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Ad d.

 Befand ich mich nun im Falle, meinen Brüdern in Missouri nicht beistimmen zu können, weil sie den Gemeinden zu viel einräumten; so muß ich mich nun auch in einem Punkte mit Herrn P. Grabau im Dissensus bekennen. Es war mir eine Herzensangelegenheit, seinen Standpunkt genauer kennen zu lernen, und ich habe mich, als ich seinen Hirtenbrief, und besonders, als ich das Thetische in seiner Antikritik und im Briefe an P. Brohm las, herzlich gefreut, so viel Wahrheit, Erkenntnis und Verstand in Sachen kirchlicher Organisation und amtlicher Leitung der Gemeinden warzunehmen. Ich könnte meine Zustimmung eingehender darlegen, wenn es sich darum handelte und wenn ich anerkennende Worte dieses Ortes nicht überhaupt bloß in der Absicht, meinem nachfolgenden Bedenken die Bezeugung meiner Liebe und Hochachtung vorangehen zu laßen, auf dem Grunde öffentlich bekannter Einigkeit eine abweichende Gesinnung oder Erkenntnis kundgeben zu dürfen, voraussenden zu müßen glaubte. Welch eine Freude würde es für mich sein, wenn ich allenthalben und in allen Stücken mich der Zustimmung hingeben dürfte, die ich in vielen Punkten Herrn P. Grabau aussprechen könnte und zu der ich so große Lust und Neigung habe! Ich kann es aber leider nicht.

 Meine Zustimmung kann ich nemlich in der Auslegung und practischen Anwendung von Ebr. 13, 17. „Gehorchet euern Lehrern und folget ihnen“ (Πείϑεσϑε τοῖς ἡγουμένοις ὑμῶν καὶ ὑπείκετε) nicht geben. Auf Grund dieser Stelle verlangt Herr P. Grabau von den Gemeinden „Treue und Gehorsam gegen ihre Lehrer in allen Dingen, die nicht wider Gottes Wort sind.“ (p. 14. Nr. 7.) Das anlangend stimme ich ganz dem bei, was p. 28. von den sächsischen Brüdern gesagt worden ist. Ein Pfarrer kann auf Grund des angeführten Spruches allerdings verlangen, daß Gottes Wort seine Pfarrkinder durchdringe und in allen Lebenskreisen, in allen Fällen leite, daß sie in allem, was Sünd und Tugend, den treuen aus Gottes Wort genommenen und demselben entsprechenden Vermahnungen ihres Seelsorgers gehorchen. Allein es gehört hieher nicht bloß eine gewisse Hingebung der Gemeinde, sondern auch eine gewisse Bescheidenheit des Seelsorgers; nur wo beide zusammentreffen, geht es auf die Dauer wohl. Das Wort Gottes hat unbeschränkte Weitschaft; dagegen die Anwendung, welche ein Seelsorger in seiner menschlichen Weisheit davon macht, hat ihre Grenzen. Jede Anwendung, für welche der Seelsorger Gehorsam verlangt, muß sich als durchaus dem Worte gemäß und aus dem Worte gestoßen legitimiren. Wo Zweifel herrscht, wo im höchsten Fall nichts weiter bei der Gemeinde erreicht wird, als die Ueberzeugung, daß das Geforderte dem Worte Gottes nicht zuwider sei, da muß des Seelsorgers Bescheidenheit eintreten. Es wird überhaupt beßer sein, den Gehorsam der Gemeinden gegen die Seelsorger in alle dem zu fordern, was dem göttlichen Worte gemäß ist, als in dem allen, was ihm nicht zuwider ist. Es gibt ja ganz offenbar Grenzen des geistlichen Amtes und seiner Aufsicht und Leitung, so wie es Grenzen der Staatsgewalt gibt. Ja es gibt auch ein Gebiet individueller Freiheit, auf welchem kein Mensch

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/115&oldid=- (Version vom 1.8.2018)