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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Kind, das vielleicht, wie viele andere Kinder, die Gegenwart des Vaters als eine letzte Freude genoß, läßt sie alleine sterben − und geht zu JEsu, weil er des Glaubens ist, von Ihm und durch Seine Handauflegung könne er sie am leichtesten wieder aus der Auferstehung nehmen. Er kommt, mit welchem Herzen, mit welchen Gefühlen, das werden Vaterherzen ahnen, die Kinder haben müßen ziehen laßen; er fällt nieder; er ist ganz sicher: nun ist sein Kind todt; und was sagt er? „Komm, leg Deine Hand auf sie, so wird sie wieder lebendig!“ Was für ein Hohn über den Tod, daß eine lebende, frische Menschenhand ihn durch sanftes Berühren des Leichnams soll vertreiben können! Wie ist der Glaube so einfältig und so groß, − und dieser Widerspruch gegen allen Augenschein, wie ist er so erhaben, so ganz einer andern Welt würdig! Gelobt sei der HErr, der solchen Glauben geschaffen hat zum Beweis, daß der Geist mächtiger ist, als das Fleisch! Gelobt sei der HErr, an den wir glauben! Er schenke auch uns großen starken Wunderglauben an den Kranken- und Sterbebetten der Unsrigen und wenn wir selbst sterben, und laße uns fröhlich von Leben und Auferstehen singen, wenn unser Auge nichts sieht, als Tod und Verwesung! Auch unser Glaube wird alsdann Recht behalten zu seiner Zeit und wir werden Wunder und Gottes Herrlichkeit schauen, wenn der Tag kommt.

 4. Wenn man eben den Glauben eines Menschen gepriesen hat, so klingt es freilich altklug und abgeschmackt, wenn man dann doch wieder Ausstellungen an dem Glaubensleben zu machen hat, welches man gerühmt hat. Aber anderer Seits ist es doch oft so im Leben, daß eine und dieselbe That ein Beweis des herrlichsten Glaubens und doch zugleich mit Schwachheit umgeben ist. Wer wird, so lang er hier wallet, seines Schattens los? Keiner unter allen, und keiner unter allen vermag dem HErrn ein vollkommenes Opfer zu bringen. Es ist des HErrn unaussprechliche Geduld, wenn Er unser schwaches Lob sich gefallen läßt und irgend eines unserer Werke als in Gott gethan vor Ihm gilt. So sei es denn gar nicht Lust zu tadeln, sondern ein Bekenntnis der allen Menschen anklebenden Sünde, wenn ich am Benehmen unserer theuern Schwester, der Blutflüßigen, etwas aussetze. − Daß sie in fröhlichem Glauben die Behauptung wagt, Seines Kleides Saum könne sie heilen, weil er der Saum des Kleides ist, das Seinen allerheiligsten Leib berührt, das ist richtig und ganz in der Ordnung. Daß sie den Saum hinterrücks zu faßen strebt und faßt, ist auch als Beispiel eines kühnen Glaubens zu loben, wenn sie dabei die Gewisheit in sich trägt, daß es dennoch mit Seiner Erlaubnis geschieht, daß nur nach Seinem Willen und auf Sein Geheiß die Hilfe von Ihm durch den Saum Seines Kleides fließt, daß Sein Herz ihrem Thun Wohlgefallen und Gelingen zuwinkt. Aber wenn sie meinte, etwas von dem Göttlichen durch Seine Mittel, Seinen Saum, und doch ohne Seinen Willen erlangen zu können, wenn sie Seine ganze Umgebung von Ihm mit Heil durchdrungen, aber nicht in Seinem Gehorsam stehend, nicht völlig in Seiner Hand befindlich sich denkt, − wenn sie, obwohl voll Verehrung, dennoch eine Art von frommem Betrug an Ihm spielen zu können und Ihm die Wohlthat rauben zu können meint: so finde ich darin zwar immer das Zeichen einer hohen Seele, ich kann mich über einen solchen Glauben wundern, aber nicht ganz so redlich und einfältig finde ichs; es ist mir, als mische sich etwas von Aberglauben ein − und wenn ich Unrecht habe, wenn ich dieser unserer Schwester in Christo JEsu zu nahe getreten bin damit, daß ich so etwas von ihr öffentlich befürchte; so lehre mich mein HErr und ich will dereinst, wenn ich die kühne Seele jenseits finde, mit Freuden Abbitte leisten!

 5. Jeden Falls hört die Blutflüßige kein auch nur leises Wörtlein des Tadels von den Lippen des reichen HErrn. Nur ans Licht zieht Er sie und bestätigt öffentlich die Gabe, die sie heimlich und hinterrücks empfangen hat. „Sei getrost, spricht Er, meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen!“ − „Dein Glaube hat dir geholfen!“ Ein Ausdruck, der oftmals wiederkehrt. Er selbst hat geholfen − und spricht doch auch, sonder Zweifel mit völliger Wahrheit: dein Glaube hat dir geholfen. Zweierlei Hände gehören dazu, wenn ein Almosen gegeben werden soll: Die Hand des Gebers und die Hand des Nehmers, und wenn eine von beiden fehlt, so kommt die Wohlthat gewis nicht zu Stande. Wenn ich mir nun einen Geber denke, der am Geben seine größte Freude hat, der es empfänglichen Herzen dankt, daß sie ihn seine Seligkeit zu geben an sich erfahren laßen; so kann ich mir auch denken, wie ein solcher die Ehre der schönen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/483&oldid=- (Version vom 31.7.2016)