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Auswahl sie für uns reiner machte und ihr eine momentane Vollendung gäbe. Mir scheint, die Phantasie zieht einen Kreis der Einsamkeit um sich, oder sollte es wenigstens tun, und arbeitet am besten in Schweigen und Abgeschiedenheit. Warum soll der Künstler von dem gellenden Lärm der Kritik gestört werden? Warum sollen die, die keine Kraft zum Schaffen haben, den Beruf haben, den Wert eines schöpferischen Werkes zu bestimmen? Was können sie davon wissen? Wenn das Werk eines Mannes leicht zu verstehen ist, ist eine Erklärung überflüssig. ...

Gilbert: Und wenn sein Werk unverständlich ist, ist eine Erklärung ruchlos.

Ernst: Das sagte ich nicht.

Gilbert: Ah! aber du hättest es sagen sollen. Heutzutage ist uns so wenig Geheimnisvolles geblieben, daß wir es uns nicht leisten können, auf eins davon zu verzichten. Die Mitglieder der Browning-Gesellschaft erscheinen mir wie die liberalen Theologen oder die Autoren von Walter Scott’s „Great Writers Series“ ihre Zeit mit dem Versuch zu verbringen, ihre Gottheit wegzuerklären. Wo man gehofft hatte, Browning sei mystisch, versuchten sie zu zeigen, er sei lediglich unverständlich. Wo man sich eingebildet hatte, er habe etwas zu verbergen, haben sie bewiesen, daß er nur wenig zu enthüllen hatte. Aber ich sage das nur von einzelnen seiner Werke. Im ganzen genommen war er ein großer Mann. Er gehörte nicht zu den Olympiern und hatte all die Unfertigkeit der Titanen. Er hatte nicht die Gabe, herabzublicken, und nur selten konnte er singen. Sein Werk ist durch Kampf, Heftigkeit und Anstrengung verunstaltet, und er vollzog nicht den Übergang von dem Gefühl zur Form, sondern vom Gedanken

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/62&oldid=- (Version vom 1.8.2018)