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Lehren – und die dem individuellen Ermeßen Luthers und der Seinen treu nachfolgenden Lehren der „Missourier“ spröde einander gegenüber befinden. Die Kämpfer scheinen unentschloßen, ob man sofort kampflos einander verabschieden oder den Strauß erst recht beginnen soll. Hier liegt nun meines Erachtens das nächste praktische Vorwärts der freiwerdenden lutherischen Kirche.

 Darf ichs wagen, meinen theuern Brüdern mein, ich hoffe, anspruchloses Wort zu sagen? Ich denke, man verabschiede sich nicht, denn wer gehört zusammen, wenn ihr nicht? Man streite auch nicht, denn was geschehen soll, kann ja im Frieden geschehen. Man heilige sich auf jeder Seite, man bekenne gegenseitig die Sünde, die sich an die Füße und Hände hängte, und faße in JEsu den Entschluß, die Wahrheit zu suchen und ihr die Ehre zu geben, auch wenn man dabei erröthen und in Anbetracht früherer Aussprüche retractiren müßte. „Er muß wachsen, ich muß abnehmen“, sei willkommene Loosung.

 Man werde sich vor allem bewußt, daß man in einen Zwiespalt gekommen, der ein Erbe früherer Zeiten ist, welchen zu Ende zu bringen, eine große Gnade des 19. Jahrhunderts sein würde. Erkennt man das, so erkennt man auch die Wichtigkeit der Sache und hat zugleich einen Halt gegen die Leidenschaftlichkeit, die dem armen Sünder im Jammerthal so gerne zustößt.

 Sodann werde man sich klar, daß noch nicht zum Abschluß gekommene Fragen, die drei Jahrhunderte lang von der Kirche unerledigt mit hingetragen und man kann sagen, fast übersehen wurden, die Kirchengemeinschaft derer nicht aufheben, welche sonst mehr als andere Menschen in Bekenntnis und Lehre einig sind. Man reiche sich die Bruderhand und übe die süße Gemeinschaft der heiligen Kirche gerade deswegen um so mehr und treuer, weil man Versuchung hat, sich voneinander zu entfernen.

 So beginne man in Lieb und Frieden, unter Gebet und Flehen eine Prüfung der Streitpunkte vom Standpunkte einfacher Wahrheitsliebe und Sehnsucht nach vollkommener Einigkeit. Man suche im Gedanken des Gegners das Wahre und freue sich gegenseitiger ungeschminkter Anerkennung. So wird man sich halben Weges entgegenkommen, und glücklicher Weise werden die Friedens- und Anschlußpunkte in den bisher gewechselten Schriften nicht fehlen, selbst im Punkte der Ordination.

 Zur Erleichterung studire man die Verhältnisse der Reformationszeit rücksichtlich der Organisation, der Praxis und des Amtes in seiner Praxis. Man löse sich die Fragen, ob Luther im Bau der neuen sichtbaren Kirchengemeinschaft dieselbe oder mehr oder wenigere Größe bewiesen habe, wie im Kampfe um die großen Heilswahrheiten, deren sich seitdem die Kirche freut? Wo seine Schwachheit gewesen? Ob die Verhältnisse zur Verbeßerung der gleich anfangs gemachten Versehen hernachmals günstiger wurden oder nicht? Was am Mangel, welchen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/128&oldid=- (Version vom 1.8.2018)