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möglich macht, kann nur durch den kritischen Geist vollkommen gemacht werden, und man darf in der Tat sagen, daß sie eins mit ihm ist. Denn wer anders ist der wahre Kritiker als der, der in sich selbst die Träume und Ideen und Gefühle tausender Generationen trägt, und dem keine Form des Denkens fremd, keine Regung des Empfindens unbekannt ist? Und wer anders ist der wahre Kulturmensch als der, der durch eindringendes Studium und wählerische Heikelkeit den Instinkt bewußt und geistig gemacht hat, der das Werk, das Besonderheit hat, von dem zu trennen vermag, das sie nicht hat, und sich so durch Hineinfühlen und Vergleichung zum Meister der Geheimnisse des Stils und der Schulen gemacht hat, ihren innern Sinn versteht und auf ihre Stimmen lauscht und den Geist der interesselosen Neugier in sich hochbringt, der die wahre Wurzel wie die wahre Blüte des geistigen Lebens ist, und so sich zu geistiger Klarheit bringt, damit er, der nun das Beste gelernt hat, „was in der Welt gewußt und gedacht wird“, mit denen lebe – es ist nicht phantastisch, es so auszudrücken –, die die Unsterblichen sind.

Ja, Ernst: das beschauliche Leben, das Leben, das nicht Tun, sondern Sein zum Ziel hat, und nicht bloß Sein, sondern Werden – das kann der kritische Geist uns geben. Die Götter leben so: sie sinnen entweder über ihre eigene Vollkommenheit, wie Aristoteles uns sagt, oder sie betrachten, wie Epikuros dichtete, mit den ruhigen Augen des Zuschauers die Tragikomödie der Welt, die sie geschaffen haben. Auch wir könnten leben wie sie und unserm Leben die Aufgabe setzen, mit Empfindungen eigener Art den mannigfachen Szenen beizuwohnen, die der Mensch und die Natur darbieten. Wir