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untereinander. Die unter einem Herzen gelegen haben und von einer Mutter geboren sind, kommen oft nie wieder zusammen, – bis sie sterben. Sie sind einander fremd, wie Zweige, die vom Baum geschnitten sind! Wenn das so viele Mütter und Väter sähen, deren inniger Wunsch beim Sterben war, daß ihre Kinder ein Haus einträchtiger Brüder sein möchten!

 Erinnert euch ferner an die geistliche Bruderschaft. Es ist wahr, daß die meisten Christen nicht mehr Christen sind, sondern abgefallene Leute – und es ist ein thörichter Selbstbetrug dieser Zeit, wenn sie gegen diese Wahrheit ankämpft. Aber es ist auch gewiß, daß Gottes Geist in unsern Tagen wieder ausgegangen ist, die Kirche zu bauen – daß dem HErrn Kinder geboren worden sind, wie Tau aus dem Morgenrot. Dieselben haben einen Vater im Himmel, einen ewigen Bruder JEsus Christus, einen Glauben, eine Taufe: sie hätten Ursache und Gnade genug, einträchtig bei einander zu wohnen. Wie schön wäre es, daß sie einträchtig bei einander wohnten – wie fein und lieblich vor Gott und Menschen, – welch ein Segen ist der Eintracht verheißen? Aber leider! So viele Kinder aus Gott in unsern Tagen geboren sind, so wenig Brüder giebt es! Aus einem Fels gehauen, wollen sie doch ein jeder besonderen Wesens sein – und achtet ein jeder seinen Bruder gering! Ein jeder will getragen sein, keiner will des andern Last tragen! Sie haben allzumal scharfe Augen für andere, und zerreißen mit ihren scharfen Zungen die Bande der Bruderliebe, welche der treue Heiland leidend und sterbend um sie schlang! Was ist eine Kirche ohne Bruderliebe? Ein Haus und Reich in sich selbst zerfallen, den Samen gewissen Untergangs in sich selbst tragend.

 Rechtschaffen mögen sie sein, geistreich nach der Welt Weise, voll Erkenntnis – alles mögen sie sein, aber Brüder sind sie nicht; ihren Bruder JEsus lieben sie nicht, der abschiednehmend sprach: „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet.“ Sie lieben einander im Leben nicht, wie können sie im Tode einander lieben, – wie könnten