Stockholm (Meyer’s Universum)
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Schon einmal durchwanderten wir die reizenden Umgebungen des nordischen Venedigs, schifften auf dem inselreichen Mälar und ergötzten uns an dem herrlichen Panorama von Schwedens Hauptstadt, mit dem sich nur das von Constantinopel in Vergleich bringen läßt. Es kann in der That nichts Eigenthümlicheres geben, als einen Situationsplan von Stockholm. Da sieht man hohe Felsen mit tiefen, vom Meer durchströmten Schluchten wechseln; Berge und Thäler mit Gärten und Wäldern; dunkle Parks mit steifen Alleen; weite Wasserbecken mit engen Kanälen; Kays und Docks mit thurmreichen Kirchen; Brücken und Stege mit Schleußen; Schlösser mit Schiffswerften, friedliche Straßen mit dräuenden Schanzen; Wachthäuser und Leuchtthürme mit Kiosk’s und Belvederes. Es ist ein Quodlibet aller nur erdenklichen pittoresken Schönheiten, und in der ganzen Welt wird nichts Aehnliches wieder gefunden.
Stockholm erstand im 12ten Jahrhundert auf den Trümmern des von Seeräubern zerstörten uralten Sigtuna’s. Noch besteht ein kleiner, finstrer, winklicher Kern aus jener Zeit; doch er verschwindet und man vergißt ihn in der prächtigen Hauptstadt, die sich jetzt über viele Inseln ausbreitet, welche die schönsten Brücken mit einander verbinden. In vielen der Hauptstraßen, wo die Menge von großen und prachtvollen Gebäuden eben so viel Wohlhabenheit als Geschmack und Bildung verrathen, wogt grünliche Meerfluth, belebt von unzählichen Nachen und Barken, zwischen denen die hochmastigen Seeschiffe die Güter der Erde aus allen Zonen tragen. Märkte und öffentliche Plätze, (deren es 21 gibt), sind zwar nicht groß; aber viele sind nach der Seeseite hin offen, anmuthig mit Bäumen [114] besetzt und durch kostbare Monumente und Standbilder schwedischer Regenten und Männer geziert, welche sich um das Vaterland verdient machten, und Schwedens Ruhm und Glück beförderten. Die Einwohnerzahl ist dem Umfang der Stadt kaum angemessen; sie erreicht nicht 100,000. Das rauhe, naßkalte Klima scheint unverträglich mit dem Luxus und der Weichlichkeit einer gebildeten Königsstadt zu seyn, und beide üben auf das physische Leben einen nachtheiligen Einfluß aus. Die Anzahl der Sterbefälle übersteigt die der Geburten in Stockholm jährlich um mehre hunderte. Daß trotzdem die Bevölkerung, obschon nur langsam, zunimmt, erklärt sich aus den häufigen Ansiedelungen aus dem Innern des Landes in die des Genusses und des Erwerbs so viel und so mannichfaltig darbietende Hauptstadt.
Unter den durch Pracht, Größe oder Zierde ausgezeichneten Gebäuden Stockholms ist die Hauptkirche eben so ehrwürdig durch ihr Alter, als sehenswerth wegen der Originalität ihrer Bauart und ihres Bilderschmucks, der Werke der größten Künstler des Landes. Die deutsche Kirche, die finnische, die Gebäude der Reichsbank, die Münze, das Ritterhaus, der Torstensohn’sche Pallast auf der Norrmalm, das Opernhaus, die auf der Zinne eines Felsen gelegene Sternwarte, die Kirche des Ridderholm mit 5000 eroberten Fahnen und den Grabmälern der schwedischen Kriegsfürsten und Helden, die Stückgießerei, das Freimaurerhaus u. v. a. verdienen den Besuch jedes Fremden. Den Glanzpunkt Stockholms aber macht das auf einem großen, freien Platze am Meere stehende prächtige königliche Schloß. Die Ansicht der Hauptfronte schmückt als Vignette den Titel dieses Bandes.
Carl XII. fing es, nachdem die alte Residenz 1697 durch Feuer zerstört worden war, zu bauen an. Die vielen Kriege dieses Fürsten unterbrachen aber das Werk mehrmals und auf lange Zeit, und die Vollendung erfolgte erst im Jahre 1753. Großartig und wahrhaft königlich gedacht, geschmackvoll und regelmäßig gebaut, lassen sich wenige Residenzen in Europa mit ihm vergleichen. Nach der Seeseite hinaus liegen die schönen Bildergallerien und die prächtigen Audienz- und Gesellschaftssäle. Sie sind im neuesten Geschmack mit schwedischen Arbeiten möblirt, die Wände tapezirt mit schweren Seidenstoffen aus schwedischen Fabriken.
Hier wohnt Carl Johann, ein Heros des Schicksals, der merkwürdigste unter den lebenden Fürsten. Er ist der Nestor der europäischen Könige; aber rasch, gewandt und in gerader Haltung schreitet er noch einher, und unverändert geht dieser rüstige Greis, den das nordische Klima frisch erhält, durch die Zeit, begleitet von allgemeiner Liebe.
Es ist gewiß für eine neue Dynastie, welche der nordischen Natur so fremd war, eine große Aufgabe, die übereinstimmende Zuneigung zweier Reiche zu erwerben und sich auf die Dauer zu erhalten; zweier Reiche, die in ihren Sitten, in ihren Ansichten über die gesellschaftlichen Verhältnisse und über National- und Staats-Bürgerrechte so verschieden sind; zweier Reiche, die ein tief eingewurzelter Nationalhaß schon lange so schroff und so scharf [115] von einander trennte, wie durch ihre rauhen Grenzgebirge die Natur sie von einander geschieden; zweier Reiche, die eine ganz verschiedene Landesverfassung haben, zu der sich noch die Eifersucht der Norweger gesellt, den König nicht in ihrer Mitte, sondern im gehaßten Nachbarlande wohnen zu sehen; – ein Vorzug, welcher von keinem Volke in ähnlichen Verhältnissen mit solchem Widerwillen geduldet wird, als von jener stolzesten, freisinnigen und aufgeklärtesten Nation des Nordens.
Bernadotte erreicht den 26. Januar sein 76tes Jahr. Die Aeltern dieses großen Monarchen waren arme Handwerksleute in Pau (südwestl. Frankreich), die ihren Jungen nothdürftig schreiben und lesen lernen, und dann bei der Profession mit zur Hand gehen ließen. Ohne Aussicht in die Zukunft, niedergebeugt von der älterlichen Armuth und Zeuge ihres täglichen Kampfes um die Mittel zur Fristung des Lebens ging Bernadotte im sechzehnten Jahre unter die Soldaten; er trat als Gemeiner in ein französisches Linien-Infanterie-Regiment. Schule und Erziehung hatten nichts an ihm gethan; Schicksal und fester Wille aber holten bei dem reichbegabten Jüngling das Versäumte nach. Durch Pünktlichkeit und Eifer im Dienste, und durch leutseliges und dienstfertiges Betragen erwarb er sich die Zufriedenheit und Aufmerksamkeit seiner Obern zugleich mit der Liebe seiner Cameraden, und frei von soldatesker Rohheit wendete er jede übrige Stunde an, sich zu unterrichten und das zu lernen, was ihn auf der eingeschlagenen Bahn vorwärts bringen konnte. Lange Zeit half er seinem Sergeanten bei den Schreibereien unverdrossen und ohne Lohn, und erst nach 8 Jahren musterhaften Dienstes erstieg er die erste Staffel der militärischen Würden: die des Korporals. – Die Revolution fand ihn als Unteroffizier bei seinem Regimente. Aber durch die Revolution waren die Schranken gefallen, welche Geburt, Rang, Ansehen und Reichthum dem aufstrebenden Talente im Staatsdienste gesetzt hatten. Die Natur trat mit ihren Kräften wieder ein in die ihr von jenen geraubten Rechte, und dem Talent und Genie war weit geöffnet die Laufbahn, auf der sie frei streben und ringen durften nach dem Größten und Höchsten, was die bürgerliche Gesellschaft zu bieten hat. Bernadotte, welcher es, geschmiedet an die Schranken der aristokratischen Verhältnisse, in 10 Jahren nicht weiter als bis zum Korporal hatte bringen können, stieg, von dem Genius der Revolution befreit und gewürdigt, rasch im Heere und auf den Schlachtfeldern von Grad zu Grad. Schon 1792 sehen wir ihn als Bataillonschef unter Cüstine mit Auszeichnung fechten, und die Armeeberichte nennen seinen Namen öfters unter denen der Tapfersten. 1793 commandirte er als Obrist eine Brigade; Kleber machte ihn auf dem Schlachtfelde zum General; in der Schlacht von Fleurus befehligt er eine Division und entscheidet den Sieg. – Inzwischen hat Bonaparte’s Genie seinen Adlerflug begonnen. Nach Italiens Ebenen, wo sich der Kampf der alten mit der neuen Welt entscheiden soll, hat ihn die Republik an die Spitze ihrer Heere als Obergeneral gesendet. Dort findet Bonaparte Bernadotte als Divisionair. Jener große Mann, der sich so gut darauf verstand, den Werth der Menschen zu erkennen, zu beurtheilen und ihre Fähigkeiten zu benutzen, schenkte Bernadotte [116] seine Freundschaft und vertraute ihn in diesem für Frankreichs Waffen rühmlichsten aller Feldzüge die schwierigsten Aufträge. Der Friede von Campo-Formio brachte Waffenruhe; die siegreiche Republik berief Bernadotte nach Paris und sendete ihn als ihren Botschafter nach Wien. Stolz und furchtlos pflanzte er, am Tage seiner Ankunft, die dreifarbige Fahne auf sein Hotel; aber der aufgestandene Pöbel der alten Kaiserstadt riß sie herab, und Bernadotte, als er von der Regierung nicht sofort die glänzendste Genugthuung erhalten konnte, warf ihr entschlossen den Fehdehandschuh hin und verließ Wien. Der neu ausgebrochene Krieg wurde mit steigender Erbitterung geführt. Das damalige Gouvernement der Republik (das Directorium) war im Innern schwach und nicht geeigenschaftet, den äußern Stürmen mit der Kraft zu begegnen, welche den Sieg verbürgt. In dieser Krisis erhob das öffentliche Vertrauen Bernadotte zum Kriegsminister. Er belebte die Heere der Republik mit neuem Muth und brachte Ordnung in die schmählich vernachlässigte Verwaltung. Doch der nicht blos strenge, sondern auch redliche und von ächt republikanischer Gesinnung durchdrungene Minister mochte den Machthabern Frankreich’s bald lastig seyn: Bernadotte erhielt seine Entlassung. Bald darauf kam der 18. Brumaire. Dieser gab in Bonaparte’s Hände die Herrschaft Frankreichs. Zur Befestigung derselben überhäufte der erste Consul und später der Kaiser die Würdigsten der Nation mit Belohnungen, Aemtern und glänzenden Würden, klug ihre Erhöhung an seine eigene knüpfend. Bernadotte ward Marschall des Reichs, Fürst von Ponte-Corvo und reich dotirt.
Die Doppelschlacht bei Jena warf Preußen zu Boden; sie vollendete die Einfesselung Deutschlands. Französische Heere überflutheten seinen Norden und richteten sich häuslich ein. Bernadotte führte den Oberbefehl über dieselben; sein Hauptquartier war Hamburg. Hatte man früher nur den Krieger gesehen und bewundert, so hatte man jetzt Gelegenheit den Menschen zu beobachten. Seine Einfachheit, Gerechtigkeit und sein immer menschenfreundliches Benehmen in allen, oft so schwierigen Verhältnissen, erwarben ihm bald in dem besetzten Lande allgemeine Achtung und Vertrauen. Nie vielleicht wurde unter gleichen Umständen eine glänzendere und ehrenvollere Meinung erworben, und sie war’s, die ihm den Pfad zum schwedischen Königsthrone bahnte. – Gustav IV., starrköpfig wie Karl XII., ohne dessen Genie zu besitzen, hatte Napoleon ewige Feindschaft geschworen und die Nation durch einen abenteuerlichen, ruhmlosen Kampf gegen sich erbittert. Sie nöthigte ihn, dem Throne für sich und seine Nachkommen zu Gunsten seines Oheims zu entsagen. Karl XIII. hatte keine Kinder; sein Adoptivsohn und designirter Nachfolger, der Prinz von Holstein-Augustenburg, starb durch Mord. Schwedens Thronfolge war auf’s neue in Frage gestellt. Siehe! da fiel die Wahl auf den Fremdling, der in der Meinung der Welt einen so hohen Platz errungen hatte! – Bernadotte befand sich in Paris und gerade bei Napoleon, als er die Depesche erhielt, die ihn auf Schwedens Thron berief. Er überreichte sie dem Kaiser; finster zog dieser die Augenbraunen zusammen, und nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens gab er sie Bernadotte zurück mit den Worten: „Reisen Sie; mag das Schicksal [117] in Erfüllung gehen!“ So wurde aus dem fremden Sohne der Niedrigkeit und der Armuth, der in seinem Vaterlande acht Jahre lang als gemeiner Musketier den Tornister getragen hatte, der Thronfolger in einem mächtigen Reiche, der Fürst zweier der hochherzigsten Nationen Europa’s. –
Während Bernadotte, als schwedischer Thronfolger, sich ganz mit den Interessen seines neuen Vaterlandes und seiner hohen Bestimmung beschäftigte, wandelte der große Napoleon starrsinnig den eingeschlagenen Pfad zum Verderben fort. Unbekümmert um die Interessen anderer Staaten, bestand der damals Allmächtige überall auf blinden Gehorsam und unbedingte Erfüllung seines von maaßlosem Haß gegen England mißleiteten Willens. Der Mann, dem die Vorsehung die Mittel in die Hände gelegt hatte, eine Welt zu beglücken: er verkannte gänzlich seine Bestimmung. Alle Hoffnung der Völker auf ihn ging in Hoffnungslosigkeit auf und mit jedem Jahre entfremdete er sich mehr und mehr den Interessen der Humanität und Gesittung. Rücksichtslos und hart, mit einem Uebermuth, der aller Nationalität spottete und aller Selbstständigkeit fremder Völker höhnte, übte er eine Diktatur über den Welttheil aus, welche die Regierungen wie die Völker erbitterte, und als Frucht solcher Erbitterung erstand jener furchtbare Bund, an dem die gewaltigste Macht, die seit Karl dem Großen über den Welttheil herrschte, endlich wie ein Strom am Felsen sich brach.
Bernadotte, vermöge seiner Stellung eingeweiht in die Absichten der Verbündeten und vertraut mit der Stimmung der Völker, dabei im Stande, die antagonisten Kräfte gegen einander abzuwägen, war keinen Augenblick über das Ende eines solchen Kampfes in Zweifel. Schon hatte Spanien den Völkern ein großes Beispiel von Dem gegeben, was moralische Kraft über physische Gewalt vermag; schon hatte der Winterfeldzug in Rußland des Kaisers Heereskraft unwiederbringlich gebrochen; schon stand Preußen’s hochherziges Volk gegen den Dränger in Waffen: da beschwor Bernadotte mit aller Begeisterung, die Ehrfurcht vor der Größe des Kaisers, und Freundschaft und Dankbarkeit einflößen können, den Mächtigen zum letzten Male, einzulenken und den Pfad gewissen Verderbens zu verlassen. „Wollen Sie,“ so schrieb er ihm am 13. März 1813, „im Besitze der schönsten Monarchie der Erde, die Gränzen derselben in’s Unendliche ausdehnen und einem weniger mächtigen Arme als der Ihrige ist, die traurige Erbschaft unvertilgbaren Völkerhasses und endloser Kriege vermachen?“ – und den Ausgang ahnend, setzte er hinzu: „Wenn aber keine Wahl gelassen ist, als der Kampf zwischen der Freiheit der Welt und der Unterdrückung, – dann werde ich zu den Schweden sagen: Ich fechte für Euch und mit Euch. – Sire! Für den Fürsten gibt es weder Freundschaft noch Haß; es gibt nur Pflichten zu erfüllen gegen die Völker, welche zu regieren ihn die Vorsehung berufen.“
[118] Schweden war dem Bunde gegen Napoleon beigetreten. Bernadotte führte ein Heer von 30,000 Mann in die Leipziger Völkerschlacht und half der bessern Sache zum Sieg. Aber am Rhein, an der Schwelle seines alten Vaterlandes, machte er Halt, und erst als der Alliirten prangender Triumpheinzug in Paris vorüber war, kam er, alles Aufsehen meidend, zur Hauptstadt. – Auch Timoleon, als er sein Vaterland von der Tyrannei seines Bruders befreite, verhüllte, von den Gefühlen der Natur überwältigt, sein Angesicht. –
Karl Johann steht im Spätabende seines Lebens, und wenn der Spruch: „man preise Niemanden vor seinem Ende glücklich!“ eine Ausnahme zuläßt, so möchte man sagen: – das schönste, würdigste Ziel, das ein Mensch sich stecken mag, Er hat’s erreicht. Unter den schwierigsten Umständen, umgeben von Gefahren, welche die Zunge der Gegenwart verschweigt, die Geschichte aber aufzeichnen wird, bewies er stets eine Klugheit, Weisheit, Milde und Gerechtigkeit, die selbst seine Feinde nicht abzuleugnen wagen. Geschirmt von der Treue seiner Völker, die mit Dankbarkeit und Bewunderung auf ihn blicken, strahlt Karl Johann, des Glückes Günstling und seines Glückes Herr, in der Glorie eines rechten Fürsten, den Herrschern der Mit- und Nachwelt ein nachahmungswürdiges Beispiel.