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 Es ist eine bekannte Sache, daß bereits in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts sowohl aus Sachsen, unter Stephan, als aus Preußen, unter Grabau, eine nicht unansehnliche Zahl von confessionell gesinnten Lutheranern nach Nordamerica auswanderten. So viel mir bekannt ist, standen die beiden Auswandererzüge in keinem engeren Zusammenhang miteinander; eine jede gieng ihren eigenen Gang. Wie heillos die sächsischen Brüder von Stephan betrogen wurden, weiß jedermann. An ihm hatten sie hierarchische Bestrebungen der schlimmsten Art kennen gelernt, und die gewaltige Enttäuschung war ganz geeignet, sie von jedem hierarchischen Gedanken zu befreien, dagegen aber für eine Art americanischer Ausprägung des allgemeinen Priesterthums empfänglich zu machen. Ihre Führung scheint in manchem Punkte der Führung Luthers ähnlich gewesen zu sein; sie waren mancher von seinen Versuchungen ausgesetzt, sein Thun und Reden konnte leicht für sie maßgebend werden, auch wo es sehr individuell und originell war. Umgekehrt brachte es, wie mir scheint, Grabaus Stellung mit sich, daß er mehr als andere die große Bedeutung des heiligen Amtes für Gemeindeleitung und Gemeindebildung erkannte; seine Versuchungen waren im Vergleich mit denen der sächsischen Brüder von umgekehrter Art und konnten ihn leicht dahin führen, dem Amte etwas mehr zuzuschreiben, als die heilige Schrift zuläßt. Im Lande der hervortretenden Schärfen und Extremitäten wurden beide Parteien, eine jede in ihrem Maße, auf ihrem Wege vorwärts und wohl auch etwas zu weit getrieben. Dabei verstand es sich von selbst, daß die sächsische Richtung in den nordamericanischen Verhältnissen mehr Vorschub fand, als die Grabaus, welche im Gegentheil den americanischen Protestantismus abstößt, so wie sie von ihm abgestoßen wird.

 Ich will mir gar nicht anmaßen, den Gang meiner Brüder in Nordamerica von beiden Fraktionen im Vorausstehenden völlig richtig gezeichnet zu haben, bitte sie auch von Herzen, mir nichts von allem, was ich etwa reden werde, übel auszudeuten. Ich bin mir ihnen gegenüber der besten Absicht bewußt, doch denke ich, der oben aufgestellte Gegensatz beider Richtungen wird ziemlich der Wahrheit entsprechen.

 Die beiden Richtungen, deren eine mehr das allgemeine Priesterthum der Christen, die andere mehr das Amt hervorhob, fanden denn auch bald Gelegenheit

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Wilhelm Löhe: Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern. Verlag der C.H. Beck'schen Buchhandlung, Nördlingen 1850, Seite 87. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Unsere_kirchliche_Lage_im_protestantischen_Bayern.pdf/96&oldid=- (Version vom 1.8.2018)