auch der Feindesliebe insbesondere voraussetzt. Dazu kommt noch ein weiteres. Frage dich einmal, was im Menschen ist, der diese Gesinnung im Herzen trägt, die Rachsucht tödtet und jene Geduld wirkt, die dem Zorne Raum läßt? Du wirst doch nicht der Meinung

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 113. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/120&oldid=- (Version vom 1.8.2018)