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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wie sie zu sagen pflegen, „ins Dorf,“ in der „Sitzweile,“ oder sonst bei gegebener Gelegenheit. Unter den Christen der sogenannten gebildeteren Stände hat sich die Sitte des gegenseitigen Besuchs, oder wie man sich mit einem fremden Worte auszudrücken pflegt, der Visite, festgesetzt. Da besucht man sich nicht irgend einer Nothdurft halben, oder weil man des nachbarlichen oder freundlichen Dienstes bedarf, sondern es sind die Annehmlichkeiten des Umgangs und die Freuden der Gemeinschaft, die man sucht. Die sich nun auf diese Weise einander besuchen, heißen sich auch Gäste, und was sie an einander üben, heißt gleichfalls Gastfreundschaft. Von dieser Gastfreundschaft aber redet St. Petrus nicht; auch ist sie in keiner von den berühmten Stellen des heiligen Paulus, welche von der Gastfreundschaft handeln, mit eingeschloßen. Allenthalben in der heiligen Schrift ist von der Liebe gegen den Fremdling und Pilgrim die Rede. Wir haben aller Orten unsere Gasthäuser, in denen ein Jeder um Geld die Dienste haben kann, welche er in der Fremde bedarf; diese Einrichtung verdient an und für sich selber keinen Tadel, kann aber allerdings, je nachdem sie an dem oder jenem Orte gestaltet ist, bald des Lobes oder Tadels werth sein. Dagegen aber ist es keinem Zweifel unterworfen, daß dem Fremdling das Haus des Gastfreundes trauter und heimathlicher ist, als ein Gasthaus, eine Gastwirthschaft; der Fremdling, der in fernen Gegenden reist, wird, wenn auch nicht die leibliche Gemächlichkeit, die er auch in jedem Gasthaus finden kann, doch aber die Liebe und Güte, die Freundschaft und Bruderschaft der Gastfreunde hoch anschlagen und für seine Seele eine große Genüge darinnen finden. Und diese Güte und Liebe, Freundschaft und Bruderschaft gegen den Fremdling, insonderheit gegen den reisenden Glaubensgenoßen ist es, welche Christus und Seine Apostel so hoch ehren, und welche der HErr, der Richter der Welt, an jenem großen Tage noch ehren und hervorheben wird; denn Er wird ja zu den Seinen sagen: „Ich bin ein Fremdling gewesen und ihr habt Mich beherbergt.“ Dem Fremdling entgegen kommen, im Fremdling JEsum kommen sehen, im Fremdling den Erlöser bedienen, und zwar nach St. Petri Forderung ohne Murmeln, ohne Unzufriedenheit über die Störung oder den Kostenaufwand, das ist die Liebe des weitern Kreises, von welcher unser Text spricht. Wie viele Menschen, ich sage Christen, namentlich diejenigen, die selbst in beschränkten Verhältnissen leben, fliehen die Gastfreundschaft und halten es für eitel Lebensplage, den Fremdling aufnehmen zu sollen. Der geizige Landmann, der ebenso geizige, selbstsüchtige, seine ungestörte Häuslichkeit bewachende Spießbürger in den Städten will nichts vom Fremdling und vom Herbergen wißen; muß er’s dennoch einmal Ehren oder Schanden halben übernehmen, einen fremden Bruder in sein Haus und seine Bedienung aufzunehmen, so geschieht es mit Murmeln. In manchen Gegenden ist sogar der liebe Name „Gast“ zu einem Schimpfwort geworden, hie und da findet der Fremde bei Jungen und Alten Hohn und Spott, Verachtung und Haß, ohne daß jemand dran denkt, daß die Liebe zum Fremdling ebenso wohl geboten ist, als jede andere Tugend, und daß der HErr es an jenem großen Tage rächen wird, wenn man im Fremdling nicht Ihn selbst begrüßte und Ihm nicht die heimathliche Liebe entgegen trug. Eingedenk deßen bildete sich in der ersten christlichen Zeit die Liebe zum Fremdling fast systematisch aus. Jeder Reisende trug als das theuerste Dokument den Empfehlungsbrief seines Bischofs bei sich, wohin er gieng. Diese Empfehlungsbriefe, über deren Form die Bischöfe mit einander überein gekommen waren, waren wie Schlüßel zu den Herzen und der Liebe der Gläubigen. So wie sie übergeben und richtig befunden waren, war der Fremdling bei den Seinen, von heimathlicher Liebe umfangen, in allen Stücken versorgt, wie ers bedurfte. Die Liebe zum Fremdling erschien in der verklärten Gestalt der Bruderliebe. Daher auch alle Heiden, sogar diejenigen, unter welchen die Gastfreundschaft selbst etwas Heiliges war, beim Anblick dieser schnellen Liebe und heimathlichen Vertrautheit erstaunten und kaum glauben konnten, daß es hie mit rechten Dingen zugehe. Wahrlich, der Gehorsam des Altertums gegen den apostolischen und göttlichen Befehl der Fremdlingsliebe ist aller Nachahmung werth, und die Fremdlingsliebe selbst ist werth, als Schwester neben jener Liebe zu stehen, welche der Sünden Menge deckt. Daheim in der nächsten Umgebung tragen und verzeihen, dem Fremdling aber liebevoll entgegen kommen und für ihn als für einen Bruder sorgen: da ist wahrlich eines so schön wie das andere und weckt eines so viel Liebe und Ehrerbietung als das andere. Fast

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/307&oldid=- (Version vom 1.8.2018)