Sterbende Gewässer
[215] Sterbende Gewässer. – Unter diesem ungewöhnlichen Titel wurde unlängst in einer Fachzeitung ein Thema ausführlich behandelt, das auch für die Allgemeinheit in seinen Hauptgedanken von Interesse sein dürfte.
Wie es einen toten Boden gibt, auf dem nichts, kein Grashalm, kein Strauch, kein Baum mehr gedeiht, so gibt es auch totes Wasser. Die Quelle eines Baches ist chemisch ziemlich rein. Am reinsten ist das Wasser, das durch unterirdische Kieslager geflossen ist. Als erste Beimischung erhält das Wasser dann an der Erdoberfläche die Luft und speziell aus dieser den Sauerstoff. Erst nachdem das Wasser einen bestimmten Gehalt an Sauerstoff besitzt, vermag es Lebewesen zu erhalten, da alles Lebende Sauerstoff gebraucht.
Nachdem das Wasser eine kurze Strecke geflossen ist, wird man schon eine Menge kleiner Lebewesen in ihm wahrnehmen. Sehen wir genauer zu, so finden wir außer den nur mit dem Mikroskop wahrnehmbaren Wassertierchen bereits kleine Fischchen, die flinke Elritze und auch die Schmerle. Die Ufer des Baches sind eingefaßt mit hell- und dunkelgrünen Wasserpflanzen, die von beiden Seiten sich bis ins Wasser hineinerstrecken und nur eine mehr oder weniger breite Rinne freilassen. In mancherlei Windungen, die stille Buchten schaffen, bestanden mit Erlen und anderem Buschwerk, das sein Wurzelnetz weit ins Bachbett hineinsendet, fließt das Bächlein murmelnd dahin. Wir hören mit Freude sein Plätschern, eine schimmernde Forelle macht einen Sprung dem Licht entgegen oder um ein Insekt zu erhaschen. Hier ist das Wasser gesund, hier [216] kann der Wanderer es trinken und in seinen Fluten ein erquickendes Bad nehmen.
Gehen wir weiter den immer breiter werdenden Bach entlang, so treffen wir bald als erstes industrielles Unternehmen, das die natürlichen Wasserkräfte ausnützt, eine Wassermühle. Der Mühlenteich gibt dem eilig zu Tal strebenden Bächlein einen Ruhepunkt, so daß sich die mikroskopische Tier- und Pflanzenwelt, die in der Hauptsache als Fischnahrung zu betrachten ist, ungestört entwickeln kann. In dem Mühlenteich gedeihen die Fische, das Vieh trinkt das Wasser, das Federvieh des Müllers fühlt sich wohl darin, die Dorfjugend hat eine prächtige Badegelegenheit – kurz, das Wasser lebt und ist gesund.
Weiter geht’s bergab. An den Ufern mehren sich die menschlichen Siedlungen. Der Bauer braucht hier noch keinen Brunnen. Der Bach gewährt ihm klares Wasser zur Nahrung und Stillung des Durstes für sich, sein Vieh und seine Gartenpflanzen. Das Wild zieht zur Tränke, Wildvögel tummeln sich auf den stillen Buchten.
Dann begegnen wir dem ersten Städtchen. Es ist noch industriefrei; jedoch fließen alle Abwasser in den Fluß. Zwei Mühlen halten das Wasser auf. Der städtische Schmutz setzt sich in den Mühlenteichen ab, die wie Absatzbassins wirken. Doch das Wasser lebt und hat Kraft, es ist reich an Sauerstoff und vermag sich selbst zu reinigen. Eine kurze Strecke unterhalb des Städtchens ist es schon wieder rein. Wir bemerken hier eine Menge Fische, den Barsch, den Aal, den Hecht und von Krustern den Krebs.
Wenige Kilometer weiter erblicken wir hochragende, qualmende Schlote. Es ist eine Holzschleiferei und Holzzellulosefabrik, die sich die Wasserkraft durch Turbinenanlagen nutzbar macht. Bis zu den Fabrikgebäuden ist unser inzwischen zum Fluß ausgewachsener Bach rein und klar, dahinter jedoch milchig gefärbt und unsauber. Die Fabrik gibt ihre Harzseifenwasser und Kalilaugen in den Fluß ab. Hier wird man vergebens den Krebs, den Hecht und den Barsch suchen. Sie brauchen reines Wasser. Erst meilenweit hinter den drohenden Schloten [217] ist der Fluß wieder der alte, hat er sich der unreinen Stoffe wieder entledigt.
Doch nicht lange wird ihm Ruhe und Frieden gegönnt. Schon taucht eine kleine Industriestadt mit Tuchfabriken und Färbereien auf, die ihre schwefelsäurehaltigen Anilinfarbenabwasser in ihn entleeren. Sein Wasser ist jetzt bläulich gefärbt. Diese Farbe ist das erste Krankheitssymptom.
Nun reiht sich Fabrik an Fabrik. Tuchwalkereien und Hutfabriken senden die abgefallenen Wollfäserchen und Farbstoffreste aller Art in unseren Fluß, Gasanstalten die ammoniakhaltigen Abwasser, Spinnereien ihre äußerst giftigen Röstwasser, Drahtziehereien ihre eisenoxyd- und schwefelsäurehaltigen Laugen – alle diese industriellen Unternehmungen und noch viele andere entnehmen das Wasser dem Flusse in reinem Zustande, geben es aber verschmutzt, abgestorben zurück.
Was ist nun aus unserem Bächlein geworden, das einst seine klaren, durchsichtigen Wasser so munter, so fröhlich plätschernd zu Tal sandte? Eine blauschwarze Flüssigkeit füllt sein Bett aus. Vom Grunde steigen stinkende Gase empor, denn dort lagern sich als bläulicher Schleim giftige Spaltpilze und sonstige Bakterien ab, überziehen jeden Stein, jeden Vorsprung mit einer eklen, schlüpfrigen Masse. Der Pflanzenwuchs des Ufers hat sich von dem kranken Gewässer ängstlich zurückgezogen. Der Uferrand ist eine dunkle Linie. Auch ihn bedecken die verderblichen Niederschläge, in denen kein Samenkorn treibt, keine Wurzel sich weiterreckt. Ebenso sind die Fische im Flusse längst verschwunden. Kein einziges lebendes Wesen bevölkert das Wasser. Kein Vogel sitzt in den überhängenden Weidenzweigen. Fällt eine Wildente ein, so erhebt sie sich sofort wieder, als wäre sie auf glühende Kohlen gestoßen. Kein Wild kommt an den Bach zur Tränke. Kein Insekt umschwirrt die giftige Flut, die sich nur schwerfällig talabwärts wälzt. Der Fluß ist tot, die Industrieabwasser haben ihn vergiftet. –
Anders sterben die Binnenseen. Ihren Pflanzenwuchs, besonders die sogenannte Wasserblüte, die in manchen Seen in ungeheuren Mengen vorkommt, alljährlich gründlich zu entfernen, erfordert große Mittel. Wo man dieses Auskrauten [218] unterläßt, da sinken die Pflanzen im Herbst auf den Seegrund, verfaulen und bilden alljährlich eine Schicht von einem Zentimeter Stärke. Jedes Jahr fügt eine neue Schicht hinzu. Der See wird langsam ausgefüllt.
Doch nicht nur von unten auf arbeitet das Verderben, sondern auch vom Rande des Gewässers aus. Die Uferpflanzen dringen stetig weiter in den See vor und vereinigen sich mit den größeren Wasserpflanzen bald zu einer schwimmenden Decke, auf der sich schnell Gräser ansiedeln und ihr stärkere Dichtigkeit verleihen. Diese Decke nennt der Fachmann schwimmendes Fenn. Während die Ränder des Fenns immer mehr in den See hineindrängen und die blanke Wasserfläche verkleinern, dringt vom Ufer her die Vegetation des Festlandes unaufhaltsam vor. Moorpflanzen schlagen Wurzeln, das Fenn wird immer tragfähiger, und mit seiner zunehmenden Dicke verdrängt es immer mehr Wasser. Bald liegt es auf dem Seeboden auf. Die Umwandlung in eine Moorwiese ist vollendet. Nun folgen den Moorpflanzen die ersten Sträucher und Bäume, die Salweide in Buschform, Birken und Erlen. Die verwesenden Pflanzen, das fallende Laub erhöhen den Boden schnell. Je dicker diese oberste Decke wird, desto vollständiger sperren sie die Luft von den tieferen, noch feuchten Schichten ab, in denen dann bereits die Vertorfung der Pflanzenrückstände beginnt. So entsteht das Hochmoor.
Der See ist verschwunden. Er ist an seinem Pflanzenwuchs zugrunde gegangen.
So stirbt das Wasser in unseren Teichen und Binnenseen. Nicht etwa von gestern auf heute, sondern in Jahrhunderten. Man denke nur daran, wie der römische Geschichtschreiber Tacitus das Landschaftsbild des „rauhen Germanien“ geschildert hat: Wälder und unzählige Seen und Sümpfe. Wo sind diese Sümpfe und Seen geblieben? Ihr Schicksal hat sich erfüllt. Sie sind, da keine schützende Hand sich ihrer annahm, dem oben geschilderten Umwandlungsprozeß zum Opfer gefallen. Daß der Rest unserer kleinen Binnenseen und Teiche nicht einem gleichen Schicksal anheimfalle, darauf lenken die Regierungen der deutschen Bundesstaaten jetzt in der richtigen [219] Erkenntnis, welch höchst ungünstige Einflüsse eine zunehmende Wasserarmut für die klimatischen Verhältnisse Deutschlands haben würde, immer mehr ihr Augenmerk.