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Thüringer Sagenbuch. Erster Band/Seelweckchen

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Kapelle Ehrenberg Thüringer Sagenbuch. Erster Band
von Ludwig Bechstein
Wassergeist Hackelmärz
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[35]
22.
Seelweckchen.

Auf der Mauer der steinernen Brücke, welche nahe beim Kloster Veßra über die Schleuse führt, ganz nahe der Stelle, wo diese sich mit der Werra vereinigt, erblickt man eine Brätzel und einen Namen dieser Gestalt ANNA ARNERTA † 1612 – als Wahrzeichen eingehauen. Diese Zeichen sollen ihren Ursprung einem Ereigniß danken, das zur Sage verklungen ist. Ein junges hübsches Bäckermädchen aus Themar, die einzige Tochter wohlhabender Aeltern, wurde mit einem Korbe voll Brätzeln und Semmeln nach Veßra geschickt. Da der Korb schwer war, so ruhte das schöne Kind sich aus auf der dazu ganz geeigneten Brückenmauer, nahe da, wo sich die Wege scheiden. Sei es nun, daß des Korbes Schwere allein die Jungfrau rücklings niederzog, sei es, daß der dort wohnende Wassergeist Hackelmärz dieß that, genug, sie sank sammt ihrem Korbe rücklings nieder und fand ihren Tod in der Fluth. Am andern Tage wurde sie erst gefunden. Die Aeltern ließen alle Jahre an dem Unglückstage ihrer Tochter Semmeln und Brätzeln an die Schulkinder vertheilen, auch auf die Veßraer Brücke zum Andenken, oder auch zur Warnung für Diejenigen, welche schwer belastet da vorüber kommen und in ähnliche Gefahr gerathen möchten, jene [36] Zeichen in die Mauer einhauen, welche stets an den Unglücksfall erinnern. In dem Testamente der Aeltern des verunglückten Mädchens war der Armen- oder auch Seel-Casse Themar eine beträchtliche Summe zugedacht; auch die alljährliche Vertheilung der Semmeln unter die Schulkinder bestand fort, und besteht heute noch. Die Kinder heißen diese Semmeln „die Seelweckchen“; und auf einem Hause nahe an der Seelpforte ruht neben der Rechtsame, daß, wer dieses Haus besitzt rasieren darf (wenn er nehmlich den Schick dazu hat) auch diese, daß bei der Vertheilung der Seelweckchen für 4 Batzen Semmeln dahin geschickt werden. Vielleicht war es die Wohnung jener Bäckersleute.

Jetzt noch soll zuweilen auf der Veßraer Brücke das verunglückte Mädchen in einem schneeweißen Gewande erscheinen, und ängstlich hin und her wandeln, als habe sie hier etwas zu suchen. Auch einen Reiter ohne Kopf will man da öfters gesehen haben. Von dieser Brücke heißt es noch, und es ist zum spöttischen Sprichwort geworden: wenn ein Mädchen keinen Mann bekommt, so muß sie die Veßraer Brücke scheuern, und den Fröschen warme Socken flicken.