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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

sind, und wenn wir auch ihr Leben und ihre Werke nicht mit jener Gewisheit, welche wir bei dem unbefleckten Gottessohne haben, als Liebesleben und Liebeswerke bezeichnen können, so haben wir doch das größte Vertrauen, und es leuchtet uns die größte Wahrscheinlichkeit an, daß auch sie die Liebe regiert und erfüllt habe. Auch unter den jetzt lebenden Menschen tritt uns hie und da einer persönlich nahe, bei dem wir es nach dem Gehorsam gegen das achte Gebot leicht glauben können, daß ihn die Liebe regiere. Wie hingegen steht es mit uns selbst? Nichts schreibt sich der natürliche Mensch leichter zu als die Liebe; aber auch in keinem Stücke täuscht er sich so oft und sicher, als in diesem. Jeder sieht gerne die Liebe als das Geringste an, was er haben kann, als ein solches Gemeingut aller, daß in dem Vorwurfe der Lieblosigkeit eine Beleidigung liegt, wie kaum in einem anderen Vorwurf. Fast scheint es als ob Lieblosigkeit unter der Sonne eine große Seltenheit wäre, und als machte der Lieblose eine schier unerhörte Ausnahme von allen andern. Tritt aber ein Mensch in das Reich der Wahrheit ein, so wird er schnell sein eigner Ankläger, und kaum ist eine Selbstanklage unter den wahren Christen verbreiteter, als die, daß sie keine Liebe haben. Der Weltmensch ist sich immer, ein Kind Gottes ist sich nimmer gut genug, sondern die Unzufriedenheit mit ihm selbst begleitet es bis zum Grabe. Die größte Wonne für einen geistlichen Menschen ist es, wenn er zu Gott und Menschen die Regung der Liebe in sich spürt. Dagegen das größte Leiden ist es, wenn er, ich sage nicht Haß, sondern nur Mangel an Liebe in sich wahrnimmt, oder keine Liebe fühlt. Da gibt es dann Anfechtung über Anfechtung. Ist keine Liebe vorhanden, so ist auch kein Glaube da; eben damit ist dann auch alles Wohlgefallen Gottes und die Hoffnung des ewigen Lebens ferne getreten. Welche bitteren, thränenvollen Leiden stürzen dann oftmals auf den Menschen herein! Es ist oft bei diesen Angefochtenen der Fall, daß wahre Liebe im Herzen wohnt, und nur das Gefühl der Liebe weggenommen ist. Ein lauteres Wohlwollen durchdringt den Menschen, er sucht nicht mehr das Seine, er sucht was des Andern ist; freut sich fremden Glückes, opfert sich im fremden Unglück und unterläßt nichts, was andere fördern und einen liebreichen Eindruck machen kann. Alle sind überzeugt, daß er wahre und reine Liebe in der Seele trage, er aber ist sein eigner Ankläger und bekennt es, daß er keinen Funken von Liebe in sich spüre. Niemand gibt ihm Recht, jedermann sagt das Gegentheil, er aber weicht nicht von seiner Selbstanklage und wiederholt sie nach jedem neuen Liebeswerke mit herzzerreißendem Tone. Wie unglücklich ist ein solcher Mensch. Die Abwesenheit des süßen Liebesgefühls gibt ihm bei allem Liebesdrange immer neuen Anlaß zu großen und schweren Leiden. Wie muß es erst da sein, wo man wirklich lieblos ist, und das Herz für niemanden in Liebe schlägt! Was für eine Oede muß die Seele des wirklich abgestorbenen, liebeleeren Menschen füllen! Da nun die wahre Liebe so selten unter der Sonne ist und doch alleine glücklich macht, so kann man sich das glückliche Leben vieler Menschen gar nicht anders als dadurch erklären, daß sie eine falsche Liebe in sich tragen, und die falsche Liebe sie mit falschem Glücke täuscht. Eine so große Königin aller Herzen ist die Liebe, daß ohne irgend eine Liebestäuschung auch das Glück des natürlichen Menschen nicht erklärlich ist. Beides aber, keine Liebe und eine falsche Liebe in sich tragen, ist ein jämmerliches Loos. Daher wir in der That nichts nötiger haben als das Gebet um wahre Liebe, – das Gebet, weil uns niemand Liebe geben kann, als Gott, und wir von Ihm auf einem anderen Wege, als auf dem des Bittens, nichts erreichen können. Darum sei das der Schluß meiner heutigen Rede an Euch, daß ich Euch zurufe: Laßt uns beten, laßet uns um Liebe beten, eifrig und unabläßig beten, es möchten uns sonst einmal die Augen aufgehen zur bösen Zeit, und uns der Mangel an Liebe gerade dann erschrecken, wenn die Zeit der Erhörung und der Gnaden aus ist, weil das Leben zu Ende ist, die Saatzeit geschloßen, und vorhanden die Stunde, wo man ernten sollte. Liebe ist noth; von der letzten bösen Zeit sagt der HErr, die Liebe werde erkalten. Eine Vorläuferin dieser bösen letzten Zeit ist jede Zeit, in der die Liebe erkaltet. Wo aber die Liebe blüht, da ist der HErr, Sein Geist, Seine Gnade und der rechte Glaube, ohne welchen und außerhalb deßen es keine Liebe geben kann. Darum wiederhole ich: Laßet uns beten, beten um Liebe, beten ohne Unterlaß, bis wir erhört sind. – Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/132&oldid=- (Version vom 1.8.2018)