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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Darin haben wir die Liebe erkannt, daß JEsus das Leben für uns ließ.“ Wer erkennen will, was Liebe sei, der muß die aufopfernde Liebe JEsu kennen lernen. Wenn die Alten zum Sinnbild Seiner Liebe gerne den Pelikan nahmen, der seine Jungen mit seinem eigenen Blute nährt, zum Zeichen JEsu den Pelikan malen, zum Preise JEsu ihn besingen, so kann man ihnen hierin völlig Beifall schenken, insonderheit Angesichts des Altars, an dem Er uns mit Seinem eigenen Blute nährt. Der Pelikan ist ein herrliches Abbild des HErrn und Seines theuren Sakraments; aber für die Fülle Seiner Aufopferung ist das Bild des Pelikans nicht ausreichend, weil es die volle Hingabe des HErrn für die Seinen und Seine ganze Aufopferung für sie nicht darstellt. Es gibt keine größere Liebe als die des großen Königs und Gottessohnes, der Seine Feinde mit Seinem Blute versöhnt, damit sie Seine Freunde werden dürften und könnten und würden, der Sein heiliges Leben für die Unheiligen gibt, auf daß sie heilig würden und in Seinem Reiche unter Ihm lebten in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Diese Liebe erscheint uns im Kreuz und mahnt uns zur Nachfolge, daß auch wir nur in Liebe zu unserm HErrn und den von Ihm erlösten Schaaren leben und sterben, arbeiten und leiden. Alle Glieder der Kirche ergreifen daher das Kreuz und bekennen sich zu Ihm und zu allem, was es uns sagt und deutet, namentlich aber zu dem heiligen Grundsatz der aufopfernden Liebe, der in dem Reiche unsers Königs Christus von allen Reichsgesetzen das erste und das größte ist. Ich will mich jetzt nicht abhalten laßen von dem Blick auf die Tausende, welche Christen heißen und sich von diesem Gesetze nicht regieren laßen; wohl aber will ich auf die immerhin nicht geringe Schaar derjenigen schauen, die, entzündet von der Liebe JEsu zu uns, nun auch die Brüder geliebt haben und lieben wie Er. Viele heilige Beispiele, mehr als Menschengriffel aufgezeichnet hat, sind dem HErrn im Himmel kund, Beispiele eines Liebelebens, das nach altem Symbole sich selbst wie ein Licht verzehrt, während es andern leuchtet und dient. „Wir sollen auch das Leben für die Brüder laßen,“ sagt unser Text, und wie viele haben Gehorsam geleistet. Denkt nur an jene Schaar von Millionen Märtyrern, welche nicht bloß zu JEsu Ehre starben, sondern auch um ihre Brüder im Glauben zu stärken und zur Nachfolge auf dem heiligen Wege anzuregen. So groß das Aergernis eines jeden Abfälligen, so groß ist die auferbauende Kraft jedes Beispiels von Treue und Liebe zu JEsu bis in den Tod. Eine Kirche aber, welche ihre Beispiele der aufopferndsten Liebe bis in den Tod nach Millionen zählt, wird gewis auch keinen Mangel an Beispielen der geringeren Liebe haben, welche die zeitlichen Güter zum Besten leidender Brüder dahingibt. Denkt an die erste Gemeinde zu Jerusalem, der es in ihrer Liebesglut für JEsum ein Geringes gewesen ist, alles zeitliche Gut zu verwerthen und den Kaufpreis zu den Füßen der Apostel niederzulegen. Erinnert euch an den Ruhm und Preis apostolischer Gemeinden durch die Feder Pauli, jener Gemeinden, die nicht bloß nach Vermögen, sondern über Vermögen gaben, steuerten und sammelten, um die armen jüdischen Gemeinden zu unterstützen, oder um für eine Zeit der Noth, die nicht einmal noch eingetreten war, die Bedürfnisse der Armen herbeizuschaffen. Gedenket der unzähligen Beispiele derer, die in den ersten Jahrhunderten alles das Ihrige dahingeben konnten, um heiligen Zwecken zu dienen, die entweder in eigener Armuth lebten, und mit ihrem Reichtum fremde Noth stillten und linderten, oder alles was sie hatten, ohne Selbstsucht rein im Sinne JEsu verwalteten. Sie verschloßen ihr Herz nicht vor dem Bedürfnis der Armen, die Liebe Gottes blieb in ihnen und erfüllte sie je länger je mehr; weil sie der Liebe dienten, wurde der Geist der Liebe in ihnen immer stärker, und es geschah ihnen nach dem Worte des HErrn: „Wer da hat, dem wird gegeben.“ Denkt an alle die unzähligen Liebeswerke und wohlthätigen Anstalten der alten und neuen Zeit, die hervorgerufen vom Geiste JEsu und Seiner Liebe wie fruchtbare Bäume in der Wüste dieser Welt, wie reiche Brunnen in der dürren Oede stehen, und Zeugnis geben von einer überirdischen aus Gott und Seinem Himmel stammenden, heiligen, segnenden Liebe und von einem göttlichen, unsterblichen Leben. Gegenüber dem Haße der Welt ist diese Liebe der Kirche so schön, welche sich noch überdieß nicht bloß in den Schranken der Bruderschaft und der Glaubensgenoßen hält, sondern Fülle und Reichtums genug hat, um sich auch über die Feinde auszudehnen und den Kindern der Welt selbst ihre segensreichen Früchte anzubieten.

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Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 016. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/392&oldid=- (Version vom 1.8.2018)