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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 O wunderbarer Heiland! Wunderbar in allen Deinen Werken! Selig werden wir alle nur durch Dein Versöhnen – der eine aber, der hier mit bußfertigem Sinne Freude im Geben fand, soll dort die demüthige Freude des Nehmens inne werden; und der andere, der hier nur nehmen konnte, soll dort von Dir, wie hier Kindlein von ihren Aeltern, ermächtigt werden, mit Dir aus Deinen Schätzen wohlzuthun und zu erfahren, daß Geben seliger ist, als Nehmen. Eines von beiden gönne auch mir, denn es ist beides seliges, wonniges Thun!


Am zehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 19, 41–48.

 WEnn Er weint, der im Besitz des ewigen Lebens ist, so muß große Ursache zu weinen sein. Ja, worüber Er weint, das ist große Ursache zu weinen! Ob du für beweinenswerth hältst, worüber Er weint, das ist die Frage. Aber das ist keine Frage, daß der nicht weiß, worüber zu weinen ist, der gleichgültig sein und wohl gar lachen kann über das, worüber er JEsum weinen sieht. Vernimm nun, worüber JEsus weint und prüfe dich!

 JEsus weint: 1. über Jerusalems und des jüdischen Volkes zukünftiges Schicksal, über sein schreckliches Ende durch der Römer Hände.

 JEsus weint: 2. über die gedoppelte Blindheit Jerusalems und der Juden. Denn sie sahen nicht die zukünftige böse Zeit, – und sahen nicht die vorhandene gnädige Zeit der Heimsuchung.

 JEsus weint: 3. über die tiefe, epicurische, gewißenlose Sicherheit, durch welche Juda untüchtig ward, zu bedenken und zu berathen, was zu seinem zeitlichen und ewigen Frieden diente.

 JEsus weint: 4. über die Vers 46. angedeutete Verachtung der Gnadenmittel, welche ihnen im heiligen Dienste des Tempels angeboten, von ihnen aber durch Verwandelung des Tempels zur Mördergrube und zum Kaufhaus, durch Unterordnung des Ewigen unter die zeitlichen Interessen unwirksam gemacht wurden. Denn nur die gnadenhungrige Seele erkennt den rechten Brauch der Gnadenmittel.

 JEsus weint: 5. über die Vers 47. 48. angedeutete Verachtung Seiner allerheiligsten Person, welche doch allein, alleine vor allem Uebel bewahren, aus allem Elend retten konnte. Mit der Verwerfung des einigen Sühnopfers für ihre Sünden verwerfen sie erst recht ihr Heil, weihen sie sich selbst zum Untergange.

 Jerusalem ist überall in der Welt. Ein Untergang harrt ihrer, gegen welchen Jerusalems Untergang klein ist. Ach, die Welt ist überall blind und sicher, erkennt Seine Gnadenmittel und Seine Person nicht. Oft herrscht bei uns unter dem hellen Schein der Gnaden eine dunkle, verantwortungsvolle Nacht. Die Thränen JEsu über Jerusalem kommen über uns! Ach, daß die Sichern aufgeweckt, die Lauen eifrig, die Frommen beständig und alle voll heiliger Furcht würden nach dem Worte des HErrn: „Bei Dir ist die Vergebung, daß man Dich fürchte!“


Am eilften Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 18, 9–14.

 EIn Pharisäer steht vor unsern Augen, ein abschreckendes Beispiel! Oder was ist abschreckender, als wenn der Sünder sich für gerecht hält, wenn er, mit seinem Herzen unbekannt, mit einzelnen scheinbar guten Werken, wie das Kind mit Rechenpfennigen, wie der Reiche mit Münzen spielt und sich am schmutzigsten Glanze weidet, – wenn er von seinem eigenen vermeinten Werthe geblendet, wie ein Narr im Strohkranz, voll Verachtung auf andre Leute, voll Stolzes selbst zu Gott im Gebete aufschaut? Ach, nicht ärmer erscheint der Arme, als wenn er seiner Lumpen und gesammelten Brodkrümlein sich rühmt, – nicht häßlicher die Häßliche, als wenn sie Anspruch auf Schönheit erhebt, – nicht närrischer der

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/571&oldid=- (Version vom 1.8.2018)