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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

suchen. Wenn M. Luther in der Auslegung des siebenten Gebotes die ganze Welt einen Stall voll grober großer Diebe nennt, was ist das andres, als die Behauptung, daß Frevel und Unrecht das Erdreich bedecke? Und wie wahr ist das, zumal wenn man bedenkt, daß über hunderttausend Handlungen der Menschen, die für gerecht gelten, nur ein Schein und dünner Schleier des Rechts liegt, und daß auch sie zu puren Ungerechtigkeiten werden, sowie der lichte Schleier und Nebel zerrißen wird, und die untrügliche Wahrheit das Urteil spricht. Mag nun aber die Gerechtigkeit im heidnischen Sinn dem Menschen so schwer werden, als sie will; so ist uns doch ein höheres Ziel gesteckt, ein Verhalten der Güte, die den Mantel darreicht, wenn man um den Rock rechtet, zwei Meilen geht, wenn eine verlangt wird, und sich auch auf den rechten Backen schlagen läßt, wenn der linke schon getroffen ist, die nicht wieder schilt, wenn sie gescholten wird, nicht dräuet, wenn sie leidet, das Uebel verträgt, das Unrecht mit gutem Gewißen leidet, siebenzigmal siebenmal verzeiht, für den Beleidiger betet, ihn speist und tränkt, für ihn stirbt, wenn es sein muß, und ihn lieb hat, feurige Kohlen auf sein Haupt sammelt, und das alles ohne Zwang und Schwerfälligkeit, mit Freuden. Es ist hiemit kein völliger Abriß der christlichen Gerechtigkeit gegeben, aber doch, und zwar unter Anklang von lauter biblischen Stellen, kräftig genug angedeutet, was es um die Gerechtigkeit, von welcher der Apostel redet, und zu welcher wir erzogen werden sollen, für ein der menschlichen Kraft unmögliches, überirdisches und himmlisches Ding ist. Für den Festtag Allerheiligen hat man den Text aus dem fünften Kapitel Matthäus genommen; man liest die acht Seligpreisungen Christi vor, diese achtfache, herrliche Einleitung in die Lehre Christi von der Gerechtigkeit. Ganz richtig, dort sind die Tugenden genannt, die wie acht hohe, wunderschöne Pforten zum Reich der Vollkommenheit führen, durch welche das gerechte Volk des HErrn, welches ein Eiferer in guten Werken ist, eingehen soll. Wenn der HErr kommen wird mit viel tausend Heiligen, mit seinem Eigentumsvolke, die ewig bei Ihm sein werden, so wird man unter ihnen lauter Leute finden, die aus Gnaden durch das Blut des Lammes selig geworden sind; sie werden aber auch alle durch Gnade Jünger sein der Gerechtigkeit, von der wir reden.

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 Laßt uns nun zu dem dritten Teil des heiligen Lebens übergehen, für welches uns der HErr ziehen will. Da oben gesagt wurde, was wir verleugnen müßten, nannten wir das ungöttliche Wesen oder die Gottlosigkeit. Ihm gegenüber steht nun hier die Gottseligkeit. Die beiden Ausdrücke stehen im griechischen Texte zu einander im geraden Gegensatz, weit mehr als man es in den beiden Worten der lutherischen Uebersetzung erkennen kann. Beide Ausdrücke bezeichnen die andächtige Furcht des Menschenherzens und die Anbetung; die Gottlosigkeit aber nimmt Andacht, Furcht und Anbetung dem allerhöchsten Gott, und wendet sie den Dämonen und andern Creaturen zu, während die Gottesfurcht und Gottseligkeit sie Dem gibt, dem sie allein gebühren. Sowie daher mit dem ungöttlichen Wesen oder der Gottlosigkeit der seit Kains Tagen immer mehr um sich greifende Abfall der Menschheit in Abgötterei und Heidentum bezeichnet ist, so liegt in dem Worte Gottseligkeit nichts andres, als die Religion der Patriarchen, Propheten und Apostel ausgedrückt, der allein wahre, das Herz befriedigende Gottesdienst, zu welchem wir erschaffen sind und erlöst und wiedergeboren und zu deßen heiliger Freude und Seligkeit uns die Gnade je länger je mehr erziehen will. Da ist zusammengefaßt in einen Ausdruck die Erkenntnis Gottes und die Buße und der Glaube und die Hingabe und Aufopferung treuer Herzen an ihren Gott und HErrn, alle Gottesfülle, die in dem deutschen Ausdruck Gottseligkeit ausgedrückt ist, und das ganze Leben in der Gegenwart des HErrn, unsres Gottes, welches alle unsre Mäßigkeit und Gerechtigkeit erst recht vollendet und bewirkt und ohne welches beide kaum möglich sind. Denn es scheint wol eine Stufenleiter aufwärts zu sein, wenn der Apostel sagt, wir sollen züchtig, gerecht und gottselig leben, und es ist auch eine Stufenleiter aufwärts, sofern die Gottseligkeit unter den dreien das höchste und größte, die Gerechtigkeit das mindere, und das heilige Maß die erste niedrigste Sproße ist. Dennoch aber hat der Mensch nur so viel Maß und Gerechtigkeit als Gottseligkeit, und wie man aus dem ersten Gebote den Gehorsam aller andern ableitet, so ist die Gottseligkeit eine Mutter aller Tugenden, und je nachdem der Sabbath deiner Seele groß ist und tief und reich, je nachdem wirst du auch Gerechtigkeit haben und heiliges Maß. Daher liegt auch so viel daran, daß

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 042. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/49&oldid=- (Version vom 1.8.2018)