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Seite:Zeitung für die elegante Welt 1818 Quandt.djvu/3

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Ueber die diesjährige Kunstausstellung zu Dresden. (Fortsetzung)

Was die Auffassung des Charakters anbelangt, so scheint sich der Künstler streng an die Natur gehalten, sie im Einzelnen genau beobachtet und treu nachgebildet zu haben. So wahr das Portrait nun auch den einzelnen Zügen und Formen nach seyn mag, so geben diese doch keine Gesammtanschauung des Charakters. Dieses ist weit weniger ein Vorwurf, den ich gesonnen bin dem wackern Künstler, als vielmehr der allgemeinen Richtung der Kunst in unsern Tagen zu machen, welcher jeder in der Zeit Lebende mehr oder weniger unterworfen ist. Wenn die Wahrnehmung des Wirklichen, also der realen Natur, nur auf das Einzelne gerichtet ist, wie es die Richtung der neueren Kunst zu seyn scheint, ohne zu einer Allgemeinanschauung eines Gegenstandes hinzuführen, so wird die Darstellung immer unzusammenhängend und charakterlos ausfallen. Das Genie geht von der Idee, oder bei in der Wirklichkeit gegebenen Gegenständen von der Gesammtanschauung des Objekts aus, von einem Allgemeinen zu dem Einzelnen über, und entwickelt so den Inhalt des Gegenstandes. Das Talent reiht homogene Merkmale an einander, und fügt so allmählig den ganzen Bestand einer Idee ober eines Gegenstandes zusammen. Gesellt sich aber nicht die Vollständigkeit zu dem Verfahren des Genies, so werden dessen Werke immer unvollkommen bleiben, und wenn auch der Phantasie ansprechend scheinen, den Verstand unbefriedigt lassen. Dringt durch alle Einzelnheiten das Talent nicht bis zur Idee vor, gelangt es nicht durch das Besondere zum Allgemeinen, durch Wahrnehmungen der einzelnen Bestandtheile nicht zu einer Anschauung des Ganzen, so werden die Werke des Talents nie charakterisch, nie ergreifend seyn. Jeder von diesen Wegen führt zu einem hohen Ziele der Vollkommenheit, vorausgesetzt, daß die eine oder die andere Kraft in hohem Grade vorhanden und wirksam ist. Daher wissen wir oft nicht, ob wir den Portraiten des Raphael oder denen des Alb. Dürer den Vorzug geben sollen; denn ohne Zweifel war Raphael das größte Bildnergenie, Albr. Dürer zuverlässig das größte Bildnertalent. So stand ich oft zweifelnd in der Gallerie Corsini bald vor dem Portrait Julius II.