Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/411

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß Du ihn mit seinem Dankgebete wie einen Cain verwirfst, daß er vor Dir und von Dir ungerechtfertigt bleibt, daß Du nicht loben kannst, was er lobt, − im Gegentheil, daß ihn Dein Wort trifft: „Wer mit Werken umgeht, der ist verflucht!“ − Ach wenn ers wüßte, aber daß weiß er eben nicht. Daran liegts. Er weiß es nicht, er wills auch nicht wißen, er will nicht herabgewürdigt, nicht klein werden, es ist ihm so weit und groß ums Herz, er sieht über andere so hoch hinweg: wie sollt er nun seine Aussicht durch seine Einsicht verändern laßen! Er will nicht: − wags nicht, ihn zu überzeugen, die Wurzel seines Seins anzugreifen, wags nicht, ihm zu helfen, Freund! Es möchte dir bezahlt werden, wie dus nicht verdienst. Der kämpft um seine Krone. Oder wags lieber! Wenn dirs gelänge, ihm die Krone als Papier, − und die weiten Räume als des Irrenhauses Räume darzustellen; ach, wenn du ihm ein Licht in sein Inneres bringen könntest, daß er sich erkennete, daß er aus seinen Wolken fiele, daß er von seinem Traum erwachte, von der frevelnden Einbildung, − daß er nicht mehr stände und mit schamloser Stirne Gott für die Gerechtigkeit dankte, die dem Vater des Lichtes nicht gefällt und nicht von ihm kommt: − daß er dem Zöllner ähnlich, nur erst so gerecht, wie der Zöllner würde, daß er nur erst ein Gewißen bekäme, wie es der Zöllner hat: ein gutes, scharfes Gewißen! Wenn du das in ihm bewirken könntest! Da wäre das Uebel an der Wurzel ausgerißen! Aber das kannst du nicht, das bewirkt kein Mensch am andern! Hier muß helfen der Allmächtige, dem wir Hosianna nicht als puren Wunsch, sondern als Gebet, ja, als Lobgesang bringen! Der hat schon so viele aus Pharisäern zu bußfertigen Sündern umgewandelt! Alle Seine Seligen um Seinen Thron sind umgeschaffene Selbstgerechte! ER hat es bewiesen an den Millionen von Auserwählten, daß ER aus Steinen Kinder bereiten kann! Von Ihm kommt auch unsre Hilfe! ER kann, ER will, ER wird uns helfen von uns selber, von dem Bilde des Satans, von dem Bettelstolze der Selbstgerechtigkeit! ER wird uns die Süßigkeit, die Seligkeit der Demuth, der Demuth mittheilen, die, völlig verarmt an allem Eigenen, von Seinem Reichtum zehrt und von Ihm mit heiliger Lust, wie mit einem Strom, erfüllt wird! ER wirds thun, uns helfen, die wir uns, ach wie sehnlich, darnach sehnen, − und denen, welchen wir ein gleiches Glück vergönnen!


 2. Dieses Glück werden wir genauer erkennen, wenn wir nun das Beispiel des Zöllners, der Buße that, ins Auge faßen.

 Man nennt den Zöllner den offenbaren Sünder. Ein eigener Ausdruck! Dürfen wir ihn denn gebrauchen? Wird er denn auch durch die gründlichste Erklärung gerechtfertigt? Gibts denn in der Welt andere Leute, als offenbare Sünder? Liegt nicht bei einem jeden, kenntlich auch für den, welcher am Richten keine Freude hat, das Böse zu Tage, − ausgelegt, wie eines Krämers Waare? Ach, wir sind alle offenbar, wenn mans recht nimmt. Aber freilich, die Welt ist doch der pharisäischen Secte voll − und die Pharisäer sehen ja mit andern Augen: sie finden an sich und andern nicht so gar viel Böses. Nur grobe Sünder sind im Pharisäerreiche andern, und nicht einmal diese immer sich selber offenbar. Offenbare Sünder, das sind deshalb nach der babylonischen Sprachverwirrung unsrer Tage − grobe Sünder, wenn man ein falsch gebrauchtes Wort durch ein anderes, eben so falsch gebrauchtes, im falschen Brauch jedoch verständliches erklären darf. Denn wir sind, genau genommen, sämmtlich grobe Sünder, − und die Sünde ist nie fein, am allerwenigsten, wenn sie, ins Innere zurückgezogen, alles geistliche Leben und Keimen der Seele wie ein Grabstein erdrückt.

 Jedoch, was brauchen wir dem Sprachgebrauch der Welt zu huldigen? Laßt uns dem Namen „offenbare Sünder“ eine richtigere Deutung geben, den einen offenbaren Sünder nennen, der nicht bloß vor andern, sondern auch vor sich selbst in seinen besondern Sünden offenbar geworden ist, − laßt uns sagen: alle Menschen sind Sünder, offenbare Sünder aber sind die reumüthigen Sünder, die ihre Sünde bekennen. So wollen wirs nehmen und nun den offenbaren Sünder näher kennen lernen.

 Was der offenbare Sünder gesündigt hat, enthält unser Evangelium nicht. Wir könnten von seinem Stande, so wie von vielen Beispielen seiner Stammesgenoßen auf seine Sünden schließen. Aber es liegt uns zunächst daran nichts. Gesündigt hat er, das sehen wir, denn wir sehen ihn ja reumüthig.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 072. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/411&oldid=- (Version vom 17.7.2016)