Sprüche und Widersprüche

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Autor: Karl Kraus
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Titel: Sprüche und Widersprüche
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aus: Die Fackel, Doppel-Nummer Nr. 272—273, X. Jahr, S. 40–48
Herausgeber: Karl Kraus
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 15. Februar 1909
Verlag: Die Fackel
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: Commons
Austrian Academy Corpus: AAC-FACKEL Online Version: »Die Fackel. Herausgeber: Karl Kraus, Wien 1899-1936«
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Sprüche und Widersprüche.[1]


[40] Ein Weib, dessen Sinnlichkeit nie aussetzt, und ein Mann, dem ununterbrochen Gedanken kommen: zwei Ideale der Menschlichkeit, die der Menschheit krankhaft erscheinen.

*

Die Begierde des Mannes ist nichts, was der Betrachtung lohnt. Wenn sie aber ohne Richtung läuft und das Ziel erst sucht, so ist sie wahrlich ein Greuel vor der Natur.

*

Den Vorzug der Frau, immer erhören zu können, hat ihr die Natur durch den Nachteil des Mannes verrammelt.

*

Für den Nachteil des Mannes, nicht immer erhören zu können, wurde er mit der Feinfühligkeit entschädigt, die Unvollkommenheit der Natur in jedem Falle als eine persönliche Schuld zu empfinden.

*

Als die Zugänglichkeit des Weibes noch eine Tugend war, wuchs dem männlichen Geiste die Kraft. Heute verzehrt er sich vor der Scheidemauer einer verbotenen Welt. Geist und Lust paaren sich wie ehedem. Aber das Weib hat den Geist an sich genommen, um dem Draufgänger Lust zu machen.

*

Wie schnell kam der Mann an sein Tagewerk, als er noch den bis auf Widerruf eröffneten Durchgang benützen durfte. Der neue Hausherr der Menschheit duldets nicht.

*

Griechische Denker nahmen mit Huren vorlieb. [41] Germanische Kommis können ohne Damen nicht leben.

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Das vom Mann verstoßene Weibchen rächt sich. Es ist eine Dame geworden und hat ein Männchen im Haus.

*

Der christliche Tierpark: Eine gezähmte Löwin sitzt im Käfig. Viele Löwen stehen draußen und blicken mit Interesse hinein. Ihre Neugierde wächst an dem Widerstand der Gitterstäbe. Schließlich zerbrechen sie sie. Händeringend flüchten die Wärter.

*

Wenn der Geist der Weiber in Betracht kommen soll, dann werden wir anfangen, uns für die Sinnlichkeit der Männer zu interessieren. Welch eine Aussicht!

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Die Frauenemanzipation macht rapide Fortschritte. Nur die Lustmörder gehen nicht mit der Entwicklung. Es gibt noch keinen Kopfaufschlitzer.

*

Eine, die mit viel Vitriol umgeht, wäre auch imstande zur Tinte zu greifen.

*

Es geht nichts über die Treue einer Frau, die in allen Lagen an der Überzeugung festhält, daß sie ihren Mann nicht betrüge.

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Daß eine einen Buckel hat, dessen muß sie sich nicht bewußt sein. Aber daß sie einen Zwicker hat, sollte sie doch nicht leugnen.

*

Der Philister verachtet die Frau, die sich von ihm hat lieben lassen. Wie gerne möchte man ihm recht geben, wenn man der Frau Schuld geben könnte!

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Die Unsittlichkeit der Maitresse besteht in der Treue gegen den Besitzer.

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[42] Keine Grenze verlockt mehr zum Schmuggeln als die Altersgrenze.

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Die Moralheuchler sind nicht darum hassenswert, weil sie anders tun, als sie bekennen, sondern weil sie anders bekennen als sie tun. Wer die Moralheuchelei verdammt, muß peinlich darauf bedacht sein, daß man ihn nicht für einen Freund der Moral halte, die jene doch wenigstens insgeheim verraten. Nicht der Verrat an der Moral ist sträflich, sondern die Moral. Sie ist Heuchelei an und für sich. Nicht daß jene Wein trinken, sollte enthüllt werden, sondern daß sie Wasser predigen. Widersprüche zwischen Theorie und Praxis nachzuweisen ist immer mißlich. Was bedeutet die Tat aller gegen den Gedanken eines einzigen? Der Moralist könnte es ernst meinen mit dem Kampf gegen eine Unmoral, der er selbst zum Opfer gefallen ist. Und wenn einer Wein predigt, mag man ihm sogar verzeihen, daß er Wasser trinkt. Er ist mit sich im Widerspruch, aber er macht, daß mehr Wein getrunken wird in der Welt.

*

In Deutschland bilden zwei einen Verein. Stirbt der eine, so erhebt sich der andere noch zum Zeichen der Trauer von seinem Platze.

*

Die ›Männer der Wissenschaft‹! Man sagt ihr viele nach, aber die meisten mit Unrecht.

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Die Religion wird die ›gebundene Weltanschauung‹ genannt. Aber sie ist im Weltenraum gebunden, und der Liberalismus ist frei im Bezirk.

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Die Vorsehung einer gottlosen Zeit ist die Presse, und sie hat sogar den Glauben an eine Allwissenheit und Allgegenwart zur Überzeugung erhoben.

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Das größte Lokalereignis, das in allen Städten gleichzeitig und unaufhörlich sich begibt, wird am [43] wenigsten beachtet: Der Einbruch des Kommis in das Geistesleben.

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Die Mission der Presse ist, Geist zu verbreiten und zugleich die Aufnahmsfähigkeit zu zerstören.

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Die Medizin: Geld her und Leben!

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Ein Agitator ergreift das Wort. Der Künstler wird vom Wort ergriffen.

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Das individuelle Leben der Instrumente ist von übel. Ich kann mir denken, daß sie eine politische Überzeugung haben, aber daß sie atmen stört mich.

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Das Publikum läßt sich nicht alles gefallen. Es weist eine unmoralische Schrift mit Empörung zurück, wenn es ihre kulturelle Absicht merkt.

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Ein Hausknecht bei Nestroy wird mit der Last des Lebens fertig und wirft die Langeweile zur Tür hinaus. Er ist handfester als ein Professor der Philosophie.

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Stimmung der Wiener: das ewige Stimmen eines Orchesters.

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Wenn man nicht weiß, wovon einer lebt, so ist das noch der günstigere Fall. Auch die Volkswirtschaft hat ein wenig Phantasie notwendig.

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Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott.

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Nie ist größere Ruhe, als wenn ein schlechter Zeichner Bewegung darstellt. Ein guter kann einen Läufer ohne Beine zeichnen.

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[44] Ein armseliger Hohn, der sich in Interpunktionen austobt und Rufzeichen, Fragezeichen und Gedankenstriche als Peitschen, Schlingen und Spieße verwendet!

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Nicht immer darf ein Name genannt werden. Nicht, daß einer es getan hat, sondern daß es möglich war, soll gesagt sein.

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Der Politiker steckt im Leben, unbekannt wo. Der Ästhet flieht aus dem Leben, unbekannt wohin.

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Im Theater muß man so sitzen, daß man das Publikum als eine schwarze Masse sieht. Dann kann es einem so wenig anhaben wie dem Schauspieler. Nichts ist störender als die Individualitäten der Menge unterscheiden zu können.

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Die einzige Kunst, über die das Publikum ein Urteil hat, ist die Theaterkunst. Der einzelne Zuschauer, also vor allem der Kritiker, spricht Unsinn, alle zusammen behalten sie recht. Vor der Literatur ist es umgekehrt.

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Die wahren Schauspieler lassen sich vom Autor bloß das Stichwort bringen, nicht die Rede. Ihnen ist das Theaterstück keine Dichtung, sondern ein Spielraum.

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Die Hausherrlichkeit des Schauspielers im Theater erweist sich darin, daß die Veränderungen, die er mit der dichterischen Gestalt vornimmt, dem Erfolg zum Vorteil gereichen. Die Tantiemen gebühren dem Schauspieler.

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Wenn ein Väterspieler als Heinrich IV. in dem Satz: ›Dein Wunsch war des Gedankens Vater, Heinrich‹ den Vater betont, kann er das Publikum zu Tränen rühren. Der andere, der sinngemäß den ›Wunsch‹ betont, wird vom Publikum bloß nicht [45] verstanden. Dieses Beispiel zeigt, wie aussichtslos das Dichterische auf dem Theater gegen das Schauspielerische kämpft, um schließlich von dessen Siegen zu leben. Das Drama behauptet seine Bühnenhaftigkeit immer nur trotz oder entgegen dem Gedanken. Auch am Witz schmeckt ein Theaterpublikum bloß den stofflichen Reiz. Je mehr Körperlichkeit der Witz hat, je mehr er dem Publikum etwas zum Anhalten bietet, um so leichter hat er es. Deshalb ist Nestroys gedanklicher Humor weniger wirksam als etwa die gleichgültige Situation, die ihm ein französisches Muster liefert. Das Wort, daß ›in einem Luftschloß selbst die Hausmeisterwohnung eine paradiesische Aussicht hat‹, versinkt. Wenn ihm nicht die vertraute Vorstellung des Hausmeisters zu einiger Heiterkeit verhilft.

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Ich traue der Druckmaschine nicht, wenn ich ihr mein geschriebenes Wort überliefere. Wie kann ein Dramatiker sich auf den Mund eines Schauspielers verlassen!

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Die Entfernung der schauspielerischen Persönlichkeit von der dichterischen zeigt sich am auffälligsten, wenn die Figur selbst ein Dichter ist. Man glaubt ihn dem Schauspieler nicht. Ihm gelingen Helden oder Bürger.

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Ein Schauspieler, der sich für Literatur interessiert? Ein Literat gehört nicht einmal ins Parkett.

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Die modernen Regisseure wissen nicht, daß man auf der Bühne die Finsternis sehen muß.

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Der Naturalismus der Szene läßt wirkliche Uhren schlagen. Darum vergeht einem die Zeit so langsam.

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Der Schauspieler hat Talent zur Maske. Die [46] Veränderlichkeit eines weiblichen Antlitzes ist das Talent. Schauspielerinnen, die Masken machen, sind keine Weiber, sondern Schauspieler.

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Man gibt zu, die Kunst der Schauspielerin sei sublimierte Geschlechtlichkeit. Aber außerhalb der Bühne muß das Feuer den Dampf wieder in Körper verwandeln können.

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Nur eine Frau, die sich im Leben ganz ausgibt, behält genug für die Bühne. Komödiantinnen des Lebens sind schlechte Schauspielerinnen.

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Man kann eine Schauspielerin entdecken, wenn man sie die natürlichste Situation, in die ein Weib geraten kann, darstellen läßt.

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Das Buch eines Weibes kann gut sein. Aber ist dann auch das Weib zu loben?

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Es kommt gewiß nicht bloß auf das Außere einer Frau an. Auch die Dessous sind wichtig.

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Das eben ist der Unterschied der Geschlechter: die Männer fallen nicht immer auf einen kleinen Mund herein, aber die Weiber immer noch auf eine große Nase.

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Ein Weib, das zur Liebe taugt, wird im Alter die Ehren einer Kupplerin genießen. Eine frigide Natur wird bloß Zimmer vermieten.

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Hundert Männer werden ihrer Armut inne vor einem Weib, das reich wird durch Verschwendung.

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Eine neue Erkenntnis muß so gesagt sein, daß man glaubt, die Spatzen auf dem Dach hätten nur durch einen Zufall versäumt, sie zu pfeifen.

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[47] Eine Antithese sieht bloß wie eine mechanische Umdrehung aus. Aber welch ein Inhalt von Erleben, Erleiden, Erkennen muß erworben sein, bis man ein Wort umdrehen darf!

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Der Liberalismus kredenzt ein Abspülwasser als Lebenstrank.

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Das ist kein rechtes Lumen, das dem Verstande nicht zum Irrlicht wird.

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Der gesunde Menschenverstand sagt, daß er mit einem Künstler bis zu einem bestimmten Punkt ›noch mitgeht‹. Der Künstler sollte auch bis dorthin die Begleitung ablehnen.

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An einem Dichter kann man Symptome beobachten, die einen Kommerzienrat für die Internierung reif machen würden.

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Der Philister möchte immer, daß ihm die Zeit vergeht. Dem Künstler besteht sie.

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Witzblätter sind ein Beweis, daß der Philister humorlos ist. Sie gehören zum Ernst des Lebens, wie der Trank zur Speise. ›Geben Sie mir sämtliche Witzblätter!‹ befiehlt ein sorgenschwerer Dummkopf dem Kellner, und plagt sich, daß ein Lächeln auf seinem Antlitz erscheine. Aus allen Winkeln des täglichen Lebens muß ihm der Humor zuströmen, den er nicht hat, und er würde selbst die Zündholzschachtel verschmähen, die nicht einen Witz auf ihrem Deckblatt führte. Ich las auf einem solchen: ›Handwerksbursche (der sich eine zufällig in ein Gedicht eingewickelte Wurst gekauft hat): ‚Sehr gut! Nun ess’ ich erst die Wurst für die körperliche und dann les’ ich das Gedicht für die geistige Nahrung!‘‹ Dergleichen freut den Philister, und er empfindet die Methode des Handwerksburschen nicht einmal als eine Anspielung.

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[48] Warum mutet man einem Musiker nicht zu, daß er gegen einen Übelstand eine Symphonie verfasse? Ich mache schon längst keine Programmmusik mehr.

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Gegen den Fluch des Gestaltenmüssens ist kein Kraut gewachsen.

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Mein Geist regt sich an den Sinnen, meine Sinne regen sich an dem Geist der Frau. Ihr Körper gilt nicht.

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Sinnlichkeit des Weibes lebt so wenig vom Stoff wie männliche Künstlerschaft. Je lumpiger der Anlaß, desto größer die Entfaltung. Der Geist ist an kein Standesvorurteil gebunden und die Wollust hat Perspektive.

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Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen. Sie ist mir nicht die Dienerin meiner Gedanken. Ich lebe in einer Verbindung mit ihr, aus der ich Gedanken empfange, und sie kann mit mir machen, was sie will. Ich pariere ihr aufs Wort. Denn aus dem Wort springt mir der junge Gedanke entgegen und formt rückwirkend die Sprache, die ihn schuf. Solche Gnade der Gedankenträchtigkeit zwingt auf die Knie und macht allen Aufwand zitternder Sorgfalt zur Pflicht. Die Sprache ist eine Herrin der Gedanken, und wer das Verhältnis umzukehren vermag, dem macht sie sich im Hause nützlich, aber sie sperrt ihm den Schoß.

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O markverzehrende Wonne der Spracherlebnisse! Die Gefahr des Wortes ist die Lust des Gedankens. Was bog dort um die Ecke? Noch nicht ersehen und schon geliebt! Ich stürze mich in dieses Abenteuer.

Karl Kraus.



Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: Karl Kraus. Druck von Jahoda & Siegel, Wien, III. Hintere Zollamtsstraße 3.


  1. Unter diesem Titel wird demnächst mein Aphorismenbuch im Verlag Albert Langen, München erscheinen. Es hat neun Abteilungen: I. Weib, Phantasie. II. Moral, Christentum. III. Mensch und Nebenmensch. IV. Dummheit, Demokratie, Intellektualismus. V. Der Künstler. VI. Über Schreiben und Lesen. VII. Länder und Leute. VIII. Stimmungen, Worte. IX. Sprüche und Widersprüche.