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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

des Neuen Testamentes − und in der Zeit des Neuen Testamentes, also der Berufung leben wir.


 Berufen werden zu allererst die Geladenen, also diejenigen, welche wußten, daß Gott der HErr vorhabe, ein großes Abendmahl zu halten, und daß sie daran Theil bekommen sollten. Das waren denn freilich keine Heiden, denn die Heiden waren fremde von den Testamenten der Verheißung. Man kann auch nicht einmal sagen, daß alle Juden zu den Geladenen gerechnet werden können; denn ein großer Theil der Juden war, wie gegenwärtig ein großer Theil der Christen; sie wußten nicht, wie große und reiche Verheißungen ihrem Volke gegeben waren, kümmerten sich auch wenig darum, lebten ein eitles, weltliches, nur zeitlichen Bestrebungen gewidmetes Leben. Zu den Geladenen kann man nur diejenigen Juden rechnen, welche wie die Hohenpriester, Priester, Schriftgelehrten die Weißagung kannten und in den Zeichen der Zeit, in dem Auftreten Johannis und des HErrn selber Aufforderung genug finden konnten, die Fülle der Zeit und die nahende Aufrichtung des göttlichen Reiches warzunehmen. Diese geladenen, der Verheißung und des göttlichen Gnadenrathes kundigen Juden erscheinen in unserm Gleichnis als der Mittelpunkt des Volkes Israel und der ganzen Welt, von denen aus die himmlische Berufung Gottes in Christo JEsu seinen Lauf nimmt und alle Lande erfüllt. Zwar lesen wir nicht, daß ihnen Gottes Ruf zu seinem Abendmahle mit besonderem Fleiße zugetragen wurde; aber sie vernahmen die schallenden Stimmen, die zum Mahle riefen, wie andere immer und sie konnten dieselben gründlicher verstehen; ihnen vor allen mußte sich die frohe Kunde, daß nun das Mahl bereitet sei, ins Herz prägen; weil sie die meisten Vorkenntnisse hatten, verstanden sie zuerst, was es galt; weil sie geladen waren, begriffen sie zuerst die Berufung. − Die Zweiten, welche zur himmlischen Mahlzeit berufen wurden, waren die Menschen, welche mit den ersteren die Straßen und Gaßen derselben Stadt bewohnten, oder, ohne Bild zu reden, die andern Juden, welche zwar die Weißagung und Ladung des HErrn im alten Testamente nicht wie die erste Klasse der Berufenen verstanden, aber doch zu dem Volke Gottes gehörten, welches vor allen Völkern auserwählt war und durch die Wahl der Gnaden das erste Anrecht auf das Abendmahl Gottes hatte. Gegenüber der ersten Klasse waren diese zweiten „Arme, Lahme und Krüppel“ an Weisheit und Verstand; aber es wird ihnen nichts desto weniger die himmlische Berufung zu Theil, und ob sie schon hinter jenen zurückstanden, so kamen sie ihnen dennoch gleich und vielen vor. − Von den Juden aus geht endlich die Berufung zu denen, welche nicht mehr zu derselben Stadt gehörten, sondern draußen auf den Landstraßen und an den Zäunen ihre Hausung hatten, welche gegenüber den Juden wie eine arme, verkommene Schaar von Landstreichern erschienen, unter denen kein Geladener war, deren keiner von dem Reiche Gottes, das da kam, etwas Rechtes verstand, deren keiner sich träumen ließ, in der ewigen Gottesstadt ein Bürgerrecht und einen Theil am ewigen Abendmahle zu haben. Hiemit werden nicht undeutlich die Heiden bezeichnet, − und wir sehen also, daß die Berufung weiter reichte, als die Ladung, daß diese nur einen Theil von Israel, jene alle Welt umfaßte, daß das Neue Testament alle Menschen, das Alte Testament kaum ein einziges Volk umfaßte und mit seinen Segnungen zu sättigen vermochte und vermag. Denn es ist in diesem Stücke jetzt noch wie damals.


 Die Berufung der drei genannten Menschenklaßen geschah nun, wie wir aus unserm Texte ersehen, mit stufenaufwärts ansteigender Bemühung. Auf die Geladenen wird zur Zeit der Berufung die geringste Mühe gewendet. Ihnen war schon zur Zeit der Ladung eine so treue Aufmerksamkeit und ein so großer Fleiß gewidmet worden, daß es nun ganz einfach mit der Botschaft geschehen ist: „Kommet, denn es ist alles bereit“. Mehr Mühe und Fleiß wird schon den Armen, Krüppeln, Lahmen und Blinden zugewendet, welche in der Stadt herum wohnen. Sie kennen die Weißagung nicht sehr und die Ladung ist ihnen unbekannt; drum werden sie mit besonderem Erbarmen angesehen, sie werden nicht bloß gerufen, sondern hineingeführt zum Abendmahle, − eine Ausdrucksweise, welche auf den großen Ernst Gottes und seiner berufenden Gnade in Anbetracht des jüdischen Volkes hindeutet. Indes wird weder die Liebe des berufenden HErrn, noch sein Haus bloß durch das jüdische Volk erfüllt; die hereingeführte Menge ist für beide zu klein.

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 019. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/358&oldid=- (Version vom 1.8.2018)