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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

was diese Gerechtigkeit sei. Wir können kurzweg sagen: Gerechtigkeit ist der Zustand, in welchem der Mensch in seinem Thun und Laßen Gott recht und wohlgefällig ist. Wer also Gott gefällt, hat erreicht, was er soll, denn es ist kein Wohlgefallen über Gottes Wohlgefallen. Wer Gott gefällt, darf aller Creaturen Tadel wagen, denn Gott ist heilig und dem heiligen Gotte gefällt nichts Unheiliges; wer Ihm gefällt, ist heilig. Heiligkeit und die echte Gerechtigkeit des Lebens fallen deshalb zusammen. Die Gerechtigkeit des Glaubens, wie sie St. Paulus vor allen andern Aposteln klar und deutlich lehrt, ist mit der Gerechtigkeit des Lebens, welche aus ihr folgt, durchaus nicht zu verwechseln, so wenig als Ursache und Wirkung, Mutter und Tochter. Dennoch verleugnet auch sie nicht diesen innigen Zusammenhang der Gerechtigkeit und Heiligkeit. Denn warum ist der heilige und gerechte Gott geneigt, den gläubigen Sündern um des heiligen Christus willen, an Den er glaubt, zu rechtfertigen und wie einen Gerechten aufzunehmen, als weil der Sünder, indem er zu Christo flieht, in sich das Böse und sich selbst als böse verdammt, in Christo aber einen strahlenden Gerechten anerkennt, aus Deßen vollkommener Gerechtigkeit und Heiligkeit für die ganze sündige Welt Ueberfluß an Gerechtigkeit und Heiligkeit kommen kann? Würde Gott um eines ungerechten Christus willen Sünde vergeben und rechtfertigen? Würde ein Sünder glauben können, Vergebung und Rechtfertigung um eines Heilandes willen zu erlangen, der selbst nicht gerecht und heilig wäre? Wird nicht auch bei der Rechtfertigung die Ungerechtigkeit von der Gerechtigkeit verschlungen, die Gerechtigkeit und Heiligkeit erhöht, Eines Gerechtigkeit und Heiligkeit über die Sünde und Ungerechtigkeit der ganzen Welt erhoben? Ist also nicht durch Vergebung aller Sünden um Eines Gerechten willen die Gerechtigkeit und Heiligkeit selbst in einer Weise zu Ehren gekommen, wie es der Teufel bei Einführung der Sünde gar nicht für möglich gehalten hätte? Gar nicht zu gedenken, wie unausbleiblich die Gerechtigkeit des Glaubens ihrer Natur nach zur Lebensgerechtigkeit und Heiligung überleiten muß. Ist es doch unmöglich, daß sich der Mensch an Christum im Glauben hänge, ohne Ihm mehr und mehr ähnlich zu werden! Ist doch das gläubige Hangen des armen Sünders an Christo an und für sich selbst ein Anfang tiefinnerer Aenderung und die Bürgschaft der Heiligung und des Endes derselben, der Heiligkeit selbst! Laßen wir deshalb getrost den Satz stehen: Lebensgerechtigkeit ist nichts anderes, als der Zustand, in welchem der Mensch dem heiligen Gotte in seinem Thun und Laßen gefällt, der Zustand der Heiligung, der beginnenden und sich immer mehr vollendenden Heiligkeit. − Nachdem wir im Allgemeinen dieß in unser Gedächtnis gerufen haben, gehen wir in unsern Text ein, der von der wahren Gerechtigkeit die falsche scheidet, von der Gerechtigkeit, die Christus lehrt und Gott gefällig ist, die pharisäische Gerechtigkeit, welche nur ein Schatten von jener ist und von dem HErrn nichts anderes als ein Verdammungsurtheil davon tragen kann.

 Je nachdem einer einen Begriff von dem hat, was nöthig sei, Gotte zu gefallen, je nachdem wird die Gerechtigkeit, welche er preist und der er nachstrebt, beßerer oder geringerer Art sein. Das wird jedermann zugeben, der zugibt, was wir vorausgesagt haben. Eben so wahr ist der Satz: je nachdem einer das Gesetz versteht, auslegt und auf sich anwendet, je nachdem ist seine Gerechtigkeit beschaffen. Denn das Gesetz ist nichts anderes als eine Offenbarung des göttlichen Wohlgefallens; und wie der Mensch die Offenbarung Gottes von dem, was wohlgefällig sei, versteht, auslegt und auf sich anwendet, so zeichnet er sich und andern die Bahn der Gerechtigkeit vor. Auf der Verschiedenheit der Gesetzesauslegung beruht deshalb die ganze Verschiedenheit, welche zwischen der Gerechtigkeit der Pharisäer und Christi ist.

 Die Pharisäer glaubten die strengste, dem geschriebenen Worte des alten Testamentes getreuste Secte im Judentum zu sein, und gegenüber den übrigen Secten, welche sich zur Zeit Christi breit und bemerklich machten, mochten sie es auch sein. Sie waren stolz auf ihre Schriftmäßigkeit in den Glaubenslehren und in den Lebensregeln. Nichts desto weniger machten sie es sich, was die letzteren anlangt, ziemlich leicht. Ihre Auslegung der zehn Gebote Gottes war eine pur äußerliche und buchstäbliche, die es gar nicht genau mit der Erforschung des tief- und weitgreifenden Sinnes der göttlichen Worte nahm. Da sie das erste Gebot nur auf den förmlichen Götzendienst, auf die öffentliche Anbetung von Creaturen und Bildern deuteten, so konnten sie ihm leicht genügen. Da sie das Wesen des zweiten Gebotes nur

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 040. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/379&oldid=- (Version vom 5.7.2016)