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Taganrog (Meyer’s Universum)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCLXIII. Eskilstuna in Schweden Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Achter Band (1841) von Joseph Meyer
CCCLXIV. Taganrog
CCCLXV. Baktschi-Serai und der Pallast des Chans
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TAGANROG
in Russland

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CCCLXIV. Taganrog.




Wer durch das Land der don’schen Kosacken über den Don, der Küste des asow’schen Meeres entlang, nach Westen wandert, gelangt an einen Golf, in den der Sambock fällt, ein für kleine, flache Barken schiffbares, tiefer im Lande durch Moore und Sümpfe, nahe der Küste zu durch ein felsiges Bette schleichendes Gewässer. An dieses Golfs Westende tritt ein nicht allzuhohes Vorgebirge hinaus in das Meer. Auf seinem Scheitel steht die befestigte Stadt Taganrog, und um die Bucht, die das Vorgebirge bildet und schirmt, reiben sich Magazine. Der Hafen selbst, obschon der belebteste am asow’schen Meere, hat nur 4 Fuß Tiefe; deshalb können ihn die größern Schiffe nicht benutzen. Sie müssen auf der Rhede ankern, und das Löschen und Beladen derselben geschieht mittelst eigenthümlicher Bootkarren auf die Art, wie es unser schönes Bild veranschaulicht.

Taganrog hat in unsern Tagen dieselbe Handelsberühmtheit erlangt, wie einst Azoff, das alte Tanais; es ist eben so der Centralpunkt für den Handel des asow’schen Meeres, wie Odessa für den des schwarzen. Der Werth der taganrog’schen Ausfuhr beträgt jährlich über 10 Millionen Rubel; halb so viel ist jener der Einfuhr. Hauptgegenstand des hiesigen Geschäfts ist Getreide, welches aus den reichen, kornbauenden Ländern, die der Don durchströmt, herbeigeführt wird; sodann Eisen, Caviar, Wolle, Talg, Häute, Wachs. Die Einfuhr besteht aus Colonialwaaren, Weinen aus dem Archipel, getrockneten Früchten aus Smyrna, Südfrüchten aus Sicilien und Manufakturwaaren aus England. Der Verkehr zur See beschränkt sich auf die Monate April bis November, denn im Winter gefriert das asow’sche Meer und der Landhandel bleibt allein übrig, welcher, auf Schlitten, bis in die fernen Gegenden Sibiriens, bis Astrachan und Moskau getrieben wird.

Taganrog steht seit kaum 140 Jahren und wurde von Peter dem Großen gegründet, der, mit dem Scharfblicke eines Alexanders, seine schickliche Lage zu einem Ausfuhrmarkt der fruchtreichsten Provinz des Reichs erkannte. Die Stadt ist recht hübsch gebaut und ihre vielen und thurmreichen Kirchen geben ihr von der Ferne ein nobles Ansehen. Die Bevölkerung, etwa 10,000, ist ein Gemisch vieler Nationen: Russen, Griechen, Armenier, Italiener, Deutsche, Franzosen, Engländer, Juden. Die beiden erstern bilden die Mehrzahl. – Obschon unter der Breite [103] Wiens gelegen, ist doch das Klima rauher als in Danzig, und fast sibirisch. Langen und strengen Wintern folgen heiße Sommer von kurzer Dauer. Doch gilt dieß nur von der nächsten Umgegend, denn in der Entfernung von wenigen Meilen, nach der taurischen Landenge zu, ist das Klima schon viel milder, so daß selbst Weinbau gedeiht. Uebrigens entbehrt Taganrog nicht die Genüsse des Südens. Sein großer Verkehr mit Smyrna und den griechischen Inseln führt ihm die köstlichen Früchte in ganzen Ladungen zu, und so frisch, als ob sie den Tag vorher erst gepflückt worden waren; dabei ist ihr Preis unglaublich wohlfeil, so daß selbst der Lastträger an dem Genuß derselben Theil hat.

Taganrog liegt im Lande der don’schen Kosacken, im eigentlichen Donland. Der Fluch der Leibeigenschaft, welcher auf dem übrigen Rußland lastet, ist hier unbekannt. Der Kosacke ist so frei, wie der Deutsche nur seyn kann. Er ist unbeschränkter Herr seines Eigenthums, treibt, was er Lust hat, übt auf seinem Gebiete das Recht der Jagd und Fischerei und hat wenig oder gar keine Abgaben. Sein Kriegsdienst ist freiwillig. Man findet keinen Bettler und wenig Arme im Donlande. Fast überall herrscht Wohlhabenhelt und ein oft überraschender Grad von Bildung; denn der Kosack ist eben so haushalterisch und sparsam, als er wißbegierig, thätig, muthig und arbeitsam ist. Seine Sitten sind rein, besonders sind die Weiber strengen Gesetzen unterworfen. Ehedem wurde ein gefallenes Mädchen mit den Haaren an die Kirchthüre gebunden und alle Eintretenden spieen ihr in’s Angesicht. Eine Ehebrecherin begrub man lebendig. Der Kosacken Ehrfurcht vor dem Alter, ihre Gastfreundschaft und viele andere unter ihnen heimische Tugenden erinnern an die Zeiten der Patriarchen. Das Volk theilt sich in mehre Stämme; alle diese aber sind geschworene Feinde der tscherkessischen Völkerschaften, von deren Raubzügen sie, die schon viele Jahrhunderte die friedlichen Künste, Gewerbe und Ackerbau treiben, häufig zu leiden hatten. Diesen Erbhaß weiß das russische Gouvernement in seinem jetzigen Kampfe gegen die heldenmüthigen Kinder des Kaukasus gut zu benutzen. Ohne ihn, ohne den Beistand der Kosackenstämme, würde die Fortsetzung des tscherkessischen Kriegs kaum möglich seyn. In neuester Zeit hat die russ. Regierung auch den Eintritt der Kosacken in den Seedienst begünstigt und durch Vortheile aller Art ihn anlockend zu machen gesucht. Wirklich sind bereits alle Häfen des Donlandes, vorzüglich aber Taganrog, zu Pflanzschulen tüchtiger Seeleute geworden, und bei der Beharrlichkeit, mit der das Gouvernement seine Absichten durchführt, ist nicht zu zweifeln, daß bald der größere Theil der russ. Matrosen einem Volke angehören wird, das sich durch äußere Gestalt, Muth und natürliches Geschick vor dem russischen Leibeigenen eben so auszeichnet, als der freie Schweizer vor dem Neapolitaner. Das asow’sche und schwarze Meer sind recht dazu gemacht, den Seemann in Ueberwindung der Schwierigkeiten seines Handwerks zu üben; denn in der Welt gibt es keine, der Schifffahrt so gefährliche, bei stürmischem Wetter so furchtbare Gewässer. Jeder Orkan, der gewöhnlich urplötzlich und unerwartet losbricht, [104] wühlt das asow’sche Meer, wegen seiner geringen Tiefe, bis auf den Grund auf; es trübt sich das Wasser und wird gelb; das schwarze Meer aber thürmt seine Wogen zu Bergen, so hoch, daß sie in ihrem eigenen Schatten ganz schwarz erscheinen; – daher sein Name. Darum ist auch das Kreuzen der russischen Kriegsgeschwader auf beiden Meeren immer gefährlich und hat alljährlich eine Menge Verluste an Menschenleben und Schiffen zur Folge.

Ehe wir Taganrog verlassen, besuchen wir noch seine größte Merkwürdigkeit – das Haus, in welchem Kaiser Alexander starb. Es wurde von der Krone angekauft und wird wie ein Heiligthum gehütet. Es ist nicht größer, als das Haus Napoleon’s in St. Helena, und eben so klein ist das Zimmer, in welchem der mächtige Feind des Heros, fern von seinen Lieben, fern von seiner Hauptstadt, fast eben so verlassen als jener, gequält von Gewissensscrupeln, im fernen Winkel seines Reichs dahin schied. Im Todtenzimmer, vor dem Sterbebette des Kaisers, steht jetzt ein Altar; auf ihm brennen zwei Kerzen, und am Altare kniet ein Priester in immerwährendem Gebet. Es hat dieses Haus eine gar herrliche Aussicht. Aus seinen Fenstern sieht man das Meer vor sich ausgebreitet, und an beiden Seiten ziehen malerische Ufer hin. Die Schönheit der Natur verleiht der Betrachtung Schwingen und gießt einen überirdischen, seligen Schein über das Ganze. –

Alexander starb, so sagte man bei seinem plötzlichen Tode, vergiftet. In Taganrog glaubt so etwas Niemand. Jedermann kennt hier die schädlichen und lebensgefährlichen Folgen des unglaublich schnellen Temperaturwechsels, welcher in den glühend heißen Sommertagen oft 15 bis 20 Grade in wenigen Stunden beträgt. Die Umstände von Alexanders Tod kann in Taganrog jedes Kind erzählen. Der Kaiser hatte nämlich an einem Tage unerträglicher Schwüle eine Gondelfahrt auf dem asow’schen Meere gemacht und sich dabei sehr leicht gekleidet. Man rieth zur Mitnahme eines Mantels; er verschmähte es. Auf der See schlug der Wind um, und die Temperatur kühlte sich von afrikanischer Schwüle bis 8 Gr. R. ab. Obschon fühlbar erkältet, fuhr der Monarch doch noch in offener Troschke eine Strecke, und Fieberfrost schüttelte ihn schon, ehe er ein Obdach erreichte. Jährlich erleiden eine Menge Menschen aus gleicher Ursache eben so schnellen Tod. Daher hüten sich auch die Einwohner davor wie vor der Pest, und versehen sich auf allen ihren Ausflügen mit warmen Kleidern, die Luft mag noch so schwül seyn.