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Calcutta

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CCCLXXVIII. Stockholm Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Sechster Band (1839) von Joseph Meyer
CCLXXIX. Calcutta
CCLXXX. Darmstadt, Hauptstadt des Großherzogthums Hessen
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CALCUTTA

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CCLXXIX. Calcutta.




Aller Augen sind jetzt auf Indien gerichtet, wo das vergangene Jahr große Ereignisse geschehen ließ und größere vorbereitete. Die beiden rivalisirenden Weltmächte, Rußland und England, haben die lang geachteten Gränzen überschritten. Der brittische Dreizack ist neben den persischen Gränzpfählen aufgerichtet und ein russisches Heer zieht erobernd in die turkomannischen Steppen. Rußland und England, zu Anfang des Jahres durch einen Raum von 500 geographischen Meilen und unabhängige Staaten und Völker geschieden, trennt nur noch ein schmaler Landstrich von 120 Weilen und ein in Anarchie und Ohnmacht versunkenes Reich, das keinem Theile Achtung oder Furcht einflößen kann. Wo wird diese antagonistische Bewegung der beiden Kolosse aufhören? Ein Zusammenstoßen ist schwerlich zu vermeiden, und dort, auf den Hochebenen Centralasiens, wo die Urstämme des Menschengeschlechts aus den überlagernden jüngern Völkerschichten noch trümmerweise hervorstehen, wird sich’s entscheiden, ob die despotisch-slavische, oder die freie germanische Cultur ihren Eroberungs- und Siegeszug über den Welttheil vollenden soll.

Unter diesen folgenreichen Verhältnissen gewinnt eine Betrachtung der Hauptstadt des brittischen Mogulreichs ein ungewöhnliches Interesse.

Sie, Calcutta, liegt am Delta des Ganges, am linken, großen Arme dieses Stroms, dem Hoogly, 20 deutsche Meilen vom Meere.

Wir machen die Fahrt dahin auf dem jetzt gewöhnlichen Wege über Suez mit dem Dampfschiffe. – Babel Mandeb ist hinter uns, am Cap Gardafui sagen wir Afrika das letzte Lebewohl und, vom Monsoon begünstigt, gleitet das Fahrzeug pfeilschnell über den arabischen Meerbusen nach der Bay von Bengalen. Ceylon, die duftende, sagenvolle Zimmetinsel, ist das erste Land, das wir wieder erblicken, und schon in dreißigstündiger Ferne sehen wir seinen fabelhaften Adams-Pik wie ein glänzendes Wölkchen am Horizont schimmern, das allmählich sich in eine Riesengestalt verwandelt, und, wie sich das Dampfschiff von der Küste wieder entfernt, von neuem wieder zum Wölkchen sich verkehrt, bis er endlich ganz verschwindet. Land sehen wir dann nicht eher wieder als bei Orissa, an der bengalischen Küste. Flach und eintönig streckt das Ufer sich aus; aber, von der Sonne beleuchtet, strebt ein ungeheures Gebäude zu den Wolken, unvergänglich wie die Monumente von Tentyra und Luxor, und im Kolossalen der Verhältnisse [120] mit jenen um den Vorrang streitend. Es ist der Tempel des Dschaggernauth, – jener weltberüchtigte, wo der religiöse Aberglaube, von habsüchtigen Priestern genährt, alljährlich Tausende von Menschenopfern schlachtete.

Sorgfältig vermeidet das Dampfschiff die Küste; denn sie wimmelt von Untiefen und Sandbänken, und je näher dem Ziele, je gefährlicher wird die Fahrt. Signale werden aufgesteckt, um einem der in der Nähe der Hoogly-Mündung kreuzenden Pilotenschiffe anzuzeigen, daß man seinen Beistand wünsche, worauf sogleich eine Barke in See sticht, einen Piloten an Bord, der die Führung des Schiffs über die Barre des Stroms übernimmt; eine Vorsicht, deren Unterlassung jährlich eine Menge Seeschiffe mit ihrem Untergang büßen. Hinter der Barre ist der Fluß eine Stunde breit, und unzählige kleinere Arme desselben schließen ein niedriges angeschwemmtes Land ein, das sich zur Fluthzeit kaum über den Wasserspiegel erhebt. Auf einer der Inseln, dicht an der Barre, sind Befestigungen aufgeworfen und Batterien errichtet; eine Telegraphenlinie reicht von hier bis Calcutta. Um den Telegraphenthurm her ist das Dickicht vom haushohen Rohr gelichtet, und einige Häuser, Wohnungen der Beamten und der schwachen Garnison, haben auf terrassenförmigen Aufwürfen niedliche Gärtchen, welche mit der Einöde und Wildheit der Gegend einen sonderbaren Contrast bilden. Das ganze Etablissement ist mit Pallisaden umzäunt, nicht zum Schutz gegen menschliche Feinde; sondern gegen die Tiger, welche die Dschungeln des Sunderbunds zahlreich bewohnen: – so nennt man nämlich das ganze Delta zwischen dem Hoogly, dem eigentlichen Ganges und dem Buramputer. Merkwürdig ist es, daß unleugbare Spuren dieser jetzt unbewohnbaren Gegend eine große Cultur und zahlreiche Bevölkerung in urgeschichtlicher Vorzeit nachweisen. Bei den häufigen Uferbauten findet man Münzen, metallenen Schmuck u. dergl. in Menge, meistens aus der Zeit vor Alexander, und nach einer von den Braminen bewahrten Tradition blühte hier einst die Hauptstadt eines großen Reichs. Wahrscheinlich war’s der Einbruch des Meers, der die ganze Bevölkerung und alle ihre Werke mit einmal vernichtete und von den Tafeln der Geschichte wischte. Erst noch vor 6 Jahren zerstörte ein ähnliches Ereignis alle Dörfer bis an die Thore von Calcutta und Tausende von Menschen begrub die Fluth.

Größere, schwerbeladene, tief gehende Schiffe können nur mit der Fluth nach Calcutta gelangen, und sie erwarten diese in Diamond-Harbour, der zugleich Station der Dampfboote ist, welche zum Bugsiren dienen. Ganz große Schiffe von mehr als 800 Tonnen müssen einen Theil ihrer Ladung löschen, und sich solche in Barken nachführen lassen: eine große Beschwerde für den Handel, der durch eine Eisenbahn abgeholfen werden soll, welche von Hoogly-Point nach Calcutta gebaut wird. Größere Fahrzeuge werden dann gar nicht mehr nach Calcutta versegeln, sondern an der Mündung der Hoogly ihre Ladung empfangen.

Schon ehe man nach Diamond Harbour gelangt, hat sich die Ufer-Landschaft des Flusses allmählich vortheilhaft geändert. Bebaute Strecken werden häufiger, und aus dem sammetnen Grün üppiger Reispflanzungen gucken die [121] niedrigen Wohnungen der Hindus freundlich heraus. Weiter hinan breitet die tropische Cocospalme ihre Fächer aus, erst einzeln, dann immer zahlreicher; und hinzutretende Pisanggebüsche und anderes Gehölz mit prächtigem Laubwerk und von fremdartigem Wuchse bilden Kränze um die in Dörfer zusammenrückenden Hütten von Bambus. So fort, von Culturgrad zu Culturgrad, verwandelt sich allgemach die von Bestien bewohnte Wüste in die entzückendste Landschaft, wo Alles Gedeihen, Frieden und heitern Lebensgenuß athmet; wo Dorf an Dorf, Anlage an Anlage sich reiht, wo die stolzen Sommerpalläste und Villen der fremden Herren des Ostens wetteifern an Pracht und Herrlichkeit mit den einheimischen Palmenhainen, die der naturfreundliche, parkliebende Sinn der Engländer um ihre Wohnungen gepflanzt hat.

Endlich blinken in der Ferne, in einem weiten Halbzirkel, aus einer grauen Rauchwolke goldene Thurmspitzen, und das dichte Gewühl von Schiffen und Booten im Flusse, und jenes von großen Bevölkerungsmassen ausgehende, charakteristische Summen verkündigen die unmittelbare Nähe Calcutta’s.

Das erste Gebäude der Stadt, welches dem Ankömmling in die Augen fällt, ist das Gewächshaus des botanischen Gartens; eine schöne Anlage, brittischen Herrschersinns würdig, vielleicht einzig in ihrer Art. Eine doppelte Reihe von eleganten, sämmtlich mit Balkonen und Colonnaden gezierten Wohnungen knüpft diesen Punkt mit der eigentlichen Stadt zusammen. Der bischöfliche Pallast, im neu-gothischen Style, macht, landeinwärts gelegen und von Palmen und Teakbäumen umschattet, einen wunderbaren Anblick, der den christlichen Beschauer tief ergreift, wenn er sich erinnert, daß an dieser Stelle noch vor hundert Jahren braminische Priester Menschenopfer brachten.

Weiterhin bildet der Strom einen fast rechten Winkel, und auf der von ihm eingeschlossenen Landspitze zeigen sich die weiten Anlagen der Dock-Yards von Kydpore. Hier werden Schiffe bis zu 1000 Tonnen Trächtigkeit vom kostbaren, kaum verwüstlichen Teakholze gebaut, und diese Docks sind mit den größten, gleichartigen Anlagen bei London und Liverpool zu vergleichen. – Und nun erst, nachdem sich das Dampfschiff um die Landspitze gebogen hat, wird dem Reisenden der Anblick des eigentlichen Calcutta, dessen unabsehbare Häusermasse drei Meilen vom linken Ufer des prächtigen Stromes überdeckt.

Calcutta nimmt sich auf diesem Punkte überaus großartig aus; aber nicht schön, nicht malerisch. Die Masse hat etwas Schwerfälliges, für den Betrachtenden Drückendes, wie es der Anblick jeder großen Stadt hat, die in einer Ebene liegt. – Die Thürme, deren Spitzen in der Ferne über der Rauchwolke sich so erwartung-spannend ausnahmen, scheinen in der Nähe verschwunden: sie zogen sich in die Tiefe der chaotischen Masse zurück, und würden die Ansicht sehr kahl lassen, ersetzte sie nicht gewissermaßen ein Wald von hohen, bewimpelten Masten, der aus dem mit Schiffen bedeckten Strome aufsteigt, welcher mit seinem regen Leben und Treiben erkennen läßt, daß in der Hauptstadt des brittisch-indischen Reichs kein Monarch, sondern der Handel selbst auf dem Throne sitzt. [122] Die Citadelle, Fort William, liegt seitwärts, und ihrer desolaten, baumlosen Umgebung nach, spielt der Kriegsgott hier eine untergeordnete Rolle. Doch ist die Festung vortrefflich angelegt und ihre Werke gelten für unüberwindlich.

Das Innere von Calcutta prangt einerseits mit allem Glanze der europäischen Architectur und zeigt in andern Theilen allen Schmutz und alle Aermlichkeit einer dichtgedrängten indischen Hüttenbevölkerung. Die europäische Stadt dehnt sich, westlich von der Festung, eine Viertelstunde weit aus, und der Gouvernementspallast auf der Esplanade, wo der Generalgouverneur des brittischen Indiens im Pomp eines orientalischen Fürsten Hof hält, ragt wie eine Krone über die langen Reihen von Pallästen, welche sich ihm anschließen. Sie sind im griechischen Styl aufgeführt und von schattenden Baumgruppen umgeben, die dieser Parthie ein malerisches, imposantes Ansehen verleihen. Hier wohnt der crösusreiche und hoffähige Theil der europäischen Bevölkerung, der hohe Beamte und der Millionair, in einem Style, der die europäische Verfeinerung mit dem Luxus des Ostens zusammenfaßt. – An diese schließen sich die Wohnungen von indischen Vornehmen und denjenigen Europäern an, welche weder Rang noch Reichthum genug haben, um der Ehre einer Einladung zu den Levees des Statthalters theilhaftig werden zu können. Die übrigen Stadttheile, der Masse nach bei weitem die größten, gehören zur sogenannten schwarzen Stadt, einem häßlichen, engen, chaotischen Durcheinander von kleinen, rothen, unbeworfenen Backsteinhäuschen, schmutzigen Pagoden und elenden Hütten von Bambus, die primitiven Wohnungen des gemeinen Paria. In diesem Stadttheile, dessen Gäßchen, selten gepflastert, von dickem Koth überlagert sind, ist eine halbe Million Menschen zusammengedrängt, während die übrigen, elegantern Viertel kaum den zehnten Theil dieser Bevölkerung haben. Ueber die Gesammtzahl derselben weichen die Angaben auf eine kaum glaubliche Weise ab. 1752 zählte man in der Stadt, einschließlich der zunächst liegenden Dörfer, 409,056 Seelen in 51,133 Wohnungen. In einer Brochüre des Calcuttaer Schulvereins finde ich, für 1819, die Einwohnerzahl auf 750,000 angegeben; neuere Reisende variiren in ihren Schätzungen von 300,000 bis zu 1 Million. Die Wahrheit mag in der Mitte liegen. Der Stand der Bevölkerung ist sehr veränderlich, und zu Zeiten großer Epidemien, welche hier häufig und verwüstend sind, wandert ein Theil der Hindus aus und zerstreut sich in die Umgegend.

Die Gesellschaft in Calcutta sondert sich mit der Schärfe orientalischer Etikette in verschiedene Klassen, die wenig mit einander verkehren und von denen jede ihren eigenen Stempel trägt. Die Britten füllen die erste Reihe ausschließlich. Es sind dieß die Civilbeamten und Advocaten (deren Stand hier einen goldenen Boden hat); die Militairoffiziere und großen Kaufleute. Ausgestattet mit dem Reichthume europäischer Bildung und im Besitze großer Einkünfte, sey es als Gehalt, oder als Ertrag ihrer Thätigkeit, machen diese Leute große und glänzende Häuser, und in ihren Kreisen vermißt man keine der Formen und keinen Genuß der feinen Gesellschaft einer europäischen [123] Hauptstadt. Trotz der Divergenz ihres Berufs verfolgen doch Alle einen und den nämlichen Hauptzweck: und der ist kein anderer, als in kürzester Zeit möglichst viel „Geld zu machen,“ um den Abend des Lebens in Ruhe und Genuß in Europa zubringen zu können. Kein Europäer läßt sich hier nieder, um sein Geld zu verzehren, und wenn einmal ein Kaufmann, vom übermäßigen Erwerb verleitet, sich für immer hier ansiedelt, so ist’s doch nur als Ausnahme und nicht als Regel. Der Generalgouverneur ist das Haupt der Gesellschaft. Er sondert die weniger Gebildeten und die ärmeren Europäer auf die einfachste Weise dadurch aus, daß er sie nicht zu seinen Festen einladet. Diese Ausgeschiedenen leben in kleinen, abgeschlossenen Cotterien für sich, zu stolz, sich mit der noch eine Stufe niedriger stehenden portugiesischen Bevölkerung (Krämer, Wirthe etc.) zu amalgamiren, welche eine dritte Klasse bildet. Die zahlreichen Muhamedaner, die ehemaligen Herren des Landes, sind EO IPSO separirt; die Hindu-Gesellschaft endlich zerfällt in ein endloses Fachwerk, vom mediatisirten Fürsten und Rajah, bis zum verachteten Paria. Außer diesen gibt es noch gelegentliche Residenten – Amerikaner, Franzosen, Deutsche etc., – welche Handelsunternehmungen und Schifffahrt auf kürzere oder längere Zeit hieher führen. Sie gesellen sich denjenigen zuerst genannten Classen zu, auf welche sie vermöge ihrer Bildung und ihrer Empfehlungen Anspruch haben. Im Ganzen finden Fremde eben nicht die zuvorkommendste Aufnahme. – Noch ein bedeutender Theil der Bevölkerung tritt hier auf, welche sich sehr vermehrt und an Einfluß und Geltung, wie an Bildung, entschiedene Fortschritte macht. Es ist die sogenannte Halbkaste (HALF-CAST), die Vermischung indischen und brittischen Bluts, meistens unlegitimen Ursprungs. Es ist ein schöner Menschenschlag und der Liebreiz der Damen führt diese oft als Gattinnen in höhere Kreise. Auch Reichthum und Bildung ist bei ihnen keine seltene Zugabe; denn viele einträglichen Zweige des Verkehrs Calcutta’s, zumal mit dem Innern des Landes, blühen ausschließlich in den Händen dieser Mulatten. – Endlich haben wir auch noch die europäischen Misses zu erwähnen – liebenswürdige Glückfräuleins, von guter Familie und ohne Vermögen, welche ihre Verwandte in England, jährlich ein paar Ladungen voll, hierher consigniren, um mit einem reichen Manne, oder doch mit einer reichen Erbschaft von ihm, einst zurückzukehren und dann als „Nabobesses“ in den Routs und Assembleen der Hauptstadt zu glänzen; ein Zweck, der auch gewöhnlich erreicht wird.

Merkwürdig ist der Einfluß der brittischen Herrschaft auf die höhern Cirkel der indischen Gesellschaft und ihre allmähliche Verwandlung. Noch kämpft zwar das Brahminenthum um jeden Fußbreit seines Besitzes hartnäckig mit der vordringenden Fluth der westlichen Fremdlinge; aber täglich verliert es in dem ungleichen Streite an Terrain, und immer mehr zieht es sich in eine engere und niedrigere Sphäre zurück. Alle Waffen der europäischen Kultur sind hier gegen den Brahminismus in unausgesetzter Thätigkeit und arbeiten rastlos an seiner endlichen Ausrottung. In mehr als hundert Freischulen, zum Theil nach Bell-Lancaster’schen Prinzipien, sind den Hindus, bis zum geringsten Paria herab, die Schleußen des Unterrichts geöffnet; sieben hindostanische Zeitungen und Journale, von denen 2 fast [124] unentgeltlich ausgegeben werden, streuen die Saat europäischen Wissens und Denkens in der Form anziehender Unterhaltung aus, und die vielen Institute für höhere wissenschaftliche Fortbildung der Hindus werden, seitdem die dem befähigten Eingebornen früher verschlossen gewesenen Thüren zu Amt und Würde, sowohl in der Civil- als Militairverwaltung, geöffnet sind, wetteifernd benutzt. – Im Innern des Landes sieht man nur erst die Zeichen brittischer Herrschaft. Dort trägt der Indier noch den Stempel seiner primitiven Originalität, so scharf, als vor 3000 und 4000 Jahren. Seine theokratische Verfassung ist dort noch ein unbesiegtes Bollwerk; sie schützt ihn vor jeder Veränderung, ein unabänderlich strenges Kastensystem weist Jedem seine Stellung an, die er nicht überschreiten kann; fremd steht ihm der europäische Herr gegenüber, und wollte er aus der ihm vom Geschick angewiesenen Schranke treten, würde er sich vernichten. – In Calcutta ist dieß anders. Da ist er täglichen Angriffen der europäischen Gesittung preisgegeben. Er legt seine Vorurtheile ab; nicht auf einmal, sondern in unmerklichen Graden, und Gewohnheit und Vortheil wirken das Uebrige. Der Sohn sieht schon im Vater keinen ächten Indier mehr, und der Enkel wird’s noch weniger thun. Der im Innern zur Zeit noch allgewaltige Arm der Brahminen ist in der Hauptstadt gebrochen. Viele vornehme Indier haben sich bereits öffentlich europäisirt, und es lehren indische Philosophen sogar, der Exkommunikations-Sprüche der Priester lachend, in öffentlichen Schulen die Erkenntniß des Unsinns des brahminischen Glaubens. Einer der reichsten Männer in Indien, Tagore in Calcutta, brahminischer Kaste, gibt Bälle, Soirees und Diners in seinem Pallaste, die an Glanz und Raffinement mit denen des Gouverneurs wetteifern; und mit Ueberraschung sieht der geladene Europäer bei solchen Gelegenheiten eine Versammlung von Indiern, die über Gegenstände der Politik, der Wissenschaft und der Philosophie sich mit einer Freiheit, Gewandtheit und einem gesunden Urtheil unterhalten, welches jeder europäischen Gesellschaft zur Ehre gereichen würde. Diejenigen indischen Vornehmen aber, welche sich durch strenge Abgeschlossenheit von dem europäischen Einfluß frei zu halten suchen, sind eine indolente, degradirte, verweichlichte Race, die den Mangel an Macht und Ansehen mit puppenhaftem Gepränge und pomphaften Kinderspielen zu verschleiern sucht. – Solchergestalt wirkt England ungehindert dem Zwecke zu, daß aus der bessern indischen Bevölkerung Calcutta’s nach und nach ein fester, gesunder Kern der Bildung sich gestalte, der, emporgewachsen zum Baume, einst seine Zweige über ganz Indien breite und zum Heile der Civilisation die Stelle einnehme roher, muselmännischer Unwissenheit und des Alles in sinnloser Stupidität fesselnden Brahmahnismus.

Als Handelsplatz gebührt Calcutta der erste Rang in ganz Asien. Es ist das große Emporium nicht nur vom Verkehr des Mutterlandes mit seinem indischen Reiche, sondern auch für beider Handel mit andern Ländern des Welttheils. Auch für Australien und die afrikanischen Colonien ist’s eine Niederlage zur Ein- und Ausfuhr. Unermeßlich ist der innere Handel vermöge des Ganges und seiner großen, eine schiffbare Länge von 1500 englischen Meilen habenden Nebenströme. Die Entdeckung der Dampfschifffahrt hat die Communikationsmittel erweitert und 41 [125] Dampfboote befuhren im vorigen Jahre den Ganges allein. Das Auffinden von Kohlenlagern an den Gestaden des letztern eröffnet der Industrie und dem Verkehr neue Aussichten, und die nach Bombay und Madras projektirten Eisenbahnen versprechen der handel- und kapitalreichen Hauptstadt auch die südlichen und westlichen Provinzen zu öffnen. – Der Handel Calcutta’s beschäftigt gegenwärtig über 800 Seeschiffe, und über 20,000 Flußfahrzeuge unterhalten den Verkehr landeinwärts. Das in den Geschäften angelegte Kapital wird auf 400 Millionen Thaler geschätzt. – Alle Produkte Indiens und Asiens nehmen Theil an Calcutta’s Ausfuhr; die Einfuhr begreift, neben unermeßlichen Summen baaren Geldes, besonders die feinern Erzeugnisse der brittischen Manufakturen. Daß es hier nicht an vielerlei Anstalten zur Förderung des Handels und seiner Kenntnisse fehle, und, außer Börse, Bazars u. s. w. Calcutta auch Banken und Assekuranz-Gesellschaften in hinreichender Menge besitze, bedarf wohl kaum der Erwähnung.