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Wilhelm Löhe: Meine Suspension im Jahre 1860. Acht Wochen aus dem Leben eines Landeskirchlichen Pfarrers

das derselbe Grund, welcher sich in dem Institute der Proclamation Recht und Uebung verschafft hat. Es soll ja wirklich, auch nach dem Sinne unseres Rechtes niemand zur Ehe eingesegnet werden, auf die Verehelichung mit welchem jemand anders ein gegründetes Recht hat. Die Proclamation gibt einem jeglichen, der ein solches Recht zu haben glaubt, Gelegenheit, es geltend zu machen. Aber allerdings, das Recht wird nicht oft gebraucht. Oft hat man sich mit dem zum Einspruch Berechtigten schon abgefunden, – oft wagt der Berechtigte den Einspruch nicht; noch öfter ist kein Interesse vorhanden, ihn geltend zu machen; – in Summa verzeiht sich das leichtsinnige Zeitalter in geschlechtlichen Dingen gar viel. Es kommen Fälle genug vor, daß Männer von drei, vier, fünf Frauenspersonen, diese von etwa eben so vielen Männern uneheliche Kinder haben, und dann doch erst eine vierte, fünfte, sechste Person zur Ehe nehmen. Ein Mann kann, – gewiss ein nicht minder kläglicher Fall! – vier, fünf Kinder von einer Dirne haben, sie dann miteinander stief machen und sitzen laßen und eine zweite Dirne zum Weibe und ihre Kinder zu Kindern nehmen. Solche Väter achten sich ihrer unehelichen Kinder völlig entbunden, kümmern sich im Leben und Sterben nicht um sie, kommen mit ihnen auch nicht zusammen, selbst wenn sie nahe bei einander wohnen. So tief ist dieser heillose Sinn gewurzelt und so allgemein verbreitet, daß ein Mann sich bekehren und Jahrzehente in Christo leben kann, ohne daß ihm einfällt, sich seiner verlaßenen unehelichen Kinder zu erinnern und sie an das Vaterherz zu ziehen. Die nicht mit dem Volke leben, wie die Pfarrer, wißen es nicht, beachten und erwägen es nicht, was für ein Meer von Entsittlichung aus diesen Quellen entspringt und Glück und Seligkeit unseres armen Volkes dahinnimmt. Der Roman „Onkel Tom’s Hütte“ hat Tausende zum Mitleid mit den armen Sclaven erweckt: wenn doch einmal eine kundige und fähige Hand für die verstoßenen und verlaßenen Kinder im Lande das Mitleid, den schlechten Vätern und Müttern selbst das Gewißen weckte! Oder wenn sich doch nur in einer einzigen Gegend etliche treue Menschen daran machten, das Elend aufzusuchen und zu registrieren, welches aus dem Leichtsinn in Betreff geschlechtlicher Verbindungen kommt! Dann würde man bald anfangen, anders zu reden, und es begreiflich finden, wenn man auf den oben angeführten Bibelvers Recht und Pflicht zu mancher Trauungsweigerung gründet. Bei uns gesteht man einer Frauensperson

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Meine Suspension im Jahre 1860. Acht Wochen aus dem Leben eines Landeskirchlichen Pfarrers. C. H. Beck’sche Buchhandlung, Nördlingen 1862, Seite 21. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Meine_Suspension_im_Jahre_1860.pdf/25&oldid=- (Version vom 1.8.2018)