Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 1 | |
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beschränkt und erst später auf Kategorien minderer Gefahr ausgedehnt hat, ist zwar in vielen Einzelheiten die Einrichtung von vornherein sorgfältig ausgearbeitet, aber es sind weder die Gefahrenklassen hinlänglich unterschieden, noch hat in der so bald hereingebrochenen schweren Krisis die Versicherung als hinlänglich stark sich erwiesen, und dies ist offenbar das schlimmste mögliche Gebrechen. Das gilt auch fur Deutschland. Wertvoll und richtig war hier der Gedanke, einen Notstock zu bilden, der mindestens in der Höhe der Beitrage gehalten werden muss, die zur Unterstützung von 600.000 Arbeitslosen fur drei Monate erforderlich sei (§ 159, 1). Und es ist vorgesehen (§ 160), dass wenn der Notstock erschöpft oder auch nur die Gefahr vorhanden sei, dass er sich erschöpfe, der Beitrag für das Reichsgebiet von neuem festzusetzen sei. Der Notstock ist von Anfang an und immer wieder schnell erschöpft gewesen. Er bedarf also offenbar einer besseren Ernährung. Diese kann ihm nur zugeführt werden durch das Kapital. Und es kann leicht abgeleitet werden, dass das Kapital allein dazu berufen, wie es allein dazu fähig ist, und zwar im Verhältnisse zu seiner Stärke. Der erwähnte und schon darf man sagen allgemein anerkannte Anspruch der Lohnarbeiter als Klasse auf einen gerechten Anteil am Sozialprodukt ist in erster Linie ein Anspruch an das Kapital, das die Arbeit beschäftigt und aus ihr Gewinne erzielt. Erhöhung der Löhne und Gehälter bedeutet — nicht im einzelnen Falle, wohl aber wenn man auf die gesamte Verteilung sieht — eine Verminderung aller anderen Einkommensarten. Das Kapital ist in erster Linie verantwortlich für die Arbeitslosigkeit. Denn nachweislich gehen ihrem Wachstum regelmässig Überspannungen der kapitalistischen Produktion voraus, die in Überspannungen des Kredits und neuerdings besonders in ungeheuren Erhöhungen der Produktivkraft der Arbeit vermöge immer mehr rationalisierter Technik ihre Ursache haben. Wenn die Verpftichtung dem Kapital auferlegt würde, einen Notfonds für die immer zu erwartenden Phasen der Krise zu begründen und zu unterhalten, so dürfte diese Bedingung von vielen unternehmenden Geistern als eine schwere Hemmung empfunden werden, aber diese Hemmungen würden der Volkswirtschaft und mittelbar ihnen selber heilsam sein, denn alles, was in der Unternehmung gesund wäre, würde umso weniger davon betroffen werden. Am meisten betroffen würde die unbesonnene Spekulation, die schrankenlose Ausdehnung des Kredits, der Hasardcharakter, der dem (kapitalistischen) Handel und ebensosehr der Produktion zum allgemeinen Schaden anhaftet. Die Ansammlung eines Reservefonds für Arbeitslose hätte noch den besonderen Nutzen, den inneren Markt vor allen schweren Erschütterungen zu schützen, weil die Kaufkraft
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 1. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_1.pdf/80&oldid=- (Version vom 26.10.2022)