Tauben-Sanftmuth
Blätter und Blüthen.
Tauben-Sanftmuth. Die sprichwörtlich gewordene „Tauben-Sanftmuth“ ist zwar vielfach schon angezweifelt und angegriffen worden; man hat auf die Zank- und Streitsucht des Taubengeschlechtes, auf die Eifersucht der Männchen und ihre erbitterten Kämpfe aufmerksam gemacht; doch nirgend hörte ich von einem so schlagenden Beweise für die Bosheit und Rachsucht der „sanftmüthigen Täubchen“, wie ich ihn selbst erlebt habe. – Zur Belustigung der Kinder ließ ich den alten Taubenschlag vor der Thür meines Wohnhauses renoviren und mit einer ganzen Taubencolonie bevölkern. Da gab es Feldflüchter als Proletarier; Glasaugen und Werfer in der Classe der Honoratioren, Kröpper repräsentirten den Bauernstand; Mövchen, Perücken und Trommler bildeten die Gelehrten- und Adelsaristokratie. Die Eigenthümlichkeiten, um nicht zu sagen den Charakter der einzelnen Racen, wie der Individuen beobachtete auch ich oft mit Vergnügen und suchte meine Kinder darauf aufmerksam zu machen. Während die Einen in strenger Abgeschiedenheit von dem großen Haufen sich bewegten, nur an einander Wohlgefallen zu haben schienen, besaßen Andere eine unverbesserliche Nichtachtung ihres „edleren Blutes“ und konnten nur durch Gewaltmittel von einer Mesalliance abgehalten werden. Ein Paar prachtvoller weißer Pfauenschwänze zeichnete sich vor allen anderen durch seine Schönheit aus. Es hatte sich der ganz besondern Liebe und Aufmerksamkeit meiner Jungen zu erfreuen. – Doch wie sich nie in einer Person alle Vorzüge vereinen, so ging auch diesem hocharistokratischen Paar die Gewandtheit im Fluge ab. Darum kein Wunder, daß die Pfauentaube eine leichte Beute des raubgierigen Habichts wurde. Die Trauer über diesen schmerzlichen Verlust war um so tiefgreifender, als sich nicht so bald Gelegenheit zu einem Ersatz bot. Der verwittwete Gatte war jedenfalls am schlimmsten daran, und wir glaubten deshalb auch billige Rücksicht nehmen zu müssen, als wir bemerkten, daß er, fern von jedem Rangvorurtheil, sich an dem warmen Herzen einer jugendlichen Schönheit aus dem Arbeiterstande zu trösten suchte.
Eines Tages jedoch brachte ich aus der Stadt eine würdigere Gattin für den „edlen Wittwer“ mit, und sofort ward sein neues Verhältniß für ein schmähliches Concubinat erklärt, das süße Band gewaltsam getrennt, der Vollblutstauber mit seiner ihm bestimmten Gemahlin zu näherer Bekanntschaft einstweilen in einen besondern Käfig gesperrt und die verstoßene Gemahlin, um jede eheliche Scene zu verhüten, nach einem entfernten Vorwerke in’s Exil geschickt, wo man ihr gleichfalls einen entsprechenden Gemahl octroyirte. Mit ihr wurde das ganze Geschlecht der Arbeiter oder Feldflüchter ausgemerzt und fortgeschickt. Anfangs ging Alles gut. Das fürstliche Paar siedelte nach dem gemeinschaftlichen Taubenschlage über, begann alsbald sich häuslich einzurichten, und nach Verlauf einiger Wochen brachte mein Hans die Freudenpost: „es wären zwei Eier im Neste.“ Auch die Verbannte schien sich in das Unvermeidliche gefunden zu haben; auch sie trug fleißig zu Neste und hatte, wie der Schaffer berichtete, still und eingezogen mit ihrem Manne gelebt. – „Die Sache ist ausgestanden,“ dachten alle Betheiligten, nur die Hauptperson nicht. Sie, die in ihren heiligsten Gefühlen Beleidigte, erschien plötzlich auf dem Hauptgute und schlüpfte, nachdem sie das Terrain recognoscirt, durch ein ihr nur zu wohl bekanntes Hinterpförtchen in den Taubenschlag. Hier erhob sich nun zum Schrecken aller Zuschauer ein gewaltiger Tumult. Brütende Mütter flogen, ihrer natürlichen Pflichten vergessend, geängstigt ins Freie; dennoch hörte man drinnen heftigen Flügelschlag und zorniges Gegurre. Da taumelte, arg zerzaust, mit Blutspuren auf dem weißen Gefieder, auch die Pfauentaube heraus, verweilte unschlüssig auf dem Rande des Flugbretes und hob sich dann schwerfällig auf das vorspringende Dach ihres Hauses, von wo sie mit vorgebeugtem Halse das Innere ihrer Wohnung zu durchspähen suchte. Endlich schoß, wie ein Pfeil, der feindliche Eindringling aus dem Schlage, hob sich, ohne einen Augenblick zu verweilen, hoch in die Luft und verschwand den Blicken der bestürzt dastehenden Knaben. Jetzt erst kamen diese auf den Gedanken, eine Leiter zu holen, um den Schauplatz „gräßlicher Thaten“ näher zu untersuchen. Die Wirklichkeit blieb denn auch hinter dem Entsetzlichsten, was eine Kinderphantasie auszuhecken vermag, nicht zurück. Das liebe Nest des edlen Paares war völlig zerstört, die Schalen der gänzlich zerhackten Eier lagen stückweise auf dem Boden des Schlages, die beraubte Mutter flatterte hülf- und rathlos umher, ohne das stille Plätzchen ihres Glückes wiederzufinden. Doch kein zweites Nest war verletzt worden. Das empörte Rechtsgefühl der Kinder verlangte, zur Beruhigung der schmerzlich aufgeregten Gemüther, eine eclatante Genugthuung, und in einem Familienrathe beschlossen wir (natürlich ohne des eignen Unrechts, durch das wir fremdes hervorgerufen, zu gedenken) den Tod der Mörderin. Allein auch bei uns hing man dazumal keinen Verbrecher, bevor man ihn hatte. Die Schuldbeladene kehrte, wie von einer bösen Ahnung getrieben, nicht in ihr Exil zurück. Vergebens harrte ihrer der verlassene Gatte, der „auf Mord sinnende“ Schaffer.
Sie mußte in einem fremden Taubenschlage Unterkommen gefunden haben. – Das tiefgekränkte Pfauentaubenpaar brütete in diesem Jahre nicht wieder. Als aber im folgenden Sommer in einem neuen, schöneren Neste glücklich zwei junge hoffnungsvolle Pfauentauben sich zeigten, dachte Niemand an die Verschollene mehr. Vielleicht hatte sie uns nur sicher machen wollen, vielleicht gedachte sie einer noch raffinirteren Rache zu genießen; genug, es wiederholte sich die Scene vom vorigen Jahre. Die unschuldigen Jungen wurden von ihrer unversöhnlichen Feindin auf's Grausamste umgebracht. Erst im dritten Jahre gelang es mir, die um das Gehöft herumlungernde Verbrecherin zu schießen. Jetzt konnte unser kinderloses Ehepaar endlich seine Sprößlinge, unbehelligt von fremden Eindringlingen, groß ziehen.