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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

dich her, bei dir, ja in dir wohnen, und du wirst wißen, was Pfingsten ist, wenn du auch die Herrlichkeit Gottes noch nicht siehst, wie am Ende.

 Ein Pfingsten leitet zum andern. Aus einem kommt das andere. Wer innerlich erfährt, was das Evangelium sagt, der erfährt auch, was die Offenbarung verheißt. Um das einmal Erfahrene bekümmere dich, so brauchst du keinen Kummer um die Herrlichkeit der neuen Erde zu haben. Das ewige Pfingsten ist eine Frucht eines zeitlichen Pfingstens. Gut warten ist für alle, die hier schon haben, was sie hier haben können und sollen.

 O HErr, sei vor allen Dingen uns allen, uns armen Sündern gnädig, daß wir Dich lieben und damit die Leiter, ja den starken Flügel ergreifen, welcher uns zu ewigen Pfingstfreuden davon hebt und trägt! Amen.


Am zweiten Pfingsttage.
Joh. 3, 16–21.

 SO wie ein Chemiker in irgend eine Flüssigkeit etwas zu träufeln weiß, wodurch von einander getrennt und geschieden wird, was wohl und unzertrennlich verbunden schien zu einer Masse, so bringt der HErr, der heilige Geist der Pfingsten Sein süßes Evangelium in die Welt, – und was alle Welt selig machen könnte, wird durch Schuld der Menschen zu einem Scheidemittel; was alle Welt sammeln soll, wird zum Gericht. Sammeln – scheiden, das sind die zwei Hauptgedanken des Pfingstfestes; nicht sammeln allein, sondern sammeln und scheiden – das beginnt an Pfingsten. Davon redet das heutige Evangelium.

 Wer wird gesammelt? „Wer die Wahrheit thut“, d. i. wer durch die vorlaufende Gnade ergriffen, wie Cornelius, dem Geiste Raum läßt, nicht widerstrebt, wenn der heilige Geist sein Herz mit Sehnsucht nach Licht, mit Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit entflammt. Ein solcher Mensch braucht es nicht zu scheuen, wenn Gottes Wort ihn im Einzelnen des Irrtums und der Sünde zeiht und überweist, weil er im Ganzen doch als einer erfunden wird, deßen Werke in Gott gethan sind. – „In Gott gethan“! Merkwürdig? Kann man denn etwas „in Gott thun“, wenn man noch nicht ans Licht, also zum Evangelium und Seiner Kirche gekommen ist? Antwort: Ohne Zweifel, ja! Das geht aus dem Evangelium, das geht aus dem epistolischen Beleg zum Evangelium, aus der Geschichte des Cornelius hervor. Wer das an beidem nicht sieht, sieht wohl überhaupt nicht viel. Was der Mensch unter Einfluß und Leitung der vorlaufenden Gnade thut, in göttlichem Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit, ist in Gott gethan; das heißt nicht, es ist vollkommen, sondern es ist eine Wirkung Gottes dabei und darin trotz aller Mängel. Zu dem Beispiele des Cornelius wißen erfahrene Seelsorger Beispiele genug zu liefern. Sie kennen die Menschen der Sehnsucht, welche, um sich für Christum zu entscheiden und sich zu Ihm sammeln zu laßen, nur von Seinem Lichte, von der Pracht des Evangeliums beschienen werden dürfen. Diese Menschen der Sehnsucht sind die ersten, welche der gute Hirte versammelt haben will. Sie sind gezeichnet vom HErrn. Wehe, wer einen von diesen zurückstößt oder ärgert!

 Wer aber wird nicht gesammelt, wer wird geschieden? „Wer Arges thut, der haßet das Licht und kommt nicht ans Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden.“ Wer Arges thut! Nimm jedes Wort in Acht. „Thut“ nicht ein Mal, sondern geflißentlich, „Arges“ – nicht Zweifelhaftes, von Verschiedenen verschieden Beurtheiltes, sondern offenbar Böses. Es ist als ob gesagt werden sollte: wer mit Wißen und Willen einen bösen Weg einschlägt, eine falsche Richtung wählt. Ein solcher Mensch, der sich schon bevor er das Evangelium vernahm, wider sein Licht und seine Erkenntnis dem bösen Reiche ergab, der kommt nicht ans Licht, nicht zum Evangelium. Er merkt es am ersten Strahl, welcher in seine Nacht fällt, daß es ihn nur strafen kann – und da er tief innen sein Verwerfungsurtheil und Cainszeichen schon trägt, so flieht er beim ersten Nahen des göttlichen Wortes, verzweifelt und innerlich von dem Gedanken gepeinigt, daß das Evangelium für ihn nichts sei. –

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 361. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/369&oldid=- (Version vom 1.8.2018)