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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit.

Römer 11, 33–36.
33. O welch eine Tiefe des Reichtums, beides der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte, und unerforschlich Seine Wege! 34. Denn wer hat des HErrn Sinn erkannt? Oder wer ist Sein Rathgeber gewesen? 35. Oder, wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm werde wieder vergolten? 36. Denn von Ihm, und durch Ihn, und in (zu) Ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

 GEheimnisse in der Religion oder keine? Eine oft aufgeworfene Frage, die wir nicht anders beantworten können, als mit den Worten: Ja, es gibt Geheimnisse. Eine Religion, die keine Geheimnisse hätte, die in allen ihren Gebieten von dem menschlichen Verstande durchdrungen werden könnte, nichts in sich hätte und nichts übrig ließe, was uns unbegreiflich wäre, würde nur ein Beweis ihres geringen dunklen menschlichen Ursprungs und ihres Unwerthes sein. Eben weil die christliche Religion eine Offenbarung Gottes ist, die sich über alles erstreckt, über Gott und Welt, über die Schöpfung und Erlösung des Menschen, über seinen Beruf hier und dort, eben deshalb ergeht sie sich in Höhen und Tiefen, Fernen und Weiten, welche weit über alle unsere Faßungskraft hinausgehen, von denen auch zum Theil zu vermuthen, ja zu wißen ist, daß unser Geist auch in den fernsten Fernen der Ewigkeiten sie zu durchforschen Kraft und Vermögen nicht besitzen wird. Zwar sind nicht alle Geheimnisse von der Art, daß sie für alle Ewigkeit unserer Faßungskraft spotten, es gibt auch Geheimnisse, die, wenn wir sie gleich nimmermehr von uns selbst ahnen oder finden konnten, dennoch, nachdem sie einmal offenbart sind, sich tief in die Erkenntnis der menschlichen Seele legen. Aber von diesen Geheimnissen, welche aufhören, Geheimnisse zu sein, sobald sie kund gegeben sind, reden wir heute nicht, sondern nur von denen, die, wie bereits gesagt, auch nach der Offenbarung bleiben, ja ewig bleiben, was sie sind. Insonderheit rechnen wir dahin das Geheimnis der allerheiligsten Dreieinigkeit oder des göttlichen Wesens, und die Geheimnisse des göttlichen Thuns und Waltens unter den Menschenkindern, die Wahl und Verstoßung der Juden und die Wiedergeburt des Menschen. An jenes erste Geheimnis des göttlichen Wesens erinnert der Tag, den wir feiern und sein Name. Von dem erstgenannten Geheimnisse des göttlichen Thuns, der Wahl und Verwerfung der Juden, redet die Epistel. Von dem Geheimnis der Wiedergeburt aber das heutige Evangelium, so daß man also an diesem Tage an eitel Geheimnisse erinnert wird. Verwunderlich könnte es dabei nur scheinen, daß am Feste der allerheiligsten Dreieinigkeit das Evangelium von der Wiedergeburt, die Epistel von Wahl und Verwerfung der Juden handelt, da man doch vielmehr einen Text erwartet, welcher vom Geheimnis der allerheiligsten Dreieinigkeit selbst handelte. Allein, das Fest der allerheiligsten Dreieinigkeit ist ein junges Fest, die Wahl unserer Texte ist älter und da man also eigentlich für die Octave des Pfingstfestes Lectionen auszusuchen hatte, konnte man auf der Schwelle des Winter- und Sommerhalbjahres acht Tage nach Ostern nichts beßeres thun, als von den großen Werken des Geistes, der Wiedergeburt und dem Schicksal der Juden lesen. Es bleibt jedoch immerhin leicht genug,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 001. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/377&oldid=- (Version vom 1.8.2018)