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Trudchens Heirath

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Textdaten
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Autor: W. Heimburg
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Titel: Trudchens Heirath
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 21-32, S. 337-340, 353-360, 369-374, 385-390, 401-404, 417-423, 438-442, 453-456, 469-474, 485-488, 501-504, 517-520
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[337]

Trudchens Heirath.

Von W. Heimburg.


[„]Wahrhaftig, Franz, an Deiner Stelle wüßte ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte! Eine Erbschaft ist mir immer als das Ziel meiner Wünsche erschienen, aber wie mit jedem Dinge im menschlichen Leben – Alles mit Unterschied. Franz, wirklich, Du thust mir leid! Da hast Du nun etwas Ererbtes am Halse, an das Du nie gedacht hast, ein sogenanntes Gut, ein paar hundert Morgen Aeckerchen und Wiesen, etwas Wald, einen verwilderten Garten, ein vernachlässigtes Wohnhaus, als Inventar vier gallige spatlahme Andalusier, sechs spindeldürre Kühe, und eine Tante als Hauptsache, die das Gallige und Spindeldürre in ihrer angenehmen Persönlichkeit zu vereinigen scheint. Menschenkind, so ringe doch wenigstens die Hände oder schimpfe, oder thue irgend etwas dergleichen, aber stehe nicht so einher, wie die stummste Verzweiflung selbst!“

Amtsrichter Weishaupt richtete diese Worte im komischen Zorn an seinen gegenüber sitzenden Freund, den Assessor Linden. Vor ihnen auf dem Tische stand eine Rheinweinflasche nebst Gläsern, und auf dieser bereits geleerten Flasche hafteten die Augen des Angeredeten mit nachdenklichem Ausdruck, als könne er von der Etikette eine Antwort ablesen.

Es war ein großes Zimmer, in dem sich die Beiden befanden, eine Art Gartensaal, unendlich altmodisch und einfach ausgestattet mit zwei birkenen Eckschränken, wie sie zu Großmutterzeiten die jetzigen vornehmen Kredenztische vertraten und anstatt kostbarer Majoliken die vergoldeten buntbemalten Porcellantassen hinter ihren Glasscheiben sehen ließen, mit einem großen Sofa, dessen schwarzer Roßhaarbezug gar keinen Gedanken an ein behaglichmolliges Ruhestündchen aufkommen ließ; mit sechs rührend einfach konstruirten Rohrstühlen, die um den großen Tisch standen, und endlich mit mehr als zweifelhaften Familienportraits, unter denen besonders das Pastellbildniß einer blondgelockten jugendlichen Schönheit auffiel, deren unendlich kleiner Mund wie verlegen lächelte, als wollte sie sagen: „glaubt mir nur, ganz so dumm habe ich in Wirklichkeit nicht ausgesehen!“ Und über all dieses verbreiteten orangegelbe Fenstervorhänge ein eigenthümlich unangenehmes Licht.

Die Thür des Zimmers stand geöffnet und, wie entschädigend für alle Geschmacklosigkeiten, bot sich dem Auge eine wunderliebliche Aussicht. Hohe bewaldete Bergkuppen mit üppigem Laubwald bedeckt, dessen ernstes Grün der Herbst schon in leuchtende Farben verwandelt hatte, bildeten den Hintergrund; in nächster Nähe der Garten, malerisch genug in seiner Verwilderung; und hinter den Bäumen hervorschimmernd die rothen Ziegeldächer des Dorfes. Und das Ganze verschleiert von dem feinen Hauch eines Oktobermorgens, dessen die Sonne noch nicht Herr werden konnte. Mit der herben, reinen Luft aber wehte anmuthend der taktmäßige Schall der Dreschflegel herüber, die auf der Tenne des Gutes geschwungen wurden.

[338] Von der Weinflasche war das dunkle Auge des jungen Mannes hinausgeschweift; er sprang plötzlich empor und trat in die Thür.

„Und trotz alledem, Richard, es ist ein reizendes Fleckchen Erde,“ sagte er warm, „ich habe für Norddeutschland immer große Sympathien gehabt. Glaube nur, der Faust liest sich hier noch einmal so gut, wo der Brocken dort herüber schaut. Ich bitte Dich, krächze nicht mehr wie ein Unglücksrabe! Ich werde Frankfurt nie vergessen, aber auch nicht allzusehr vermissen – hoffe ich.“

„Na, Gott bewahre!“ scherzte der Kleine, noch immer mit dem leeren Weinglase spielend, „Du willst mir doch nicht weismachen –“

Aber Linden unterbrach ihn: „Ich will Dir gar nichts weismachen, ich will versuchen ein Landwirth zu werden, und ich will dies nicht nur, weil ich muß, Richard, mir ist wirklich in dem alten Neste ganz behaglich; ergo höre auf, mein Alterchen!“

„Na, Glück zu!“ erwiderte der Andere, neben den Freund tretend und fast zärtlich in das hübsche Männergesicht schauend. „Ich habe ja im Allgemeinen nichts einzuwenden gegen dieses Gutsbesitzerspiel, wenn ich nur wüßte wie und wo –. Siehst Du, Franz. wäre ich nicht solch ein armer Schlucker, ich sagte Dir sofort: ‚hier, mein Junge, hast Du ein Kapital von so und so viel; nun fange einmal an, das veraltete lotterige Ding in Zug zu bringen.‘ So, wie es jetzt ist, kann’s nicht bleiben. Aber – na, Du weißt,“ schloß er mit einem Seufzer.

Franz Linden hatte abermals keine Antwort, aber er pfiff leise eine lustige Melodie, wie er immer that, wenn er unangenehme Gedanken verscheuchen wollte.

„Ja, pfeife nur,“ murmelte der Kleine, „es wird die einzige Musik sein, die Du hier zu hören bekommst, oder etwa noch eine knarrende Stubenthür, oder das Koncert einer höchst respektablen Mäusefamilie, die sich in Deinem Zimmer angesiedelt hat. Brr – Franz! Jetzt denke Dir dieses einsame Nest im Winter – auf den Bergen Schnee, auf der Straße Schnee, im Garten Schnee und in der Luft weißes Gewimmel; – Herr Gott, was willst Du die langen Abende hindurch machen, an denen wir sonst im Taunus auf der Bockenheimer Gasse saßen, oder im Theater? Wer soll hier Skat mit Dir spielen? Für wen willst Du Deine vielbewunderten Gedichte machen? In der Dorfschenke werden sie sicher nicht verstanden. Ach, wenn ich Dich so ansehe, Du hier allein, versauernd, und Sorgen dazu!“

Er seufzte.

„Ich will Dir etwas sagen, Franz, Scherz in die Ecke,“ fuhr er fort. „Du wirst heirathen müssen! Und da gebe ich Dir den Rath, thue bei dieser Angelegenheit Deinen Idealen ein wenig Zwang an, sieh einmal ab von elfengleichem Wuchs, sinnigen Augen und holdester Weiblichkeit – zu Gunsten eines anderen Vorzuges, der durch nichts zu ersetzen ist in unserem prosaischen Leben; bringe mir kein armes Mädchen, Franz, und wäre sie die Perle aller Welttheile. In Deiner Lage würde es einfach Thorheit sein, eine Sünde an Dir, ihr und allen Deinen Nachkommen. Es schadet rein gar nichts, wenn Deine hübschen Reime nicht auf sie passen. Du wirst auch die Schönste nicht ewig andichten. Ja, lache nur!“

Er stiebte die Asche seiner Cigarre ab. „In Frankfurt – hättest Du ernstlich gewollt – war was zu machen. Aber Du hast Dich von den koketten Augen der kleinen Thea völlig blenden lassen. Wie oft habe ich mich damals geärgert! Wenn der Mensch über die Fünfundzwanzig hinaus ist, sollte er wahrhaftig vernünftiger werden!“

Franz Linden schwieg beharrlich, und der Kleine wußte sofort, daß er, wie er sich auszudrücken pflegte, in den Fetttopf getreten hatte bei ihm.

„Na, Franz, laß gut sein,“ scherzte er, „hier giebt’s vielleicht auch reiche Mädchen.“

„Ei gewiß, mein Herr, ei gewiß,“ klang es hinter ihnen, „reiche Mädchen und hübsche Mädchen; unsere alte Stadt ist von jeher dafür berühmt gewesen.“

Beide Herren wandten sich nach dem Sprecher um; der Amtsrichter nur um mit einem ärgerlichen Achselzucken sofort wieder in die Gegend hinaus zu schauen, Franz Linden um ihn höflich zu begrüßen.

„Ich bringe die gewünschten Notizen,“ fuhr der Eingetretene fort, ein kleiner Mann in den fünfziger Jahren mit einem unglaublich schmalen spitzen Gesichte, auf dem ein süßliches Lächeln spielte, devot in jeder Miene, jeder Bewegung.

„Ich danke sehr, Herr Wölff,“ sagte Franz Linden und nahm die Papiere.

„Wenn ich sonst noch dienen kann – Fräulein Rosalie wird bezeugen, daß ich dem verstorbenen Herrn Onkel stets ein dienstwilliger Freund gewesen.“

„Ich bin völlig fremd hier,“ erwiderte der junge Hausherr, „es kann wohl sein, daß ich Ihrer Hilfe bedarf.“

„Größte Ehre, Herr Linden! Ja, und wie gesagt, sollten Sie in der Stadt Bekanntschaften suchen – da sind die Tubmanns, die Schenks, die Meiers und Hellborns, und vor allem die Baumhagens; reiche und angenehme Häuser, Herr Linden – werden mit offenen Armen aufgenommen, ist immer Mangel an liebenswürdigen Kavalieren in der kleinen Stadt. Die Herren von der Kavallerie – Sie wissen schon – ein wenig oben hinaus, wollen sich lediglich amüsiren; – bin gern erbötig, falls Sie –“

Der Amtsrichter unterbrach ihn mit einem gewaltigen Räuspern. „Franz,“ sagte er trocken, „was ist das für ein Thurm dort drüben auf dem Berge? Du hast ja gestern die Generalstabskarte studirt.“

„Die Hubertushöhe,“ erwiderte der junge Mann, zu ihm tretend.

„Gehört dem Freiherrn von Lobersberg,“ mischte sich Herr Wolff ein.

„Interessirt mich gar nicht,“ murmelte der Amtsrichter und fixirte, in Ermangelung eines Fernrohres, den Thurm durch die hohle Hand.

„Ich habe die Ehre mich zu empfehlen,“ schnarrte Wolff, „muß noch hinüber nach Lobersberg.“

Der Amtsrichter nickte kurz, Linden begleitete den Agenten bis zur Thür und kam dann langsam zurück.

„Nun erkläre mir, bitte,“ fuhr der Freund auf ihn los, „wie kommst Du zu diesem Menschen – was sage ich – zu dieser Ratte, die sich so unaufgefordert in Deine Angelegenheiten drängt?“

Die dunklen Augen Franz Linden's sahen wie erstaunt in das ärgerliche Antlitz des Amtsrichters.

„Je nun, Richard, er ist des verstorbenen Onkels rechte Hand gewesen, so zu sagen, sein Faktotum, und schließlich – er darf wohl ein Wörtchen mitreden, da er leider Gottes eine große Hypothek auf Niendorf stehen hat.“

„Das berechtigt ihn noch nicht zu dem aufdringlichen Gebahren, welches der Mann Dir gegenüber entfaltet,“ sagte der Kleine.

„I, Kreisrichterchen,“ entschuldigte der junge Mann, „er hält mich für einen Neuling, fur einen Ignoranten in dem heiligen Getriebe einer Landwirthschaft. Du –“

„Und ich halte ihn für einen dunklen Ehrenmann! Und wenn wir uns wieder einmal sprechen, Goldsohn. wirst Du mir sagen: ‚Richard, weiß Gott, Du hattest Recht mit diesem Menschen, der Kerl ist ein Spitzbube!‘“

„Weißt Du,“ erklärte Franz Linden, zwischen Scherz und Ernst schwankend, „ich wollt', ich hätte Dich ruhig in Deiner Wohnung am Goethe-Platz gelassen. Du bist im Stande, mir mit Deinen morösen Ansichten Alles, Alles hier zu verekeln. Komm, wir wollen einen Gang machen durch den Garten, dann wird es leider Zeit sein, daß Du zur Bahn mußt, wenn Du allerwegen noch den Kurierzug erreichen willst.“

Er nahm des brummenden Freundes Arm und zog ihn mit sich, hinunter in die verschlungenen Wege, auf denen schon das welke Laub der Bäume lag.

„Ich bin überzeugt, der Kerl hat ein Heirathsbureau,“ murmelte ingrimmig der Amtsrichter.

Als sie um die Ecke eines verwilderten Bosketts gingen, sahen sie jenseit des kleinen ganz mit Wasserlinsen bedeckten Teiches eine alte Frau langsam dahin schreiten.

[339] „Ich bitte Dich um Gotteswillen,“ begann der Kleine wieder, „sieh Dir diese Gestalt an, diese Haube mit der ungeheuren Trauerschleife, dieses wunderliche Kleid mit einer Taille, die unter den Armen sitzt; und wie malerisch trägt sie den schwarzen Shawl; weiß der Himmel, sie hat einen rothen Parapluie! Goldsohn, den benutzt sie vermuthlich, um am ersten Mai auf Urlaub zu gehen, respektive zu reiten; brr – und das ist Deine einzige Gesellschaft!“

In der That, sie sah wunderlich aus, diese alte Frau, wie sie so voller Grandezza dahinwandelte, als sei eins der verblichenen Pastellbilder aus dem Gartensaal wieder lebendig geworden.

„Soll ich sie rufen?“ fragte lächelnd Franz Linden.

„Der Himmel bewahre uns!“ wehrte der Andere, „mir ist die Nähe des Blocksberges wirklich unheimlich, Dein Herr Wolff sieht aus wie Mephisto, und diese – nun, ich habe es eben angedeutet; sie ist eine peinliche Zugabe für Dich, Franz.“

Die wunderliche Frauengestalt war längst hinter den Büschen verschwunden, als der junge Mann endlich wie verloren antwortete: „Du siehst zu schwarz, Richard; in wiefern könnte dieses alte dem Grabe zuwankende Menschenkind lästig sein? Sie lebt förmlich verschollen in ihrem Erkerstübchen.“

„Nun, ich taxire sie darauf, daß sie Dich alle Augenblicke um etwas bitten wird; wenn sie friert, heizt der Ofen nicht gut, wenn sie Reißen hat, wirst Du ihr eine Katze schießen müssen; sie wird sich in Deine Angelegenheiten mengen, Deine Sachen verlegen und Dir zahllose kleine Verdrießlichkeiten bereiten. O, alte Tanten sind eigens dazu erfunden, ihre Mitmenschen zu quälen. Aber es schadet nichts, koche Du Dir nur einen recht großen Topf voll Zuckerguß und glasiere Alles damit. ’S wird nöthig sein. Ich glaube aber, Franz, es ist Zeit, der Kurierzug wartet nicht.“

Der Angeredete sah nach der Uhr, nickte mit dem Kopfe und ging eilig dem Hause zu, um das Anspannen zu bestellen.

Gedankenschwer folgte ihm der Freund; endlich stieß er ein halblautes „Donnerwetter!“ heraus. „So ein Bild von einem Jungen,“ raisonnirte er innerlich weiter, „soll hier Hungerpfoten saugen auf dieser Bauernklitsche? Was wird er überhaupt für eine Rolle spielen unter den reichen Grundbesitzern dieses gesegneten Landstriches? Hätte doch der Selige Gott weiß Wen zum Erben auserkoren, nur den nicht, soll sich’s auch noch zur Ehre schätzen! Was hätte er für Karrière machen können! Versauern und verbauern wird er hier, und diese – hole der Henker das ganze Niendorf! Hätte ich ihn nur wieder daheim im lustigen Frankfurt – O – es ist –“

Ein Viertelstündchen später saßen die Freunde in einem etwas altmodigen Gefährt und rollten der Kreisstadt zu. Hinter ihnen versank das stille Harzdörfchen und eine vielthürmige Stadt zeigte sich am Horizont ihren Blicken.

Allzu weit hatten sie nicht zu fahren, in Zeit einer Stunde war das Ziel erreicht, und der Wagen hielt vor dem stattlichen Bahnhofsgebäude. So schweigend wie sie gekommen, besorgten sie Billet und Gepäck, und erst auf dem Perron begann Linden zu sprechen.

„Grüß mir Frankfurt, Richard, und die Kollegen; schreibe mir auch einmal, wenn Du Zeit hast; sorge, daß ich meine Möbel und Bücher bald bekomme, und nun vielen Dank für Deine Begleitung nach hier!“

Der Amtsrichter machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Wollte Gott, ich könnte Dich mit zurücknehmen, Franz,“ sagte er beinahe weich, „Du glaubst nicht, wie Du mir fehlen wirst. Mit dem Schreiben ist das so so bei mir, Du kennst mich ja, Du bist fixer bei der Hand damit, wirst auch mehr Zeit haben –“

Das Pfeifen, das Rollen und Rasseln des heranbrausenden Kurierzuges schnitt ihm das Wort ab; er befand sich schon im nächsten Moment in einem Koupé.

„Adieu, Franz – komme noch einmal dicht heran, alter Junge – sieh, wenn Du in ernstlicher Verlegenheit bist, schreibe mir zuerst davon. Wenn ich auch selbst nicht in der Lage – Du weißt, meine Schwester ist in guter Assiette –“

Noch ein Händedruck, noch ein Blick in zwei ehrliche Männeraugen, und Franz Linden stand allein auf dem Bahnhofe. Langsam wandte er sich und schritt vom Perron hinunter seinem Wagen zu. Er hatte schon den Fuß auf dem Tritt, als er sich anders besann und dem Kutscher befahl im Hôtel auszuspannen, er habe in der Stadt zu thun.

Er war so völlig im Bann des unbehaglichen Gefühles, welches nach der Trennung von liebgewordenen Menschen das Herz erfüllt, daß er in keinesweges gehobener Stimmung die Straße zur Stadt hinabschritt. Am Eingange derselben bog er zur Seite und verfolgte einen menschenleeren Weg, der an der wohlerhaltenen alten Stadtmauer entlang führte. Wohin er wollte, wußte er selbst nicht; er hatte gar nichts hier zu suchen, er kannte keinen Menschen, aber er mußte sich doch etwas orientiren in seiner Nachbarstadt. Sie schien in der That ihren Ruf als alte deutsche Kaiserstadt zu rechtfertigen; trotzig lag das Schloß mit dem berühmten Dome auf steilem Fels; aus dem Gewirre rother spitzgiebliger Dächer ragte manch schlanker Kirchthurm empor, und wie ein fester Kranz umgaben noch heute Wall und Mauern die Altstadt, regelmäßig unterbrochen durch plumpe viereckige Wartthürme.

Er freute sich über das hübsche Bild; und wie er so dahin schritt, ließ seine Phantasie die prächtige Kaiserstadt aufwachen aus tausendjährigem Schlummer. Nach einem Weilchen blieb er stehen und sah zu einer der grauen Warten empor. „Wirklich, beinah wie das Eschenheimer Thor in Frankfurt,“ sagte er halblaut, „was für wunderliche Sprünge machen die Gedanken!“

Er befand sich plötzlich wieder mitten in der Gegenwart; noch vor kaum vier Wochen war er unter dem schönen Thor dahingegangen, ohne zu ahnen, daß er diesen Kollegen in Norddeutschland sobald schon begrüßen würde. Gleich einem Blitze aus heiterem Himmel war diese Erbschaft gekommen, die ihn zum Besitzer von Niendorf machte. Wie der alte Bruder seines Großvaters darauf verfallen, just ihn aus der ganzen zahlreichen Verwandtschaft zum Erben einzusetzen, es blieb fast ein Räthsel und ließ sich nur auf die besondere Zuneigung zu der Mutter des jungen Mannes zurückführen, die der alte Sonderling immer bevorzugt hatte.

Es war ihm aber beim Empfange der Nachricht gewesen, als falle ein goldener Regen in seinen Schoß; es lebt sich schlecht in einer Millionärstadt mit dem Einkommen eines Assessors. Und dann – er hatte in dem glänzenden verwirrenden Leben dort eine Herzenswunde empfangen, und die Narbe brannte zuweilen noch; das war, wenn an ihm eine elegante Equipage vorüberbrauste – schwarz die Pferde, schwarz mit Silber die Livréen und im mattgrauen Fond eine Frauengestalt, dunkle Straußfedern über dem marmorweißen Gesicht, goldigbraun der üppige Haarknoten im Nacken, und ach! so fremd ihn anblickend aus den großen blauen Augen. Er war dann verstimmt auf Tage nach solchem Begegnen. „Eine Modepuppe, ein herzloses Weib,“ nannte er sie bitter; aber er hatte doch einmal das Gegentheil geglaubt, ein ganzes Jahr lang, bis er eines Morgens ihre Verlobungsanzeigc in der Hand hielt. Sie heirathete einen Banquier, der ihr oft als Zielscheibe des Spottes gedient. Aber, mein Gott – er hatte eine Million!

Ja, wie gern war er gegangen aus ihrer Nähe, wie hatte er sich gefreut, das ganze Getriebe der großen Welt im Rücken zu haben, wie selig hatte er an die Mutter geschrieben, und was hatte er gefunden!

Aber gleichviel! Der Verwalter, den er vorläufig angenommen, schien ein tüchtiger Mensch; er selbst wollte sich in keiner Hinsicht schonen, und dann – Wolff. Er verstand wieder nicht, was Weishaupt an dem Manne auszusetzen fand.

Er wanderte schon längst durch belebte Gassen der Stadt; er hatte nach dem Hôtel gefragt, in dem sein Kutscher ausspannen wollte. Nun betrat er den Markt, in dessen Mitte der Roland steht. Ein stattliches Rathhaus im Renaissancestil erhob sich im Westen des Platzes, und ihm schlossen sich würdig hohe spitzgieblige Patricierhäuser an; einige mit Erkern geschmückt, einige stufenartig nach oben hinausgebaut, daß es aussah, als müßten sie das Uebergewicht bekommen. Nur zwei bis drei Gebäude waren neueren Ursprungs, und auch bei diesen hatte man sich augenscheinlich bemüht den mittelalterlichen Charakter festzuhalten.

Angenehm überrascht blieb Linden stehen, und sein Blick flog musternd über die Front des hohen Gebäudes, vor welchem er [340] zufällig Halt gemacht hatte. Drei mächtige Stockwerke thürmten sich auf einander; über der großen spitzbogigen Hausthür erhob sich ein zierlicher Erkerbau, der sich durch alle Etagen fortsetzte, um als stattlicher Thurm, sein Haupt mit einer Windfahne geschmückt, in den blauen Oktoberhimmel aufzuragen. In der Bel-Etage zeigten die durch Säulen getheilten Erkerfenster alterthümliche Butzenscheiben, jedenfalls war man dort „stilvoll“ eingerichtet. Im zweiten Stock aber schimmerten reiche Spitzengardinen hinter klaren hohen Glasscheiben, und ein Flor von Fuchsien und Nelken grüßte und nickte von den außen angebrachten Blumenbrettern herunter. Nur noch ein holdes Mädchenantlitz darüber, und das lieblichste Bild wäre gegeben.

Aber es zeigte sich nichts dergleichen, und noch einen Blick auf das kunstvolle Eisengeländer der Treppe werfend, wandte sich der aufmerksame Beschauer ab und schritt quer über den Markt dem Hôtel zu, um Mittag zu speisen. Da es schon eine späte Stunde, war er der einzige Gast in dem hübschen großen Speisesaal. So aß er ziemlich rasch und begann von Neuem die Straßen der Stadt zu durchwandern.

Hinter dem Rathhause kam er in ein Gewirr von engen und engsten Gäßchen, trat dann aber unter einem gewölbten Bogen unversehens hervor auf einen Platz, umstanden von hohen, halb entblätterten Lindenbänmen, welche ernst und feierlich eine mächtige Kirche zu bewachen schienen. Es war, als ob hier alles Leben erstorben sei, nur einige Kinder spielten zwischen dem welken Laube und eine alte Frau humpelte nach einem sonnigen Eckchen, sonst tiefste Ruhe rings umher.

Eine Seitenthür der Kirche stand geöffnet; er ging hinüber und trat ein in die schweigende Dämmerung des Gotteshauses; er nahm den Hut ab und betrachtete, überrascht von der edlen Einfachheit dieses Baues, die schlanken, doch kraftvoll aufstrebenden Pfeiler und das reiche Netzgewölbe des Chores. Dann schritt er den Mittelgang empor, zwischen den altersbraunen, kunstvoll geschnitzten Kirchenstühlen. Er freute sich darüber; er besaß lebhaftes Interesse für die schönen Formen der Renaissance, und er freute sich doppelt, weil er Aehnliches hier gar nicht gesucht. Dann hielt er plötzlich seine hallenden Schritte an; – dort am Taufsteine, über welchem mit ausgebreiteten Flügeln die weiße Taube schwebte, erblickte er drei Frauen. Zwei derselben schienen geringen Standes, die Aeltere, vermuthlich die Hebamme, hielt den Täufling in beständig schaukelnder Bewegung, die Andere, im einfachen schwarzen Wollenkleide und Umschlagetuch, ein junges Weib, schaute mit verweinten Augen auf das Kind, eine Dritte hatte sich herniedergebeugt zu demselben; der Kirchendiener, der eben das Wasser in das Taufbecken goß, verdeckte sie augenblicklich völlig, und Linden sah nur die Schleppe eines dunklen seidenen Kleides auf dem Sandsteinboden.

Und jetzt tönte eine weiche biegsame Frauenstimme in sein Ohr: „Weinen Sie nicht soviel, meine gute Johanne, Sie werden noch recht viel Freude haben an dem kleinen Würmchen – weinen Sie doch nicht! – Lieber Engelmann, benachrichtigen Sie den Herrn Oberprediger – meine Schwester scheint nicht zu kommen, sie wird Abhaltung haben; wir wollen nicht länger warten.“

Die Sprecherin wandte sich nach der Mutter, und Franz Linden sah nun voll in ein junges Mädchenantlitz. Ja, es war nicht eigentlich schön, dieses schmale Oval, von goldig braunem üppigen Haare überschattet, zu blaß der Teint, zu traurig der Ausdruck, den die etwas herabgezogenen Mundwinkel noch verschärften, aber unter den fein gezeichneten wenig geschwungenen Brauen sahen ein Paar tiefe blaue Augen ihn an, klar wie die eines Kindes, bittend und fragend, wie Frieden heischend für die heilige Handlung.

Es mochte wohl oft vorkommen, daß Fremde in die schöne Kirche eintraten und dadurch Störung veranlaßten – so glaubte wenigstens Franz Linden den Blick zu verstehen. Athemlos still verharrte er nun an den alten Kirchenstuhl gelehnt, und seine Augen folgten jeder Bewegung der schlanken Mädchengestalt, wie sie jetzt das Kind in die Arme nahm und zu dem Geistlichen trat.

„Herr Oberprediger,“ klang die weiche Stimme, „Sie müssen mit einem Taufzeugen vorlieb nehmen, meine Schwester ist leider ausgeblieben.“

Der Geistliche hob den Kopf. „Dann könnten Sie wohl, liebe Schmidt“ – er winkte der älteren Frau zu.

Franz Linden stand plötzlich vor dem Taufsteine neben dem jungen Mädchen; er wußte selbst nicht, wie er so rasch dahin gekommen.

„Gestatten Sie mir diese zweite Pathenstelle,“ sprach er. „Ich kam zufällig in die Kirche, ein landfremder Mensch; ich möchte die erste Gelegenheit, in meiner neuen Heimath Christenpflicht zu üben, nicht versäumen.“

Er war einem momentanen Impuls gefolgt, und er wurde verstanden. Der greise Prediger nickte lächelnd. „Es ist ein armes, früh vaterlos gewordenes Kind, mein Herr,“ erwiderte er, „vier Wochen vor seiner Geburt verunglückte der Vater – Sie thun ein gutes Werk. – Ist es Ihnen, liebe Frau, recht?“ wandte er sich zu der Mutter. „Nun schön – Engelmann, so tragen Sie den Namen des Herrn Pathen in das Kirchenbuch ein.“

„Karl Max Franz Linden,“ sagte der junge Mann.

Und nun standen sie zusammen vor dem Prediger, die Beiden, die vor einer Viertelstunde noch keine Ahnung von einander gehabt; sie hielt das schlummernde Kind in den Armen, sie hatte nicht empor gesehen, das lebhafte Roth der Ueberraschung brannte noch auf dem zarten Gesichte und das einfache Spitzchen an dem Kissen des Täuflings zitterte leise.

Es waren nur wenig Worte, die der Geistliche sprach; wunderbar klangen sie nach in Beider Herzen. Linden sah herab auf das brauue, tief gesenkte Haupt neben sich, dann lagen zwei Hände auf dem ärmlichen Bettchen des Täuflings, zwei warme junge Menschenhände dicht neben einander, und von Beider Lippen kam ein helles klares „Ja“, die Frage des Geistlichen beantwortend. Als die Ceremonie vorüber, trug das Mädchen der weinenden Mutter das Kind zu und drückte einen Kuß auf das kleine rothe Gesichtchen, dann kam sie hinüber zu Linden, und ihre Augen blickten ihn an mit einem Gemisch von Verwunderung und Dankbarkeit.

„Ich danke Ihnen, mein Herr,“ sprach sie und legte einen Moment die schmale Hand in seine Rechte, „ich danke Ihnen im Namen der armen Frau – es war so gut von Ihnen!“

Dann ein unnachahmlich stolzes Neigen des kleinen Kopfes, und sie ging, leise umrauscht von der schweren Seide ihres Kleides. Dort unten an der Pforte im hellen Scheine des hereinbrechenden Tageslichtes sah sie noch einmal zu ihm hinüber, der regungslos am Taufsteine geblieben, um ihr nachzuschauen, es war, als senke sie nochmals grüßend das blasse Antlitz, dann war sie verschwunden.

Franz Linden war allein in der stillen Kirche zurückgeblieben. Wer mochte sie sein, die da eben neben ihm gestanden? Ein leises Klingeln ließ ihn sich umsehen; der Küster mit dem Schlüsselbunde trat aus der Sakristei.

„Sie wollen zuschließen, alter Freund?“ sagte er, „ich gehe schon.“ Dann, wie sich besinnend, kam er ein paar Schritte zurück. „Wer war die junge Dame?“ wollte er fragen, aber er brachte es nicht über die Lippen, er betrachtete nur angelegentlich die in glühenden Farben schimmernden Glasmalereien der hohen Fenster.

„Die sind einzig schön,“ lobte der Küster, „und werden immer sehr bewundert; das dort ist von 1511, der Auszug der Kinder Israels, ein Geschenk der Aebtissin Anna vom Schlosse droben. Sie soll, wie man sagt, eine Vorliebe für diese Kirche gehabt haben, ist auch die schönste weit und breit herum, unsere Benedikti-Kirche.“

Franz Linden nickte. „Da mögen Sie Recht haben,“ sagte er zerstreut. Dann händigte er dem Manne eine kleine Summe ein für den Täufling und schritt hinaus.

Bald darauf rollte sein Wagen der Heimath zu. Dunkel hoben sich die Umrisse des Gebirges vom leuchtend rothen Abendhimmel, und immer näher rückte der Kirchthurm von Niendorf. Es war nichts Fremdes mehr um ihn wie heute früh noch, das erste leise wonnige Bewußtsein des Heimathgefühles zog in sein Herz. Auf der Höhe wandte er sich noch einmal und sah nach der Stadt zurück, wie läugst bekannt grüßte ihn das alte Schloß – und horch! Da kam im Abendwinde ein verlorner Glockenklang herübergeweht; vielleicht vom Sankt Benedikti-Thurm?

[353] Trudchen Baumhagen war rasch über den stillen Kirchplatz geschritten, hatte in der gegenüber liegenden Mauer eine Pforte geöffnet und stand nun auf väterlichem Boden. Ziemlich eilig ging sie durch die mit hohem Buchs eingefaßten Wege des im altfranzösischen Stile angelegten Gartens und über einen stillen geräumigen Hof in das Haus. Auf dem großen gewölbten Flur traf sie ihren Schwager neben einem hohen Velociped stehend; er war sehr elegant und nach neuester Mode gekleidet, auf der blauen Kravatte funkelte ein köstlicher Brillant, ebenso an der feinen Hand. Er war blond, hatte rosige Gesichtsfarbe und einen kleinen Schnurrbart über der Oberlippe, und mochte etwa dreißig Jahre zählen. Ein Diener war beschäftigt, den glänzenden Stahl des Vehikels mit einem Lederlappen abzureiben.

„Nun,“ fragte das junge Mädchen freundlich, „willst Du ausreiten, Arthur?“

„Ausreißen, meinst Du, Trudchen? Ja, ja, was soll man anfangen!“ gab er verdrießlich zur Antwort. „Jenny hat ja heute ausnahmsweise wieder einmal einen Damenthee arrangirt – was soll ich da? Ich fahre mit Karl Röben nach Bodenstedt – sehe Jeder, wo er bleibe.“

„Ich will eben einmal hinauf zu Euch,“ nickte das Mädchen, „ich bin böse auf Jenny und will sie schelten.“

„Na, wenn Du nur nicht den Kürzeren ziehst, theuerste Schwägerin,“ rief Arthur Fredrich lachend.

Sie schüttelte ernsthaft den Kopf und stieg die breite Treppe empor, deren dunkles geschnitztes Geländer gut harmonirte mit dem purpurrothen Smyrnateppich, welcher die Stufen verdeckte, durch blitzende Messingstäbe festgehalten. Riesige Lorbeerbäume in Kübeln standen zu beiden Seiten der hohen Entréethür, die in den ersten Stock führte; links davon setzte sich die Treppe zur oberen Etage fort. Trudchen Baumhagen drückte auf den Knopf der elektrischen Klingel, und gleich darauf öffnete ein Dienstmädchen in blendend weißer Schürze, und eine helle Stimme rief:

„Ja wohl, ja wohl, ich bin zu Hause – Du kommst wie gerufen, Trudchen!“

In dem großen Vorflur, der zu einer sogenannten altdeutschen Diele umgewandelt war, stand an einem prächtigen Kredenztische eine junge Frau, beschäftigt, allerhand Silbersachen aus dem geöffneten Schranke zu nehmen. Sie trug ein winziges Spitzenhäubchen auf dem mattblonden Haare und ein Hauskleid aus hellblauem feinen Wollstoffe, verschwenderisch mit Spitzen garnirt. Sehr hübsch war sie, diese junge Frau, selbst jetzt, wo sie eine schmollende Miene annahm; ähnlich aber sahen sich die Schwestern durchaus nicht.

„Du bist ja noch gar nicht in Toilette, Jenny?“ fragte das junge Mädchen. „Da hätte ich freilich lange warten können in der Kirche; es war recht peinlich, daß Du nicht kamst.“

Die kleine Frau hielt inne und setzte den Krystallkorb, den [354] zwei massiv silberne Schlangen umringelten, bestürzt nieder; dann schlug sie die Hände in einander und begann herzhaft zu lachen.

„Siehst Du! Siehst Du!“ rief sie, „den ganzen Tag bin ich im Hause umhergegangen mit dem Bewußtsein, daß ich irgend etwas noch zu besorgen hätte – und ich konnte mich nicht besinnen; nein, das ist zum Todtlachen! – Karoline, Sie hätten mich doch erinnern können!“ wandte sie sich an das Mädchen, das eben eine kostbare altdeutsche Leinendecke über den massiven Eichentisch in der Mitte des Raumes ausbreitete.

„Frau Fredrich legten sich doch schlafen und sagten ausdrücklich, ich solle vor vier Uhr nicht wecken,“ rechtfertigte sich die Dienerin.

„Na ja!“ gähnte die junge Frau, „ich war so müde, Monsieur war schlechter Laune und der Kleine so entsetzlich lebhaft; es ist ja auch kein Malheur, das Ganze läuft auf eine Bettelei hinaus. Ich kann ihr ja morgen noch etwas hinschicken.“

„Aber Jenny! Hast Du denn vergessen, daß Johanne erst auf mein Zureden gewagt hat, Dich und mich zu Pathen zu bitten? Ich dächte, es wäre Pflicht gewesen – der Mann ist in unserer Fabrik verunglückt.“

„Ach papperlapapp, Liebchen! Ich kann dieses ewige Gevatterbitten nicht leiden!“ fiel Frau Jenny ein. „Wenn ich nicht schon drei Dutzend Pathenkinder habe, will ich nicht hier stehen – arme Leute werden nicht dazu verlangt, glaube mir. Komm, ich bin jetzt hier fertig, wir wollen ein wenig in die Kinderstube, oder“ – sie warf einen Blick auf die alterthümliche Wanduhr – „was noch besser ist, Mama hat sich Proben schicken lassen für Gesellschaftstoiletten – warte, ich komme mit hinauf, anderthalb Stunden haben wir noch Zeit, bis die Damen erscheinen.“

Sie drehte sich noch einmal anmuthig im Kreise, wie um ihre Vorbereitungen zu mustern. Der Kredenztisch prangte in silbernen Gefäßen, im Kamine flackerte ein leichtes Feuer, die mächtigen Kronleuchter, sowie die Gueridons vor den hohen Spiegeln waren mit dunkelrothen gewundenen Kerzen besteckt, und als Karoline eben die buntgewirkten schweren Vorhänge zurückschlug, wurde ein fast zu üppiger Raum sichtbar, ein wahres Purpurzimmer; selbst durch die buntgemalten Erkerfenster warf der Abendschein noch rothe Reflexe auf dieses Gewirr von Sesseln und Sesselchen, Chaiselongues und Tischchen, während vor dem ernsten Grün kostbarer Blattpflanzen sich weiße Figuren leuchtend emporhoben.

„Es sieht gemüthlich aus, Trudchen, wie?“ sagte die junge Frau; „ich habe den Saal nicht offnen lassen, weil wir ja nur ein paar Damen sind. Die Landräthin hat vorhin noch zugesagt; kommst Du auf ein Stündchen?“

„Ich danke!“ versetzte das junge Mädchen, neben der Schwester zur mütterlichen Wohnnug emporsteigend, „schicke mir den Kleinen ein wenig zu, ich spiele so gern mit ihm.“

„Gewiß, der Gentleman soll erscheinen,“ nickte Frau Jenny, „vorausgesetzt, daß er nicht wie ein kleines Murmelthier schläst.“

„Geh’ hinein zur Mama,“ bat Trudchen, „ich will mich nur umziehen, dann komme ich.“

Es waren die nämlichen Räume wie im unteren Gestock, ebenfalls reich möblirt, aber nicht in der neuen stilvollen Weise, wenngleich nicht minder vornehm und behaglich. Die Schwestern trennten sich im Vorzimmer, und Trudchen Baumhagen suchte ihre Stube auf. Sie bewohnte das Gemach mit dem Erker, aber hier brach das Tageslicht nicht durch kostbare bunte Glasmalereien, es konnte ungehindert durch die Spiegelscheiben fluthen, vor denen draußen im leisen Westwind unzählige Blumenkelche schwankten. Gerade gegenüber erhoben sich die Giebel des Rathhauses, wie luftige Spitzengewebe zeichneten sich die dnrchbrochenen Sandsteinverzierungen von dem rothglühenden Abendhimmel ab. Er war ein unendlich anmuthiges Plätzchen, dieser Erker; der Nähtisch befand sich hier und hinter diesem auf einer Staffelei das Bild des verstorbenen Herrn Baumhagen. Beim ersten Blicke mußte man die Aehnlichkeit zwischen Vater und Tochter erkennen; dasselbe lichtbraune Haar, die kräftige Stirn, die kurze schmale Nase, und dann die Augen. Sie war auch immer sein Liebling gewesen und sie sorgte, daß stets eine frische Blume in dem goldenen Blattwerke des Rahmens steckte. Und wenn sie bei der Arbeit saß, dann ruhten zuweilen die Hände und ihre Augen suchten das Bild, „guter, guter Papa!“ pflegte sie dann hinüber zu flüstern, als müsse er es verstehen.

Auch heute schritt sie rasch zum Erker hinüber und schaute lange das Bild an. „Das hättest Du auch gethan,“ sagte sie leise, „nicht wahr, Papa?“ – Es lag plötzlich ein ernster Ausdruck in den zwei Mädchenaugen, etwas wie grenzenlose Sehnsucht. „Nein, Alle sind sie nicht so wie Mama und Jenny, es giebt noch warme Menschenherzen, es giebt noch Herzen, die Mitleid haben mit fremder Noth, denen das verhaßte –“ Sie stockte plötzlich, ihre schmalen Hände hatten sich geballt, und nun funkelten die Augen in Thränen.

Sie begann im Zimmer auf- und abzuschreiten, der weiche Teppich dämpfte den leisen Tritt zwar bis zur Unhörbarkeit, aber die schwere Seide rauschte hinter ihr drein, aufregend und beängstigend. Welche Demüthigungen brachte ihr täglich und stündlich die Thatsache, daß sie ein reiches Mädchen! Alles, Alles sollte sie dem Umstande verdanken, daß sie Geld besaß. Jenny hatte ihr ja eben erst wieder erklärt, daß sie nur Pathe geworden, weil – Ach, das war egal, das wußte sie besser; Johanne war zu bescheiden. Aber das Andere hatte sie noch nicht verwunden. Da war vor einer Woche Manöver in der Umgegend gewesen, und ein Oberst mit dem Adjutanten hatte zwei Tage im Baumhagen’schen Hause in Quartier gelegen. Sie erinnerte sich in der That nicht, daß sie mehr mit Letzterem gesprochen als einige alltägliche Worte, und vierundzwanzig Stunden, nachdem die Truppen die Stadt verlassen – gestern – lag ein Brief vor ihr, angefüllt mit den glühendsten Liebesversicherungen und der Bitte um ihre Hand. Sie hatte das Schreiben genommen und war hinübergegangen zur Mutter, am ihr das Schriftstück zu übergeben mit den Worten: „Es will da Einer mein Geld heirathen! Schreib Du ihm Antwort, Mama, ich kann es nicht.“

Nun bangte ihr vor der Erörterung dieses Schreibens. Sie fürchtete nicht, daß die Mutter ihr zureden würde – nein, nein, sie war stets selbständig genug gewesen, um von vorn herein ihr Empfinden nicht einem fremden Willen unterzuordnen; aber man sprach doch darüber, und wie unendlich weit gingen die Wege aus einander zwischen Mutter und Kind!

Sie schrak zusammen; die Thür war aufgegangen und die Stimme der Schwester rief: „Aber so komm doch, Trudchen, ich kann mich gar nicht zu dem modernen Roth entschließen!“

Das Mädchen schritt hinüber und stand gleich darauf in dem Salon vor ihrer Mutter, einer kleinen Dame mit fast zu rosigem Gesichte und einem unendlich eigensinnigen Zuge um den vollen Mund. Auf dem Sofa unter der großen Schweizerlandschaft, dem Bilde eines berühmten Düsseldorfer Meisters – Frau Baumhagen pflegte mit Genugthuung zu erzählen, daß sie zweitausend Mark dafür bezahlt habe – saß sie und wühlte mit ihren rundlichen kleinen Händen, an denen es von Brillanten blitzte, in einer Menge Stoffproben.

„Gertrud,“ rief sie, „das wäre für Dich!“ Und sie hielt ihr ein blaues Zeugfleckchen hin. „Schade, daß Ihr so ungleich seid, es ist sonst so hübsch, wenn zwei Schwestern egal gekleidet sind.“

„Was sich für eine Frau paßt,“ erklärte Frau Jenny, „schickt sich nicht für ein Mädchen. Trudchen soll machen, daß sie unter die Haube kommt, sie ist zwanzig Jahre.“

„Ach. da fällt mir ein,“ die Mama suchte noch immer unter den Proben während des Sprechens, „da ist noch der Brief von Deinem letzten Freier, ich muß ihm ja wohl antworten – was soll man denn da wieder schreiben? Sieh ’mal, Jenny, das ist niedlich, dieser braune Grund mit den blauen Tupfen, nicht?“ unterbrach sie sich – „es ist eigentlich recht lästig, solche Briefe beantworten zu müssen, warum thust Du es nicht selbst?“

„Ich fürchte, daß mein Schreiben nicht objektiv genug ausfallen würde,“ erwiderte das Mädchen ruhig.

„Interessirst Du Dich denn für ihn?“ forschte die Schwester.

Das junge Mädchen überhörte die Frage. „Ich glaubte bitter zu werden, und es bedarf ja doch nur einer rein geschäftlichen Antwort, wie die Anfrage ja auch nur eine rein geschäftliche ist.“

„Du bist himmlisch!“ lachte die junge Frau. „O wie schade, daß Du nicht im Mittelalter gelebt hast, wo der Ritter erst so und so viele Liebesproben bestehen mußte –! Närrchen, lerne doch nur die Welt begreifen! Denkst Du, Arthur hätte mich geheirathet, wenn ich kein Geld hatte? Ich versichere Dich, er hätte nie daran gedacht! Und glaubst Du, daß ich ihn genommen, wenn ich nicht wußte. er wäre in guten Verhältnissen? – Gott [355] behüte, nein! Und was willst Du denn von uns, wir siud relativ ganz glückliche Eheleute.“

Trudchen sah ihre Schwester überrascht und fragend aus den großen blauen Augen an. „Relativ glücklich!“ wiederholte sie leise. „Mein Gott, ja, er hat seine Schrullen – darüber kommt man hinweg,“ erklärte die Schwester.

„Nur keine Meinungsverschiedenheiten heute, bitte,“ sagte Frau Baumhagen und nahm das Pincenez von dem stumpfen Näschen; „ich werde übrigens schreiben, dafür bin ich Deine Mutter.“ Sie seufzte. „Aber in diesem Punkte möchte ich Jenny doch Recht geben; Gertrud, Du siehst die Welt mit gar zu idealen Augen an. Wohin so etwas führt – wir haben es Alle gesehen.“ Wieder ein Seufzer. „Ich will Dir nicht zureden, ich habe auch Jenny nicht zugeredet, das wißt Ihr ja Beide. Ich, für meine Person, hätte nichts gegen diesen Herrn von – von –“ sie fand den Namen nicht gleich „einzuwenden.“

Das junge Mädchen lächelte, aber die Augen blickten fast verächtlich. „Seine Adresse ist mit vollster Deutlichkeit in dem Briefe angegeben,“ sagte sie.

„Es eilt doch nicht gar so sehr?“ fuhr die Mutter fort. „Ich habe heut Abend meine Whistpartie; wenn ich nicht pünktlich komme, muß ich Strafe zahlen; überhaupt bin ich nicht zum Schreiben aufgelegt.“ Sie gähnte leise. „Die Abende werden doch schon recht lang jetzt – weißt Du auch, Jenny, daß eine Operettentruppe herkommt?“

Die junge Frau bejahte und fügte hinzu, sie müsse nun Toilette machen. „Gute Nacht!“ rief sie fröhlich schon an der Stubenthür, „wir sehen uns doch wohl heute nicht mehr!“

„Gute Nacht, Mama!“ sagte auch Trudchen.

„Gehst Du zu Jenny hinunter?“ erkundigte sich Frau Baumhagen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

„Was fängst Du denn an den ganzen Abend?“

„Ich weiß noch nicht, Mama; ich habe allerhand zu thun, vielleicht lese ich auch.“

„So! Nun gute Nacht, mein Kind!“ Sie winkte mit der Hand und Trudchen ging. Sie vertauschte in ihrer Schlafstube das seidene Kleid, das sie noch immer trug, mit einem weichen wollenen Hauskleid, dann kam sie wieder in ihr hübsches Wohnzimmer. Schon war es dämmerig geworden und unten auf der Straße wurden die Laternen angezündet; sie stand im Erker und sah, wie eine Flamme nach der andern aufsprühte und wie die Fenster der Häuser sich erhellten; selbst die Hökerfrau, die sich im Schutz des Rolands angesiedelt, steckte ihr Laternchen an unter dem riesigen dachartigen Leinwandschirm. Trudchen kannte dies Alles so genau; so war es gewesen da draußen, als sie noch ein kleines Mädchen, und so ist es jetzt, – nur hier innen ward es anders, so ganz anders.

Wo waren die Abende, an denen sie neben dem Vater gesessen, wo die traute Behaglichkeit? Mit in den schwarzen Sarg mußte sie sich geborgen haben, denn von jenem entsetzlichen Tage an, wo man den Vater hinausgetragen, blieb es leer und kalt, im Hause und in des Mädchens Herz. Er war so krank gewesen, der Papa, so tiefsinnig; es sei ein Glück, daß es so gekommen, sagten die Leute zu der Wittwe, die im leidenschaftlichen Schmerz förmlich wüthete, aber sie war doch gleich auf Reisen gegangen mit Jenny und den Winter hindurch in Nizza verblieben. Trudchen hatte nicht mit gewollt, durchaus nicht; ihre Augen, die solch Elend geschaut, hätten nicht hinaussehen mögen in Gottes lachende Welt, ihre erschütterten Nerven nicht das bunte Treiben da draußen ertragen. Sie hatte hausgehalten mit einer alten Verwandten; Tante Louischen schlief beiuahe den ganzen Tag – wenn sie nicht aß oder Kaffee trank, und da hatte das junge Herz alle Qualen der Einsamkeit kennen gelernt. Krank war sie gewesen an Körper und Geist, und als Mutter und Schwester zurückkehrten, da lernte sie, daß man auch unter Menschen einsam sein kann; und einsam war sie geblieben bis heute, herzenseinsam und arm an Freuden.

Sie hatte, von Sehnsucht getrieben, immer und immer wieder tapfer versucht, eine Entschuldigung für die Mutter zu finden, sich wenigstens etwas ihrer Lebensanschauung anzupassen; sie hatte sich mitschleifen lassen in den Trubel der Geselligkeit, den die lebenslustige Frau, nach beendeter Trauerzeit, um sich verbreitete; sie hatte versucht, sich einzureden, die Koncerte, Bälle und Alles, was darum und daran hing, machten ihr wirklich Vergnügen, füllten ihr Herz aus; aber ihr Rechtlichkeitsgefühl sträubte sich gegen diese Selbstlüge. Sie begann zu grübeln über die Leerheit, die sie umgab, über dieses und jenes Gespräch, über das ganze Treiben um sie her; und es ward ihr immer unverständlicher. Sie begriff nicht, wie man sich so köstlich amüsiren konnte über Sachen, die ihr kaum beachtenswerth erschienen. Die Kunst, das Leben tändelnd zu durchflattern, von allen seinen Reizen den Schaum zu schlürfen, wie Jenny es that, verstand sie nicht, es waren eben alles Dinge, die sie nicht berührten. Die ausgesuchtesten Toiletten auf den Bällen zu tragen, auf Reisen in den theuersten Hôtels zu wohnen, mit den feinsten Menüs zu excelliren – es lohnte sich doch der Mühe nicht, darüber nachzudenken. Einmal hatte sie gebeten, ob sie nicht wie sonst, als der Papa noch lebte, an den Abenden, die man allein verbrachte, vorlesen dürfe? Sie war, nach erhaltener Erlaubniß, freudestrahlend mit dem „Ekkehard“ herüber gekommen, das letzte Buch, welches der Vater ihr geschenkt. Mit hochrothen Wangen hatte sie gelesen und gelesen, als sie aber unversehens aufschaute, da saß Jenny und betrachtete angelegentlichst die neueste Nummer der Modenzeitung, und Mama schlief. Sie hatte kein Wort gesagt, aber vorgelesen nie wieder.

Ein paar große Thränen rannen ihr plötzlich über die Wangen. Es war wieder eine jener Stunden über sie gekommen, in denen sie wie verzweifelnd die Arme nach einer Seele ausstreckte, die sie verstand, die sie ein bischen, nur ein bischen lieb hatte um ihrer selbst willen. Sie war so mißtrauisch, so unendlich mißtrauisch geworden, daß sie Alles, was Fremde ihr entgegenbrachten an Freundlichkeiten, ihren äußeren Glücksgütern, der Stellung, die ihr Haus in der Gesellschaft einnahm, zuschrieb. Sie war sich völlig bewußt, daß sie schroff und unliebenswürdig sei, geflissentlich bis zur Rücksichtslosigkeit; die Menschen sollten nicht wissen, wie arm sie sich fühlte. Sie brauchten nicht zu ahnen, daß sie die Hände ineinander wand und fragte: „Was soll ich? Wozu lebe ich?“ Sie hatte die Arbeitslust, den Drang zu nützen, vom Vater geerbt – jeder tüchtige Mensch will schaffen, will beglücken und glücklich sein; auf ihr lag das Dasein wie eine Last, es war so ekel, so schal, so erfüllt von kleinlichen Interessen.

Sie trocknete rasch eine Thräne und wandte sich um; die Thür hatte sich geöffnet, und eine alte Dienerin trat ein.

„Sie vergessen wieder das Abendbrot, Fräulein Trudchen,“ begann sie vorwurfsvoll. „Im Speisezimmer ist Alles bereit; ich habe den Thee eingegossen, damit er ein wenig verkühlt, aber nun müssen Sie auch kommen.“

Das junge Mädchen dankte freundlich und folgte. Nach ganz kurzer Zeit kam sie zurück; es schmeckte nicht so allein. Sie zündete die Lampe an und nahm ein Buch und las. Auf der Straße war es allmählich still geworden, von St. Benedikti schlug es Viertelstunde auf Viertelstunde, endlich elf Uhr: unten fuhr ein Wagen vor – Mama kam nach Hause.

Trudchen schloß das Buch, es war Schlafenszeit. Nun ging die Entréethür, jetzt Schritte vorüber an Trudchens Zimmer, nein, doch nicht – man kam herein.

Frau Baumhagen trug noch das schwarze spanische Spitzentuch über dem Kopf; sie wollte ihre Tochter nur fragen, was denn das eigentlich für eine „gelungene Geschichte“ in der Kirche heute Nachmittag gewesen sei? Die Frau Oberprediger habe ihr von einem seltsamen Herrn Gevatter erzählt: der Herr Pastor sei ganz erfüllt davon nach Hause gekommen.

„Jenny blieb aus,“ erklärte das junge Mädchen, „da meldete sich ein fremder Herr.“

„Aber wie entsetzlich zudringlich!“ rief die erregte kleine Frau, „Du hättest zurücktreten müssen, Kind; wer weiß, was es für ein Subjekt ist!“

„Ich kenne ihn nicht, Mama. Aber, wer es auch sei, er hat so menschlich gut gehandelt; er dachte jedenfalls nicht, daß man seine Freundlichkeit anders auffassen konnte.“

„Siehst Du,“ klagte Frau Baumhagen, „so ist es mit Dir! Dergleichen imponirt Dir, Trudchen – wirklich, mir wird angst um Dich! Weißt Du auch, daß der Herr von Löwenberg – nun erinnere ich mich des Namens – entfernt verwandt ist mit dem herzoglichen Hause von A.? Die Frau von S … kennt die ganze Familie, es sollen Alle charmante Menschen sein. Aber ich will Dir nicht zureden, ich sage Dir dies nur so beiläufig. [358] Zu morgen hat die Stadträthin eingeladen, meldet mir Sophie eben; man hat ja keinen Tag für sich; da kommst Du wohl mit? Es ist wegen des Stiftungsfestes; Ihr jungen Mädchen sollt etwas aufführen.

Bei Jenny war noch Licht,“ fuhr sie fort, ohne sich durch das Schweigen der Tochter beirren zu lassen. „Arthur ist mit Karl Röben zurückgekommen, der seine junge Frau abholen will; und eben kam Line mit Champagner aus dem Keller. Ich bitte Dich, erzähle nur Niemand von der Kirchenscene heute, ich habe auch die Oberpredigerin darum gebeten. Gute Nacht, mein Kind – der Thee war natürlich wieder nicht zu genießen bei der guten S.“

„Gute Nacht, Mama,“ erwiderte Trudchen. Sie nahm die Lampe und trat noch einmal vor des Vaters Bild, dann suchte sie ihr Lager auf. Aus halbem Schlummer erwachte sie jäh, sie hatte so deutlich die Stimme vernommen, die sie heute in der Kirche zum ersten Male gehört; mit raschem Herzschlag saß sie empor. Nein, es war kein Traum gewesen, was sie heute erlebt! Wie ein Sonnenblick fiel das freundliche Thun des Unbekannten in diese Welt voll Egoismus und Herzlosigkeit. Und nun blieb sie lange wachend.




Ueber das Gebirge zogen die Stürme des Spätherbstes, wehten Regenschauer aus grauen fliegenden Wolken und schlugen prasselnd auf die welken Blätter des Waldes und gegen die Fenster der Menschenwohnungen. Franz Linden saß am Schreibtische in dem Zimmer, das er sich im oberen Stock eingerichtet hatte, und seine Blicke flogen über die entlaubten Wipfel des Gartens zu den Bergen hinüber. So behaglich es bei einem Junggesellen nur sein kann, war es um ihn her; Bücher- und Gewehrschränke, prasselndes Feuer im Kachelofen, gute Bilder an den Wänden, der leichte Duft einer feinen Cigarre, und trotzdem war es ein gar nicht zufriedener Ausdruck, der auf seinem hübschen Gesichte lag.

Einen großen Bogen voller Zahlen schob jetzt seine Hand beiseite und ergriff dafür ein Briefblatt, auf dem er rasch zu schreiben begann:

 „Mein alter Amtsrichter!

Wie würdest Du hohnlachen, könntest Du mich sehen in meiner deprimirten Stimmung! Draußen regnet es und hier innen strömt die Fluth von tausend verdrießlichen Gedanken auf mich ein. Ich bin dahinter gekommen, daß Landwirth zu spielen wohl nur dann eine Freude ist, wenn man ein großes Portemonnaie sein eigen nennt. Die Ausgaben wachsen mir fast über den Kopf, Alles möchte erneut werden; na, das ist nun so, aber ich will Dir nichts vorklagen, ich habe anderseits unendliche Freude daran: ich kann Dir nicht beschreiben, wie wahrhaft poetisch so ein Pürschgang durch die herbstlichen Wälder ist, den ich fast täglich mit der alten Juno unternehme, dank der Erlaubniß des königlichen Oberförsters, mit dem ich mich angefreundet habe. Und wie wonnig es sich dann heimkehrt unter das schützende Dach!

Aber Du prosaischster aller Menschen denkst hierbei wahrscheinlich nur an Rehrücken oder gebratene Krammetsvögel, und die Stimmung à la wilder Jäger kennst Du nur vom Hörensagen.

Doch ich wollte Dir ja erzählen, wie Recht Du hattest, als Du in Bezug auf diesen Wolff ausriefst: ‚Hic niger est! Hüte Dich, Römer vor diesem – er ist ein Bösewicht!‘ Vielleicht ist das zu viel gesagt, aber jedenfalls ist er lästig. So schickte er mir gestern ein Koncertbillet und schrieb dabei: ‚Platz 38 bis 40 sei von Familie Baumhagen requirirt – ich empfing Nr. 37‘. Hinzugefügt hatte er, daß die Baumhagens die angesehensten und wohlhabendsten Patricier der Stadt seien – also offenbar diejenigen, welche die erste Violine dort spielen.

Du weißt, wie ich über sogenannte Geldsäcke denke; immer drei Meilen davon! Na kurz, ich ärgerte mich und schickte ihm das Billet zurück mit dem Bemerken, daß ich der unmusikalischste Patron der Welt sei. Er hat schon mehr derartige Attaken auf mich gemacht, vermuthlich ist da eine Tochter.

Um nun endlich zum Zweck meines Schreibens zu kommen – Du weißt, daß Wolff eine große Hypothek auf Niendorf hat, zu kolossal hohem Zinsfuß. Ich kann das einfach nicht zahlen und will die Hypothek kündigen; würde Deine Schwester zu mäßigen Procenten sie übernehmen? Jede Auskunft steht Dir zur Verfügung. Was soll ich Dir noch erzählen? Apropos! Die Tante – Du hast ihr schmählich unrecht gethan; ich sah nie ein harmloseres, in sich selbst zufriedeneres Gemüthe, wie diese alte Frau. Eine Nichte, die jährlich auf Besuch nach Niendorf kommt und von der sie hoch entzückt scheint, ihr zahmer Stieglitz und ihre Papierblumenfabrikation sind ihre Welt. Sie frug ganz ängstlich, ob ich ihr wohl die Stube belassen würde, bis sie todt? Was ich mit Wort und Handschlag gelobte. Sie hat mir mancherlei berichten müssen aus des Onkels letzten Lebensjahren; er war entschieden ein völliger Sonderling. Wolff sei jeden Tag bei ihm gewesen und habe mit ihm und dem Schulmeister Skat gespielt. Er ist, so zu sagen, am Spieltisch geendet. Die alte Dame erzählte mit einer wahren Grabesstimme, daß er mit Schellenunter und Eichelneune in der Hand gestorben sei; er habe gerade nach dem Null gesagt: ‚Rum! Der liegt! Ein Bombensolo!‘ Da war es vorbei. Ich glaube, sie graulte sich selbst bei diesem Bericht. Nachher will ich, trotz Regen und Sturm, nach der Stadt, um einige Besuche zu machen. Es muß ja doch einmal sein! Den Verwalter nehme ich mit; er holt ein neues Gespann Ackerpferde, die er vor einigen Tagen dort gekauft. Vielleicht sehe ich zufällig noch einmal meine unbekannte kleine Gevatterin, von der ich Dir neulich schrieb; bis jetzt war mir das Glück nicht günstig.“

Er fügte noch einige Grüße und seine Unterschrift hinzu und eine halbe Stunde später war er im tadellosen Visitenkostüm auf dem Wege nach der Stadt. Im Hôtel angekommen, erkundigte er sich nach einer Reihe von Adressen und begann nun seufzend jener wunderbaren Sitte nachzukommen, welche Dame Etiquette als unerläßlich für die „gute Gesellschaft“ vorschreibt, unbekannte Menschen Mittags zu überfallen und einige sehr banale Phrasen zu wechseln, um sich sobald als möglich wieder aus dem Staube zu machen. Gott sei Dank! Es war heute Niemand zu Hause, obgleich es in Strömen regnete. Zu Baumhagens wollte er aus angeborner Opposition zuletzt gehen; er gehörte zu den Menschen, denen nur Jemand etwas anzuloben braucht, um es von vornherein mit Mißtrauen zu betrachten.

Als er gerade im Begriff war diesen Besuch auszuführen, trat ihm auf dem Markt Herr Wolff entgegen. „Zu Baumhagens?“ fragte er, sichtlich angenehm berührt. „Dort – dort das Haus mit dem Erker. Wünsche tausendmal Glück, Herr Linden!“

Franz hatte eine unangenehme Abfertigung auf den Lippen, da war der Kleine schon verschwunden. Droben vom Erkerfenster aber trat rasch eine weibliche Gestalt zurück.

„Bedaure sehr,“ sagte die alte Dienerin, „Frau Baumhagen sind ausgegangen.“ Im unteren Stock dieselbe Antwort, obgleich ihm ein Chopin’scher Walzer entgegenklang.

Im Hôtel beim Mittagstisch erhielt er Aufklärung. Abends sollte ein Ball stattfinden, und ein solches Fest erforderte natürlich die umfassendsten Toilette-Vorbereitungen bei der Damenwelt; an solchem Tage sei weder Frau noch Fräulein zu sprechen. Auch war von nichts Anderem die Rede, als von diesem Feste, und einige der Herren luden ihn freundlich ein, theilzunehmen; es seien hübsche Mädchen dort.

„Bin neugierig, ob die kleine Baumhagen kommt,“ meinte ein Husarenofficier.

„Meinetwegen kann sie fortbleiben,“ entgegnete ein sehr blonder Referendar; „sie hat eine Art sich herabzulassen, die ich nicht vertrage. Ueberhaupt,“ er tippte mit dem Zeigefinger an seine Stirn, „etwas hochmuthstoll.“

„Ich weiß es von Arthur Fredrich, sie hat wieder einen Korb ausgetheilt,“ rief ein Anderer.

„Soll wahrscheinlich erst ein Prinz kommen,“ schnarrte ein Vierter.

„Thut nichts!“ beschwichtigte der Rittmeister von Brelow, „sagt, was Ihr wollt, sie ist eine prächtige Erscheinung, hat jedenfalls nicht eine Spur von Kleinstädterei; es ist Rasse in dem Mädchen.“

Franz Linden hatte mit Interesse zugehört, fast bekam er Lust, an dem Feste theilzunehmen; er sagte halb und halb zu, ließ sich einen Handschuhladen nennen und versaß so ein paar Stunden in ganz angeregtem Gespräche; nach den einsamen Wochen, die er durchlebt, interessirte es ihn mehr, als er sich eingestehen mochte. „Ich komme wahrhaftig noch auf kleinstädtischen Klatsch,“ sagte er, amüsirt über sich selbst. Als er auf die Straße trat, war der kurze Novembertag der Dunkelheit [359] bereits gewichen, die Laternen spiegelten sich in den Pfützen der Straße, die Schaufenster waren hell erleuchtet und vom Benedikti-Thurm dröhnten fünf lange Glockenklänge.

Er bog um die Hôlelecke in die nächste Gasse und schlenderte langsam hin auf dem schmalen Trottoir, die Läden musternd, die sich auf Rechnung des nahen Weihnachtsfestes mit allem Neuen und Neuesten herausgeputzt hatten.

„Guten Abend!“ sagte plötzlich eine schüchterne Stimme hinter ihm. Er wandte sich um; im ersten Momente erkannte er die Frau nicht, die, das Trageholz auf den Schultern, an dessen rothen Lederriemen und blitzblanken Messinghaken zwei große schneeweiße Eimer hingen, schüchtern vor ihm stand. Dann wußte er’s, es war Frau Johanne. „Ich wollte nur vielmals danken,“ begann sie, „der Herr Küster hat mir das Geschenk gebracht für den Kleinen.“

„Und geht es denn meinem Pathchen gut?“ fragte er, neben der Frau herschreitend und rasch entschlossen, um jeden Preis etwas von „ihr“ zu erfahren.

„Ach, ich danke, Herr Linden; es ist ein schwächliches Kind – der Gram hat ihm wohl geschadet. Aber wenn der Herr es einmal sehen wollen – so gar weit ist es nicht mehr, und ich gehe jetzt nach Hause.“

„Das versteht sich!“ sagte er und ließ sich im Weiterschreiten erzählen, daß sie Milchfrau bei Oekonomieraths sei und zweimal des Tages die Milch austrage.

„Kommt das Fräulein manchmal – nach dem Pathchen zu sehen?“

„Ei freilich!“ erwiderte die Frau, „sie kommt und – es ist kein Kleidchen und kein Röckchen, das der Junge nicht von ihr hat; sie ist so sehr gut, das Fräulein Trudchen; wir sind auch zusammen konfirmirt,“ setzte sie stolz hinzu.

Also Trudchen hieß sie!

Es war doch ein ziemlich weiter Weg durch Gassen und Gäßchen, bis die Frau erklärte, hier sei sie daheim. „Es ist Licht drinnen – vielleicht die Mutter, weil der Junge aufgewacht ist. „Meine Mutter wohnt oben,“ erläuterte sie, „der Vater ist Schuhmacher.“

Es war ein so niedriges Parterre, daß ein Kind bequem ins Fenster hätte blicken können, und so übersah er leicht das Innere der kleinen Stube.

„Bleiben Sie!“ flüsterte er und hielt die Frau am Arme.

„Ach Gott – das Fräulein!“ rief diese, „wenn sie nur nicht böse wird!“

Aber Franz Linden antwortete nicht, er sah nur die schlanke Mädchengestalt, wie sie in dem niedrigen Gemache mit dem weinenden Kinde im Arme auf- und abging, ihm zusprach, es tanzen ließ, bis es endlich zu schreien aufhörte, ein Weilchen ernsthaft in das schöne Gesicht blickte und zu jauchzen begann.

„Siehst Du, kleiner dummer Schatz,“ tönte die klare Mädchenstimme in sein Ohr, „siehst Du, wer es gut mit Dir meint, wenn Du hier so allein und bloßgestrampelt liegst und Deine Mutter bei Wind und Wetter von Haus zu Haus gehen muß? Du böser Junge, Du Schreihals, kannst Du auf Deinen Namen schon hören? Wie heißt Du? Franz – Franzi? So groß ist der Junge! Jetzt komm einmal her und schreie nicht, Du sollst das warme Kleidchen schon anhaben, wenn Deine Mutter kommt.“ Und sie setzte sich an den Ofen und begann dem Kinde das rothe Barchentröckchen auszuziehen.

„Fragen Sie, Frau Johanne, ob ich hineinkommen darf!“ bat Linden. Und im nächsten Momente war er doch schon hinter der Frau in das Zimmer getreten.

Ueber das Gesicht des jungen Mädchens flog etwas wie schämige Gluth, aber sie reichte ihm unbefangen die Hand hin. „Ich freue mich, Herr Linden, daß ich Sie noch sehe – Mama bedauerte heute Mittag sehr, Sie nicht empfangen zu können. Sie –“

Er machte eine Verbeugung. Also zu irgend einem Hause, wo er heute gewesen gehörte sie? Aber zu welchem?

„Denken Sie nur, ich weiß erst seit heute, daß Sie uns so nahe wohnen,“ fuhr sie heiter fort. Und den Kleinen der Mutter übergebend, die eben die Fensterläden geschlossen, setzte sie hinzu: „ich stand gerade im Erker, als Sie über den Markt kamen, und sah, wie Sie sich nach unserer Wohnung erkundigten.“

„So habe ich die Ehre – Fräulein Baumhagen –?“ sagte er, halb und halb peinlich berührt.

„Gertrud Baumhagen,“ bestätigte sie, „warum sehen Sie so erstaunt aus?“

Sie nahm bei diesen Worten ihr Mäntelchen vom nächsten Stuhle, drückte eine kleine Pelzmütze auf den braunen Scheitel und ergriff einen Muff. „Ich muß nun fort, Johanne, aber ich schicke Dir morgen den Doktor für den Kleinen. Sieh, das darf nicht so hingehen. Du mußt besser darauf achten, sonst kann er lebenslang schwache Augen behalten.“

„Gestatten Sie. daß ich Sie begleite?“ fragte Linden, die anmuthige Gestalt nicht aus den Augen lassend. Das also war Gertrud Baumhagen!

Sie nickte. „Ich fürchte nach zwar nicht, aber ich denke, Sie finden sich niemals wieder aus diesem Labyrinth von Straßen, in welches die gute Johanne Sie gelockt. – Hier herum ist es noch völlig die uralte Stadt; heute Abend zwar bemerken Sie nichts davon, aber am Tage lohnt sich wohl ein Gang durch diesen Theil. Ich habe die Gegend gern, obgleich hier nur geringe Leute wohnen,“ plauderte sie weiter, indem sie fest und sicher über das holperige Pflaster schritt. „Sehen Sie dort unten an der Ecke das Haus mit vorgebautem Sandsteintreppchen und der Bank unter dem kahlen Baume? Aus dem Hause stammt meine Großmutter, und der Baum ist ein Hollunderstock. Großvater hatte sich in sie verliebt, als sie eines Abends auf dem Bänkchen dort saß und ihr jüngstes Brüderchen wiegte. Sie hat es mir so oft erzählt; der Hollunder habe gerade geblüht und sie sei achtzehn Jahre alt gewesen. Ist es nicht ein Stückchen echter Poesie?“ Dann lachte sie leise. „Aber ich erzähle Ihnen da so viel, und weiß gar nicht, wie Sie über solche Sachen denken.“

Sie waren just vor dem schmalen Hause mit dem Hollunderstocke angekommen. Er blieb stehen und sah empor. Sie bemerkte es und sagte: „Ich kann nie vorüber gehen, ohne daß mir ein guter Gedanke kommt, eine traute Erinnerung. Eine herzlichere Großmutter gab es nicht, so einfach und so gut.“ Und als er schwieg, setzte sie wie erläuternd hinzu: „sie war eine Enkelin des Werkmeisters in Großvaters Fabrik.“

Er fand noch immer kein Wort, und irgend eine banale Phrase hätte er nicht aussprechen können.

Auch sie blieb ein Weilchen stumm. „Darf ich Sie bitten,“ begann sie dann, „dem Kleinen nicht allzu große Geschenke zu machen; es sind einfache Leute, man kann sie zu leicht verwöhnen.“

Er stimmte zu. „Unsereiner ist darin so unpraktisch,“ entschuldigte er: „ich wußte nicht so recht, was ich nun zu thun habe, nachdem ich mich zudringlicher Weise zum Pathen angeboten.“

„Das war keine Zudringlichkeit, das war Menschenfreundlichkeit, Herr Linden.“

„Gerade in Ihren Augen glaubte ich etwas zu rasch – zu –“ er stockte.

„O nein, nein,“ unterbrach sie ihn ernst, „was denken Sie von mir! Ich kann gar wohl unterscheiden, was echt und unecht. Es hat mich ehrlich gefreut,“ klang es zögernd nach.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er.

Und nun schritten sie schweigend weiter durch die Straßen. Vor einem Blumenladen hinter dessen großen Spiegelscheiben ein lockender Flor von Rosen. Veilchen und Kamelien glühte, blieb Trudchen Baumhagen stehen.

„Hier trennen sich unsere Wege,“ sagte sie und reichte ihm die Hand; „ich habe hier drinnen zu thun. Leben Sie wohl, Herr – Gevatter!“

Er hatte den Hut abgenommen und ihre Rechte ergriffen. „Leben Sie wohl, gnädiges Fräulein.“ Und zögernd fragte er noch: „Sie sind auch beim heutigen Feste?“

„Ja,“ nickte sie, „auf höheren Wunsch,“ und ihre blauen Augen schauten ihn still an. Es war nichts darin zu lesen von Jugendlust und freudiger Erwartung. „Mama wäre untröstlich, hätte ich mich ausgeschlossen. Gute Nacht, Herr Linden!“

Der junge Mann blieb draußen, während sie hinter der Ladenthür verschwand. Einen Moment wartete er noch. dann ging er weiter.

Also das war Gertrud Baumhagen! Es berührte ihn förmlich unangenehm, daß sie so hieß, er hatte von vorn herein ein Vorurtheil gefaßt gegen diesen Namen, er war ihm gleichbedeutend mit kleinstädtischem Protzenthum. Die Unterhaltung an der Wirthstafel kam ihm in Erinnerung. Er hatte sich eine [360] schnippische helle Blondine vorgestellt, die den Vorzug, eine Baumhagen zu sein und das reichste Mädchen der Stadt, in allerhand vagen Launen an ihren Verehrern auszulassen pflegte. Nun fand er das Trudchen aus der Kirche, ein holdes schlankes Geschöpf, ein Mädchen mit einfachem unverbildeten Gemüth, das keinen andern Stolz besaß, als den eines edlen Weibes.

Unwillkürlich schritt er rascher; er wollte der freundlichen Aufforderung, an dem Feste theilzunehmen, nachkommen. Aber am Eingang des Hôtels war er wieder anderer Meinung; er mochte sie nicht als moderne Gesellschaftsdame sehen, wollte nicht das liebliche Bild verwischen, das er vorhin durch die kleinen Fenster erblickt in dem ärmlichen Stübchen. Er hätte es auch nicht ertragen, wenn sie ihm im kerzenhellen Ballsaale mit jener Herablassung entgegengetreten wäre, die er heute an ihr tadeln gehört. Er beschloß nach Hause zu fahren.

In diesen Gedanken war er nochmal die Straße zurückgegangen; nun stand er wieder vor dem Blumenladen. Nach raschem Besinnen trat er ein und verlangte einen einfachen Strauß. Die Verkäuferin hielt gerade ein wagenradähnliches Monstrebouquet mit reicher Spitzenmanschette in der Hand, um es einem Boten zu übergeben.

„Also an Fräulein Baumhagen,“ bestellte sie dem Ausläufer, „hier die Karte.“

Franz Linden erblickte auf derselben ein großes Wappen über dem Namen. Unschlüssig trat er zurück. Da wandte sich die Verkäuferin zu ihm.

„Einen einfachen Strauß,“ wiederholte er nun doch. Es war keiner vorräthig, man wollte jedoch rasch einen binden. Der junge Mann wählte selbst die Blumen aus dem mit nassem Sand gefüllten Zinkkasten und reichte sie hin. Es mußte ihm eine angenehme Beschäftigung sein, denn er nahm immer wieder eine Rose zurück und gab dafür eine schönere. Endlich war es vollendet, ein graziöses Bouguet aus weißen Rosen, die Kelche zart rosa gefärbt wie schämiges Mädchenerröthen; Frauenhaar und zitternde Farren dazwischen. Er betrachtete noch einmal das zierliche Gewinde, zahlte und ging zum Hôtel zurück; dort legte er die Blumen auf den Tisch, ließ sich vom Kellner Schreibzeug und ein Kouvert bringen, nahm eine Visitenkarte und schrieb. Mitten darin hörte er auf; er lächelte, „’s ist ein Unsinn,“ sprach er halblaut, „sie wird längst das große Bouquet in der Hand halten.“ Dann schrieb er weiter und überlas noch einmal:

„Darf der Gevatter heut den Strauß noch senden,
Den eigentlich nach Recht und alter Sitte
Beim Tauffest schon er hätte sollen spenden?
Bescheiden naht er; seine Rosen wagen
Nur stummen Gruß zu flüstern und die Bitte,
Zum Feste, heute Abend, ihn zu tragen.“

Er lächelte wieder, kouvertirte und gab vor dem Hôtel Brief und Blumen einem Dienstmann mit der Weisung, dem Fräulein Baumhagen Beides zu überbringen. Und nun kam ihm ein Gedanke: – um acht Uhr begann das Fest, in zehn Minuten war es soweit – er wollte Trudchen Baumhagen sehen, sehen – ob sein Strauß – Unsinn! Wie sollte sie dazu kommen? Aber dennoch, er wollte warten. „Gut, daß der Amtsrichter das nicht mit ansieht!“ flüsterte er vor sich hin. Es war ihm zu Muthe wie einem Kinde vor Weihnachten, so froh und so erwartungsvoll, während er an der Marktseite vor dem Hôtel auf und ab wanderte.

[369] Es schlug acht Uhr. Verschiedene Herren zu Fuß waren längst vor dem Hôtel angekommen, dann auch Damen, und nun rollte der erste Wagen mit Ballgästen heran, zierliche Füßchen schlüpften über das Trittbrett und helle Seide rauschte. Ein Gefährt löste das andere ab; jetzt eine elegante Equipage mit prächtigen Eisenschimmeln, eine leichte reizende Frauengestalt in hellblauem spitzenüberflutheten Gewande bog sich vor und silberhelles Lachen schallte in Linden’s Ohr. „Frau Fredrich!“ hörte er im Publikum murmeln, das sich schaulustig hinter ihm aus so und soviel Kindern, Weibern und Dienstmädchen um die Hôteltreppe versammelt hatte.

„Also ihre Schwester!“

Wie eine liebliche Fee schwebte die junge blonde Frau die Treppe empor, gefolgt von dem Gatten in tadellosem schwarzen Frack, der ihr Fächer und Bouquet nachtrug.

Das Gespann rasselte über den Markt zurück, um in weniger als fünf Minuten wiederzukehren.

„Trudchen!“ flüsterte Linden und zog sich unwillkürlich etwas mehr in den Schatten zurück. Eine kleine volle Dame in lichtgrauer Toilette entstieg dem Wagen – dann war sie hinausgeglitten und stand hinter der Mutter, schlank und leicht, in schimmernd weißem, seidenem Gewand, die schönen Schultern leicht verhüllt, und in der Hand einen wohlbekannten Strauß blasser Rosen. Aber das war nicht das Mädchen von vorhin! Der kleine Kopf hatte sich etwas in den Nacken gebogen, als zöge der schwere lichtbraune Haarknoten ihn zurück, und ein Ausdruck von stolzer Kälte lag über dem klaren Gesicht, den er vorhin nicht bemerkt. Zwei Herren stürzten den Damen entgegen; der Erstere bot galant der Mutter den Arm, der Andere näherte sich dem jungen Mädchen; mit unnachahmlich stolzer Gebärde dankte sie, kaum die Fingerspitze auf seinen Arm legend; dann, wie ein holder Spuk, war es verschwunden, das Bild, das er mit durstigen Augen umfaßt hielt.

Aber nun bemächtigte sich seiner eine fast übermüthige Stimmung. Einer dürftig aussehenden Frau, die mit einem elenden Kinde im Arm gerade vor ihm stand, schenkte er ein Fünfmarkstück, und dem alten Sommerfeld, seinem Kutscher, ließ er einen Pokal Glühwein bringen, so groß, daß der Alte sichtlich davor erschrak; „wenn wir man gut nach Haus kommen!“ meinte er bedenklich.

„Rein närrisch!“ gestand Linden sich selbst. Und als einen Augenblick darauf sein Wagen vorfuhr und zugleich die Klänge eines Strauß’schen Walzers an sein Ohr schlugen, begann er die Melodie der „Rosen aus dem Süden“ mitzusingen. Dann rasselte das Gefährt über den Marktplatz auf die finstere Landstraße hinaus, und rascher als sonst war er in seinem stillen Zimmer daheim, und tausend anmuthige Gedanken mit ihm. –

Zu Niendorf im Herrenhause gab es ein Zimmer, darinnen blühten Rosen in Fülle; nicht nur die in den Scherben zwischen den Doppelfenstern oder auf dem Blumenbrette vor den Scheiben, je nachdem die Jahreszeit es gebot, auch im Stübchen selbst rankten sich Tausende der schönsten Erdenblumen um Bilder und Meubel. Es machte einen [370] wunderlichen Eindruck, besonders wenn man statt des Dornröschens, welches man hier schlummermd zu finden meinte, eine sehr alte Frau im Lehnstuhle am Fenster erblickte, unermüdlich beschäftigt, aus farbigem Seidenpapier Blätter und Blättchen zu bilden und an einander zu fügen, bis endlich eine Rose am Drahtstengel schwankte, von Weitem so natürlich anzusehen, als wäre sie eben vom Stocke gebrochen. Tante Rosalie konnte nicht leben, ohne Rosen zu machen; sie verschwendete die Hälfte ihres bescheidenen Einkommens in Seidenpapier, und wem sie irgend wohl wollte, der erhielt einen Rosenkranz zum Präsent, rothe, rosa, weiße und gelbe Blumenkelche, geschmackvoll durch einander gemischt. Sämmtliche Dorfschönen trugen auf dem sonntäglichen Tanzboden Rosen des alten Fräuleins Kruse im stark pomadisirten Haare; die Gräber des Friedhofes zeigten in Menge von Sonne und Wind zerzauste, weiße und purpurne Rosen derselben Fabrikation auf; die kleine Kirche ward alljährlich zum Johannisfeste von der alten Dame verschwenderisch mit diesen ihren Erzeugnissen geschmückt, wobei sie ganz besondere Sorgfalt auf den Kranz verwendete, der die Dornenkrone des Heilands zu zieren bestimmt war. Das mußten dunkelrothe Rosen sein, so roth wie das Blut, das Er vergossen. Darauf hielt sie.

Kein Weihnachtsbaum prangte im Dorfe, an dem nicht ihre Rosen zwischen den Kerzen hervorleuchteten, und keine Hochzeit fand statt, bei der nicht über der Stubenthür des jungen Paares Tante Rosaliens Blumengruß prangte.

Sie war im Dorfe bei Jung und Alt denn auch nur als „Rosentante“ oder „Rosenfräulein“ bekannt und beliebt, und nicht selten wurde sie auf ihren Spaziergängen von einer Schar Kinder, besonders Mädchen, verfolgt mit der Bitte, „mek ok ’ne Rose, mek ok ’ne Blaume!“ Und die Rosentante war stets darauf eingerichtet; die weniger gelungenen Exemplare wurden zu diesem Zwecke freigebig aus dem riesenhaften Pompadour hervorgeholt und vertheilt.

Franz Linden hatte sich längst daran gewöhnt, zuweilen ein Stündchen in Gesellschaft der alten Dame hinzubringen. Bei ihrem Anblicke kam unwillkürlich etwas von dem Frieden, der sie umgab, auch auf ihn, und das that ihm wohl. Sie saß dann still und ruhig hinter ihrem Tischchen und die feinen welken Hände bildeten emsig des „vollsten Lebens Attribute“. Nach und nach hatte sie ihm in wunderlich feierlicher Weise von den Schicksalen erzählt, die sich unter dem alten spitzen Ziegeldache dieses Hauses abgespielt. Es waren wenig Lichtpunkte darunter und viele Schatten, viel Schuld und menschlich Irren; ein düster Stück Erdenleben. Ein Ehepaar, das nicht zusammen gepaßt, ein einziges Kind, von Beiden vergöttert, und dieser einzige Sohn bedeckte sich und sein Elternhaus mit Schande und floh bei Nacht und Nebel nach Amerika, wo er verkommen. Ohne Licht und Stern waren die Eltern zurückgeblieben, jedes dem andern Vorwürfe machend über die verfehlte Erziehung. Dann starb die Frau vor Gram, und nun begann eine endlose Spanne der Einsamkeit für den alternden Mann, im Banne des Mißtrauens und der Menschenverachtung; Niemand zugethan als seinen Hunden, mit Niemand verkehrend, als mit jenem Menschen, dem Wolff, der ihm Nachrichten und Klatsch aus der Stadt überbrachte; und selbst diesen mit einer an Beleidigung streifenden Mißachtung behandelnd. „Aber sehen Sie, lieber Neffe,“ hatte die Erzählerin hinzugefügt, „es giebt Menschen, die hündischer sind als die Hunde; ein solches Vieh schreit doch, wenn es getreten wird, aber die Art, zu denen er gehört, lächelt noch verbindlich beim derbsten Fußtritt – und so einer war nöthig für den Wilhelm.“ –

Es schneite, auf den Bergen war es weiß, der Garten lag unter leuchtender Schneedecke, und in der Luft tanzten weiße Flocken. Franz Linden war mit dem Verwalter von der Jagd zurückgekommen und ging nach beendeter Mahlzeit zu der Tante ins Rosenstübchen. Sie stand heute auf, als er hereintrat, und kam ihm entgegen.

„Sehen Sie, lieber Neffe, so geht’s, wenn man einmal nicht zu Hause. Sie sollten Besuch bekommen, so einen ganz superfeinen neumodischen, im prächtigen Schlitten. Ich machte just meine Promenade auf dem Korridor, da kam er die Treppe herauf, und hier“ – sie faßte in den Pompadour – „ist seine Karte, die er überflüssiger Weise daließ.“

Franz nahm die Karte und las: „Arthur Fredrich. – Das thut mir leid,“ sagte er, lebhaft bedauernd. „Wann war er hier?“

„O, just um Mittag herum, wo andere Christenmenschen essen, Punkt zwölf Uhr,“ erwiderte sie. „Und dann war noch der Briefträger da und brachte ein Schreiben für Sie, lieber Neffe. Ja – mein Gott, wo ist es denn nur? Wo habe ich es denn hingelegt?“ Und sie wandte sich um, und die kleine gebeugte Gestalt begann eifrig zu suchen; zuerst auf dem Tischchen mit dem Blumenpapier, dann an der Erde, von dem jungen Manne unterstützt.

„Wie sah denn der Brief aus, liebste Tante?“

„Blau – oder grau – ich glaube blau,“ antwortete sie außer Athem und durchstöberte den rothseidenen Pompadour. Eine Menge Rosenknospen holte sie heraus und ein spitzenbesetztes riesenhaftes Schnupftuch, sonst nichts.

„War der Brief denn klein oder groß?“ fragte er hinter dem Sofa hervor.

„Groß und dick,“ ächzte Fräulein Rosalie. „Das ist mir noch nicht passirt, das ist mir höchst fatal!“ Und mit erstaunlicher Beweglichkeit hantirte sie an dem schwindsüchtigen kleinen Spinett und klappte uralte Notenhefte aus einander.

„Vielleicht in den Ofen gekommen, Tantchen?“

„Nein, nein! Er ist seit heute früh zugeschroben.“

Franz Linden ging zum Glockenzuge und schellte. „Suchen Sie nicht mehr, liebe Tante, das Schreiben muß sich finden, das Mädchen kann es ja besorgen.“

Dörte kam und suchte und suchte, hinter alle Schränke wurde geleuchtet, hinter jeden Vorhang gesehen – vergebens.

„Nun wollen wir es aufstecken,“ erklärte Franz Linden endlich. „Ich denke mir, es ist ein Brief von meiner Mutter oder vom Amtsrichter – da wird es ja zu erfragen sein, was sie wollten. Trinken wir unsern Kaffee, Tantchen!“

„Ich kann nächtelang nicht schlafen!“ betheuerte die alte kleine Frau aufgeregt.

„Aber ich bitte Sie,“ wandte er gutmüthig ein, „es ist sicher nichts Unersetzliches darin gewesen. Erzählen Sie mir lieber ein wenig, das Wetter ist just so behaglich dazu.“

Aber das runzlige Antlitz unter der großen Haube blieb verdrießlich, und über die Kaffeetasse hinweg schweiften die alten Augen immer wieder suchend im Zimmer umher und blieben wie nachdenkend an dem grünen Schirm der Lampe haften. Es war schlechterdings kein Gespräch mit ihr fortzuspinnen. Nach einem Weilchen erhob sich der junge Mann, um sein Zimmer aufzusuchen.

„Ja, gehen Sie nur, gehen Sie nur,“ sagte sie erleichtert, „nun kann ich darüber nachdenken, was ich angefangen habe mit dem Briefe. Ach, mein Gedächtniß, mein Gedächtniß! Man wird so alt!“

Er schritt den Korridor entlang und stieg die Treppe hinauf in den oberen Stock; die Dämmerung des kurzen Wintertages lag schon in allen Winkeln und Ecken; es war so todtenstill im Hause, nur der Hall seiner eigenen Schritte klang in sein Ohr. So ein Tag, von dem sein Freund gesprochen, entsetzlich einsam und leer spann er sich aus über diesem weltfernen Hause. Man kann nicht immer lesen, nicht immer sich beschäftigen, besonders wenn die Gedanken unruhig hinausflattern über Wald und Feld – immer nach einem bestimmten Ziel, und immer zurückkehren, zweifelnd und bangend.

Er stand in seinem Zimmer am Fenster und verfolgte das Treiben der Schneeflocken in der dunkelnden Luft, und er dachte dasselbe wie alle Tage während der letzten Wochen, er dachte sich so hinein, daß er deutlich einen leichten Tritt hinter sich auf dem Teppich zu hören meinte und den kosenden Klang einer Frauenstimme „Franz, Franzi!“ – Er wandte sich und schaute in das dämmerige Zimmer zurück. Wenn sie jetzt die Thür öffnete, wenn sie hereinkäme, das Kind auf dem Arme, herüber zu ihm? Warum sollte es nicht sein, warum könnte es nicht werden? Waren diese Mauern nicht fest, diese Räume nicht heimlich und traut genug, ein Glück zu bergen?

Er begann auf und ab zu gehen. Thorheit! Unsinn! Was wollte er denn? Wäre er nie hierher gekommen, oder wäre sie doch tausendmal lieber die Tochter des Werkführers, wie ihre Großmutter, und säße vor dem kleinen Hause auf der Bank unter dem Hollunderbaume, es würde dann so einfach sein! Für die Welt mochte er nicht den tollen Wettlauf mitmachen, den man um Trudchen Baumhagen’s Geldsäcke wagte und immer wieder wagte. Aber ihre holde Freundlichkeit – ?

[371] Und nun versank er wieder rettungslos in den Bann ihrer Augen.

Es war jenes Zweifeln über ihn gekommen, jenes Hangen und Bangen, das ein Jeder durchzumachen hat, der liebt. Und Franz Linden hatte sich in seiner Einsamkeit längst eingestanden, daß ihm nur Trudchen Baumhagen fehle, um glücklich zu sein.

Er war eine keineswegs zaghafte oder scheue Natur, im Gegentheil: er war mit jener bescheidenen Keckheit ausgestattet, wie sie liebenswürdige Leute, denen die Gesellschaft lächelnd allerlei nachsieht, so leicht annehmen. Wäre er im Besitze eines Rittergutes statt dieser Klitsche, wie der Amtsrichter Niendorf bezeichnete – er hätte lieber heute als morgen gefragt, ob sie die Seine werden wolle; ohne allzu große Furcht vor ihren Geldsäcken. Aber in dieser Lage war es ihm peinlich, er mußte zum wenigsten erst „flott“ sein, wie er sich ausdrückte, und ehe das der Fall – wer weiß, wo Trudchen Baumhagen dann geblieben? Er biß die Zähne zusammen bei diesem Gedanken – immer dasselbe Resultat! Aber galt denn am Ende ein ehrliches Herz nichts, und ein fester Wille? Wäre nur der Amtsrichter hier, und er könnte ihn fragen –.

Er hatte während dieser Gedanken die Lampe angezündet. Da lag die verbogene Visitenkarte auf dem Tische, die ihm Tante Rosalie gegeben. „Arthur Fredrich.“ Er lächelte, als er an den kleinen unbedeutenden Menschen dachte, dem die Schwester ihr Herz geschenkt, und er konnte sich Trudchen nicht neben ihm vorstellen. Endlich ein Gegenbesuch von ihm! Und da standen ja auch einige mit Bleistift geschriebene halb verwischte Worte: „Bedauert herzlich, Sie nicht getroffen zu haben, und bittet, am zweiten Weihnachtsfeiertage ein einfaches Souper in seinem Hause annehmen zu wollen.“

Es war die erste Einladung in Trudchens Vaterhaus. Er schrieb sofort ein zusagendes Billet; dann besann er sich, daß er den Schlitten bestellt habe, um einige Besorgungen in der Stadt für das Fest zu machen. Die Karte wollte er durch den Hausknecht des Hôtels hinüber schicken.




Das Weihnachtsfest war vorüber und der dritte Festtag mit Thauwetter und Regen gekommen; er nahm die leuchtend weiße Schneedecke von der Erde, als sei sie eben auch nur ein Festtagsschmuck gewesen und für die gewöhnlichen Tage der schwarze Erdboden gut genug.

Frau Baumhageu saß recht verdrießlich in ihrem Zimmer am Fenster und schaute über den Markt hinweg. Sie hatte etwas Kopfweh, und überdies – heute lag so gar nichts vor, kein Theater, keine Gesellschaft, nicht einmal ein Whist, und gestern war es bei Jenny sehr langweilig gewesen. Zu guterletzt hatte sie sich über Gertrud ärgern müssen, die sich gegen alle Gewohnheit lebhaft mit ihrem Tischnachbarn unterhielt, jenem Fremden, der ihr damals in der Kirche nachgelaufen. Es war eine Ungeschicklichkeit von den Kindern, ihr den Platz an seiner Seite zu geben.

„Ein Brief, Frau Baumhagen.“ Sophie brachte ein Schreiben in einfachem weißem Umschlage.

„Ohne Poststempel? Wer hat es abgegeben?“ fragte sie, die Handschrift betrachtend, die ihr völlig fremd erschien.

„Ein alter Diener oder Kutscher, ich kenne ihn nicht.“

Kopfschüttelnd erbrach Frau Ottilie Baumhagen den Brief und las. Mit hochrothem Gesicht stand sie dann auf und rief: „Gertrud! Gertrud!“

Das junge Mädchen kam sofort herüber in das Zimmer der Mutter.

Die kleine lebhafte Frau war schon an der Klingel gewesen und befahl der eintretenden Sophie: „Rufe die Jenny und meinen Schwiegersohn, aber rasch sollen sie kommen, rasch! – Gertrud, ich bitte Dich, was sind das für Ueberfälle! Ich muß mich erst sammeln, erst –“

„Mama,“ bat das Mädchen leicht erblaßt, „laß uns Beide allein sprechen – weßhalb Jenny und Arthur –?“

„Weißt Du denn, worum es sich handelt?“ rief die erregte Frau.

„Ja!“ erwiderte Trudchen fest und kam durch das Zimmer bis zu dem Lehnstuhle, in den die Mutter sich gesetzt.

„Mit Deiner Eiuwilligung, Kind! – Gertrud?“

„Mit meiner Einwilligung, Mama,“ wiederholte das Mädchen, und nun färbte ein helles klares Roth das schöne Gesicht.

Frau Baumhagen sprach kein Wort mehr, sie fing bitterlich an zu weinen.

„Wann hast Du ihm gestattet, an mich zu schreiben?“ fragte sie nach einer langen Pause und trocknete sich die Augen.

„Gestern, Mama.“

In diesem Momente steckte Jenny den hübschen blonden Kopf durch die Thür.

„Jenny!“ rief die Mutter. Wieder stürzten ihr die Thränen aus den Augen, und der eigensinnige Zug um den Mund trat noch schärfer hervor.

„Um Gotteswillen, was ist denn geschehen?“ fragte die junge Frau.

„Jenny! Kind! Gertrud hat sich verlobt!“

Frau Jenny faßte sich sehr bald. „Mein Gott,“ sagte sie leichthin, „ist denn das ein Unglück?“

„Aber mit wem, mit wem!“ rief die Mutter.

„Nun?“ erkundigte sich Jenny.

„Mit diesem – dem – gestern – Linden heißt er, Franz Linden! Da steht es schwarz auf weiß – einem Menschen, den ich kaum dreimal gesehen habe!“

Die Augen der jungen Frau richteten sich groß und verwundert auf Trudchen, die noch immer hinter dem Sessel der Mutter stand.

„Aber, um Gotteswillen,“ sagte sie, „wie kommst Du zu dem, Gertrud?“

„Wie bist Du zu Arthur gekommen?“ fragte das Mädchen, sich hoch aufrichtend; „wie kommt man überhanpt zu einander? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich ihn lieb habe und daß ich ihm mein Wort gegeben.“

„Wann denn, um des Himmels willen?“

„Gestern Abend, in Deinem rothen Zimmer, Jenny – wenn Du meinst, das wann thue etwas zur Sache.“

„Aber so ohne jede Vorbereitung, so plötzlich? Was hast Du für Garantien, daß er –“

„Mindestens ebenso viele Garantien,“ unterbrach Trudchen, blaß bis in die Lippen, die klagende Mutter, „als wenn ich vor Kurzem den Antrag des Lieutenants von Löwenberg angenommen hätte.“

„Ja ja, da hat sie Recht, Mama,“ erklärte Jenny.

„Nun natürlich!“ klang es zurück. „Ich soll gleich Ja und Amen sagen! Da muß ich erst mit Arthur sprechen und mit Tante Pauline und mit Onkel Heinrich; auf keinen Fall nehme ich die Verantwortung dieses Schrittes allein auf mich!“

„Mama, Du wirst nicht in der ganzen Verwandtschaft herumfragen,“ sagte das Mädchen mit bebender Stimme. „Du und ich, wir sind allein entscheidend und –“ sie schöpfte tief Athem, „ich würde schwerlich durch irgend welche Einwendung anderer Ansicht werden.“

„Aber Arthur könnte sich doch nach ihm erkundigen!“ fiel die junge Frau ein.

„Ich danke Dir, Jenny, aber spart Euch diese Mühe. Mein Herz spricht laut genug für ihn. Wäre ich nicht völlig mit mir im Reinen seit Wochen schon, ich stünde Euch nicht so gegenüber, wie in diesem Augenblick.“

„Du bist ein undankbares, ein liebloses Kind!“ weinte die Mutter, „Du denkst mich durch Deinen Starrkopf zu zwingen! Mit derselben Ruhe hat mich ja Papa auch immer zur Verzweiflung gebracht. Ich zittere am ganzen Körper, wenn ich diesen festgeschlossenen Mund und diese stillen Augen nur sehe; es ist fürchterlich!“

Trudchen stand noch eine Weile; dann, ohne ein Wort der Entgegnung, verließ sie die Stube.

„Es ist eine Spekulationsgeschichte,“ sagte Frau Jenny gelassen, „das ist unzweifelhaft.“

„Und sie hat es geglaubt, was er ihr vorgeredet,“ schluchzte die Mutter; „an allem ist diese unglückliche Taufe schuld, – so etwas imponirt ihr!“

Frau Jenny nickte.

„Da wird sie nun immer und ewig draußen auf Niendorf sitzen, denn abzubringen von ihren Ideen ist sie ja nicht.“

„Nein, Gott verzeihe mir! Sie hat den Baumhagen’schen Trotzkopf in vollstem Maße; ich weiß, was ich darunter gelitten!“

[372] „Hübsch ist dieser Linden,“ bemerkte die junge Frau, ohne von dem heftigen Weinen Notiz zu nehmen. „Himmel, was wird diese Geschichte für Aufsehen machen in der Stadt! Sie hätte wahrhaftig noch einen Andern bekommen! Aber habe ich es nicht gleich gesagt, Mama, sie macht noch ’mal einen ganz thörichten Streich. Arthur!“ rief sie dann dem Eintretenden entgegen, „denke doch, Trudchcn hat sich ja verlobt mit diesem – Linden!“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Herrn Arthur Fredrich.

„Sage doch, lieber Sohn, was weißt Du von ihm? Du hast doch sicher dieses und jenes gehört im Klub, oder –“

Frau Baumhagen hatte das Taschentuch sinken lassen und sah tief bekümmert den Schwiegersohn an.

„Ist ein charmanter Junge, aber hier –“ er machte die Bewegung des Geldzählens – „faul, oberfaul! Er weiß schon, was er thut, wenn er die Trudchen nimmt. Der Tausend – hätte ich so etwas geahnt, es wäre mir nicht eingefallen, ihn einzuladen. Daß Dich! Daß Dich!“

„Ja, und sie erklärt, sie läßt nicht von ihm,“ berichtete Jenny.

„Das glaube ich, ohne daß Du es versicherst, sie ist ja Deine Schwester; was Ihr Euch einmal in den Kopf gesetzt habt – na, ich weiß Bescheid!“

„Arthur!“ schluchzte vorwurfsvoll die ältere Dame.

„Ich verbitte mir, Arthur, daß Du immer von Trotz und Eigensinn sprichst in Bezug auf mich!“ schmollte die kleine Frau.

„Aber, liebes Kind, es ist die reine Wahr –“

„Widersprich nicht immer!“ rief Frau Jenny energisch, trat mit dem Fuße auf und zog das Taschentuch hervor, jeden Augenblick bereit zu weinen. Er kannte dieses Manöver und fuhr sich hastig durch die blonden Haare.

„Schön! Was soll ich denn eigentlich?“ fragte er, „was wollt Ihr von mir?“

„Deinen Rath, Arthur,“ stöhnte die Schwiegermama.

„Meinen Rath? Na – sagt Ja und Amen!“

„Aber er ist so ganz ohne Vermögen, wie ich neulich hörte,“ wandte Frau Baumhagen ein.

Er zuckte die Achseln. „Pah! Trudchen kann ja einen Mann ernähren. Nebenbei – ich kenne Niendorf zwar nicht näher, aber ich glaube, bei rationeller Bewirthschaftung kann etwas daraus werden. Er scheint ja der Mann dafür zu sein, und Wolff erzählte neulich von einer großen Schafzucht, die Linden anlegen will.“

„Das Letztere dürfte allerdings den Ausschlag geben,“ bemerkte Frau Jenny ironisch.

„Nein! nein!“ erklärte die Mutter schluchzend aufs Neue, „Ihr nehmt das Alles viel zu leicht; ich kann mich nicht entschließen, ich habe ja kaum ein paar Worte gesprochen mit diesem Linden. O, die unerhörte Dreistigkeit!“ Sie verließ den Lehnstuhl und warf sich, dunkelroth vor Erregung, auf die Chaiselongue.

„Da wird wieder eine stimmungsvolle Migraine perfekt,“ flüsterte Arthur und nahm gelassen eine Cigarre aus seinem Etui.

Jenny antwortete nur mit einem Blick, aber der war niederschmetternd. Sie nahm die Schleppe ihrer Robe in die Hand und rauschte an dem verwunderten Gemahl vorüber.

„Nimm mich doch mit!“ sagte er belustigt.

„Jenny, bleib bei mir!“ rief die Mutter, „verlaß mich jetzt nicht!“ Und die junge Frau kehrte um, begegnete ihrem Gatten in der Thür und ging mit hochgehobenem Näschen an ihm vorüber, um sich neben die Mutter zu setzen. O, er hatte schon noch mehr auf seinem Konto, sie würde sich schon noch revanchiren für sein absprechendes Urtheil heute früh am Theetisch, als sie ganz harmlos den Rittmeister von Brelow lobte. Er war sich auch nichts Gutes gewärtig, das sah sie ihm gleich an; „Warte nur!“

„Wie, Mama?“ fragte sie dann, „ob ich mit Arthur etwas habe? Bah – er ist ein Othello – ein Blonder, das sind die Schlimmsten!“

„Ach Jenny, dies Unglückskind, dies Trudchen –“

„Ja richtig,“ nickte die junge Frau, „die dumme Geschichte mit Trudchen.“ – –

Indessen stand das junge Mädchen vor dem Bilde des Vaters; ihr ganzes Sein war aufgewühlt in Schmerz und Glück. Sie hatte kein Auge geschlossen in der Nacht, seitdem sie ihm verstohlen die Hand gereicht mit dem kaum geflüsterten: Ja! Sie wußte, er liebte sie; sie hatte es sich tausendmal vorgestellt, wie es sein würde, wenn er ihr das sagte, und nun war es ihr doch so unerwartet rasch gekommen. Lieb hatte sie ihn schon lange, schon seit sie ihn das erste Mal gesehen; und seit der Zeit war ihr nichts geschenkt worden von all den Thränen und Freuden einer heimlichen Neigung. Sie nahm nichts leicht, nichts halb, und voll und ganz hatte sie sich dem Zauber hingegeben. Wer es nun versuchen wollte, ihn ihr zu nehmen, der mußte ihr das Herz mit herausreißen aus der Brust.

Die Thränen liefen ihr, während sie so dastand, in großen vollen Tropfen über das blasse Gesicht, aber um den kleinen trotzigen Mund zog sich ein Lächeln.

„Ich weiß es ja,“ nickte sie flüsternd zu dem Bilde des Vaters hinüber, „Dir würde er gefallen, Papa!“ Und in seliger Erinnerung klangen ihr die Worte nach, die er gestern gesprochen, von seinem einsamen Hause draußen, von seiner Sehnsucht nach ihr und daß er ihr nichts bieten könne, als eben diese einsame arme Heimath und ein ehrliches Herz. Sein einziger Reichthum wären augenblicklich viele Sorgen.

„Laß mich die Sorgen mit Dir tragen, es giebt kein Glück auf der Welt, das größer wäre als dieses,“ so hatte sie sprechen wollen; aber sie hatte doch die Augen niedergeschlagen und ihm nur verstohlen die Hand gereicht. Es wollte kein Wort über ihre Lippen.

Als wäre sie bis jetzt im kalten tiefen Schatten gewandelt und nun plötzlich hinausgetreten in belebenden köstlichen Sonnenschein, unter blauen Himmel, so blühte und klang es in ihrem Herzen. „Es ist zu viel, zu viel Glück!“ hatte sie heut früh beim Aufstehen gedacht; sie dachte es auch jetzt noch und die Thränen, die sie weinte, erschienen ihr als gerechtfertigter Tribut einer allzugroßen Seligkeit. Wenn jetzt Mama gleich „Ja und Amen!“ gesagt, wenn sie gesagt: „Er soll mir ein lieber Sohn sein, bringe ihn mir,“ das wäre zu viel gewesen; dieses Weigern, dieses Mißtrauen; war es nicht eigens geschaffen, damit sie vor Glück nicht übermüthig wurde? Es war der Schneesturm, der im Frühling daherbraust und Blatt und Blüthen überschauert; aber wenn es vorüber, blüht es nicht doppelt schön?

Im Nebenzimmer wurde das Gespräch jetzt wieder lebhafter. Trudchen hörte die klagende weinende Stimme der Mutter deutlicher als zuvor; es berührte sie aufs Neue peinlich und unwillkürlich flog ein Blick zu dem Bilde des Vaters, als könne er auch jetzt noch hören, was ehedem seines Lebens Qual gewesen. Trudchen erinnerte sich ja so vieler Wein- und Jammerscenen in dem nämlichen Zimmer dort. Wie oft war dann des Vaters beschwichtigende Stimme in ihr Ohr gedrungen: „Gut, Ottilie, ja, Du sollst Deinen Willen haben, aber – schone mich!“ Und wie oft war dann durch jene Thür ein blasser Mann getreten und hatte stumm in dem Sofa gesessen, als fände er hier bei seinem Kinde eine Freistatt. Ach! so war es auch gewesen an jenem Tage, an jenem fürchterlichen Tage, worauf es nachher so stille ward, so todtenstill.

Ja, da erscholl es wieder, das laute Weinen, die Anklagen gegen den Himmel, der sie zur unglücklichsten Frau gemacht und sie nun in ihren Kindern noch strafe. Dann war ein Thürenklappen, ein Laufen der Dienerschaft, Trudchen meinte sogar den scharfen Geruch der Baldriantropfen zu spüren, die Frau Ottilie Baumhagen bei ihren Nervenanfällen zu nehmen pflegte. Und nun flog die Thür auf und Frau Jenny kam herein.

„Mama ist ganz elend,“ sagte sie vorwurfsvoll; „zum Arzt habe ich schicken müssen, und Sophie legt ihr Kompressen auf die Stirn. Ein schöner Tag, wahrhaftig!“

„Es thut mir so leid, Jenny,“ bedauerte das junge Mädchen.

„Ja, es kam aber auch wie aus der Pistole geschossen. Ich muß Dir ehrlich gestehen, ich begreife Dich nicht, Gertrud; zehn Körbe reichen nicht, die Du schon ausgetheilt hast, es war ein Mäkeln und Wählen, und jetzt nimmst Du den Ersten Besten.“

„Den Besten jedenfalls,“ dachte Trudchen, aber sie schwieg.

Die kleine Frau hielt dies irrthümlich für eine Wirkung ihrer Worte.

„Sieh mal, Kind,“ fuhr sie fort, „überlege es doch noch recht, Du –“

„Jenny, halt ein!“ bat das Mädchen mit fester Stimme. „Was giebt Dir das Recht, so zu sprechen? Habe ich mir erlaubt, ein Wort über Deine Wahl zu sagen? Bin ich nicht Arthur freundlich entgegen gekommen? Was hat er vor Linden voraus, worin steht er ihm nach? Ich allein habe mir Rechenschaft zu geben über diesen Schritt, denn ich allein trage die Folgen. Es ist unrecht, einen Menschen beeinflussen zu wollen [374] in einer Sache, die so individuell, so ganz in seinen eigensten Empfindungen steht.“

„Aber mein Gott, so ereifere Dich doch nicht!“ beruhigte Frau Jenny; „wir finden eben, er ist keine passende Partie, schon deßhalb, weil er gänzlich ohne Vermögen ist.“

Ueber Trudchens blasses Gesicht flog ein tiefer Schatten. „Ach, laß das Geld aus dem Spiele,“ bat sie angstvoll, „störe mir nicht den schönsten Traum meines Lebens – sprich nicht davon, Jenny!“

Aber Jenny fuhr fort: „Nein, davon schweige ich nicht, denn Du lebst in Idealen und man muß Dir ein wenig die Wirklichkeit vor Augen halten, damit Du später nicht allzusehr aus Deinen Himmeln fällst. Bildest Du Dir vielleicht ein, daß Herr Franz Linden sich so überstürzt hätte, wenn Du nicht gerade Trudchen Baumhagen warst? Sicher nicht! Ich halte es für meine Pflicht Dir zu sagen, daß sowohl Mama, wie Arthur und ich der Meinung sind, er habe in erster Reihe an das gedacht, was unser seliger Vater in guten Kapitalien für uns –“

Sie verstummte, Trudchen stand vor ihr, hochaufgerichtet und drohend. „Sei davon ruhig, Jenny,“ stieß sie hervor, „ich glaube an ihn und spreche kein Wort der Vertheidigung aus! Du und die Andern, Ihr mögt so denken, ich kann es Euch nicht wehren, kann es Euch nicht einmal übelnehmen, Ihr –“ sie stockte, das bittere Urtheil sollte nicht über die Lippen. „Habe die Güte und stelle Mama vor,“ sagte sie dann ruhiger, „daß ich ihm mein Wort nicht breche. Ich werde Dir so dankbar sein, Jenny – wenn Jemand etwas über sie vermag, so bist Du es, ihr Liebling.“

[385] Die junge Frau ging fast bestürzt aus dem Zimmer ihrer Schwester, sie fand kein Wort dieser Zuversicht Trudchens gegenüber. Sie hatten sich nie verstanden, die Schwestern. Jenny begriff auch jetzt noch nicht, wie man so lebensunklug und verblendet sein konnte, und dennoch war sie wie vor etwas Reinem, Erhabenem zusammengeschauert, als die klaren Mädchenaugen sie anblickten, die noch Ideale sehen konnten, trotz der Prosa und des Staubes des Lebens. Sie setzte sich wieder an das Sofa. „Mamachen,“ flüsterte sie nach einer Pause, während welcher sie nachdenklich ihren kleinen Pantoffel auf der Fußspitze hatte tanzen lassen, „Mamachen, ach Gott! ich glaube, es hilft Dir nichts – willst Du ein bischen eau de Cologne? – die Gertrud ist so fanatisch in ihn verliebt; weißt Du, Du wirst ‚Ja!‘ sagen müssen; die Enttäuschung bleibt freilich nicht aus.“

Trudchen war mitten im Zimmer stehen geblieben, sie sah der Schwester nach. Sie hatte Mitleid mit ihr. Es mußte doch schrecklich sein, wenn man nicht mehr an Liebe und Uneigennützigkeit zu glauben vermochte; und sie sah Franz Linden, seine ehrlichen Augen, so klar wie das reine Gewissen selbst. Kann man so aussehen mit einem Nebengedanken, kann man so sprechen mit einer Lüge im Herzen? Sie hätte auflachen mögen vor seliger Gewißheit; und wenn sie die Aermste, die Bettelärmste wäre, er liebte sie doch!

Am Nachmittage fand große Konferenz statt; um zwölf Uhr Vormittags war plötzlich der Befehl vom Sofa erlassen worden, daß man den Salon stärker heize, das Meißner Kaffeeservice aus dem Schrank nehme und beim Konditor einige Schüsseln bestellen solle. Frau Ottilie wollte Familienrath halten.

Der Duft von Sophiens berühmtem Kaffee zog bis in Trudchens einsames Zimmer; sie hörte die Thüren gehen und dann und wann die Stimme der Tante Stadträthin und Onkel Heinrich’s behagliches Lachen. Der Tag nahte seinem Ende, und man schien drüben noch immer nicht zu einem Entschluß gekommen, nur Trudchen saß ruhig im Erker und wartete. Er würde auch ruhig sein, das wußte sie; er hatte ja ihr Wort! Endlich Schritte – das mußte der Onkel sein. „Na, Jungfer Gertrud!“ rief er in das dämmerige Zimmer, „Er kam, er sah, er siegte? Schöne Streiche das! Deine Mutter ist höllisch fuchsig auf den kecken Eindringling, er wird alle seine Liebenswürdigkeit nöthig haben, um ihre schwiegermütterliche Gunst zu erringen. Na, da komm herüber, Du Trotzkopf, und bedanke Dich bei mir, daß sie nachgegeben.“

„Ich wußte es, Onkel,“ sagte sie freundlich, „Du läßt mich nicht im Stich.“

Er war ein kleiner alter Herr mit einem gemüthlichen runden Bäuchlein, das er sich so allmählich bei seinen splendiden Junggesellendiners angefuttert hatte; immer vergnügt, besonders nach einem guten Glase Wein. Und da er wußte, welch angenehme Wirkung ein solches auf ihn ausübte, so versäumte er zum Wohle der Menschheit nie, dieses Mittel zu gebrauchen, das ihn liebenswürdig und lustig machte. Lachend nahm er jetzt das große, schlanke Mädchen an die Hand, als sei sie noch ein Kind, und führte sie nach der Thür.

[386] „Leben und leben lassen, Trudchen!“ rief er; „es ist das purer Egoismus von mir, daß ich solchen Dampf dahinter machte. Brauchst nicht zu danken, war nur Scherz. Siehst Du, alles kann ich vertragen, nur keine Scenen, keine Weiberheulereien, und das versteht Deine Mutter aus dem FF. So was fällt mir immer auf den Magen, weißt Du. ‚Mach doch keinen Sums, Ottilie,‘ habe ich ihr gesagt, ‚warum soll sich die Kleine den hübschen Jungen nicht heirathen? Ihr Baumhagen’schen Mädels habt’s ja, könnt Euch einen Schatz nehmen, lediglich weil er Euch gefällt.‘ O la la! Hier bringe ich das Fräulein Braut!“ rief er in das erleuchtete Gemach und ließ das Mädchen vorantreten.

Sie ging mit ihrem leichten Schritt und ernster Miene zu der Mutter hinüber, die in der Sofa-Ecke lag, als sei sie gänzlich mitgenommen von der wichtigen Debatte; ihr zur Seite thronte die magere Tante Stadträthin im schwarzseidnen Kleid, das Blondenhäubchen auf dem braunen falschen Scheitel, im vollen Bewußtsein ihrer Würde; neben ihr Jenny; Arthur stand am Ofen. Die Damen hatten Kaffee getrunken, die Herren Wein, und der bläuliche Rauch feiner Cigarren hing unter dem vergoldeten Stuck der Decke. Die veilchenfarbenen Gardinen waren zugezogen; es sah sich Alles so höchst gemüthlich an.

„Ich danke Dir, Mama!“ sagte Trudchen.

Frau Baumhagen nickte leise und berührte den Mund der Tochter mit ihren Lippen. „Möge Dich dieser Schritt nie gereuen,“ sprach sie matt, „ich gebe nicht ohne schwere Besorgniß meine Einwilligung, und nur in Betracht Deines unbeugsamen – ja, ich muß es in dieser Stunde sagen – leidenschaftlichen Charakters willige ich ein – und des häuslichen Friedens wegen.“

Um Trudchens Mund flog ein bitteres Lächeln. „Ich danke Dir, Mama,“ wiederholte sie.

„Meine liebe Gertrud,“ begann die Frau Stadträthin feierlich, „nimm denn auch von mir –“

„Ach was!^ unterbrach Onkel Heinrich die alte Dame sehr ungalant, „nun habt Erbarmen, zunächst mit mir, aber dann mit dem schmachtenden Jüngling in Niendorf, und schickt ihm Antwort. Es ist schon vorgekommen, daß ein derartiges Warten arges Unheil angerichtet hat; schauderhafte Geschichten sind dadurch schon passirt, sage ich Euch. Setzen wir einmal ein Telegramm auf,“ fuhr er fort und zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt heraus und borgte sich von seinem lieben Neffen Arthur eine Bleifeder.

„Na, was denn nun, Trudchen?“ fragte er, zum Schreiben bereit. „‚Komm in meine Arme!‘ oder ‚Dein auf ewig!‘ oder ‚Sprechen Sie mit meiner Mutter!‘ oder – ha ha, ich hab’s: ‚Meine Mutter läßt sich sprechen, komme morgen und hole Dir ihr Ja! Trudchen Baumhagen.‘ Und hole Dir ihr Ja,“ buchstabirte er beim Schreiben.

„Ich danke, Onkel,“ sagte das Mädchen, „ich will es aber lieber selbst besorgen in meinem Zimmer; sein Kutscher ist noch drüben im ‚Deutschen Hause‘ und wartet.“

Sie hörte noch das herzliche Lachen des alten Herrn über den armen Kerl, der habe schmachten müssen von Morgens elf Uhr bis jetzt, dann schloß sich die Zimmerthür hinter ihr. Mit bebender Hand zündete sie Licht an und schrieb: „Mama hat eingewilligt, morgen Mittag erwarte ich Sie.“ Sie strich das „Sie^ wieder aus und schrieb nach kurzem Zögern ein energisches großes „Dich“ dafür, und „Deine Gertrud.“

Die alte Sophie, die schon im Baumhagen’schen Hause gedient hatte, ehe der Herr heirathete, empfing das Billet. „Den Brief trage ich selbst hinüber, Fräulein Trudchen,“ sagte sie, „und wenn’s noch schlechter Wetter wär’ und wenn ich auch mein Reißen davon kriegte. Da halte ich nun zweier Menschen Schicksal in der Hand, so ein kleines Stückchen Papier; mög’s Glück mit mir gehen, das walte Gott, Fräulein!“

Trudchen drückte ihr die Hand und trat dann in den Erker und spähte durch die Scheiben, wie Sophie über den Markt schritt, ihre weiße Schürze flatterte jetzt unter dem Gaskandelaber neben der Hökerfrau und nun unter der Hauslaterne des Hôtels. Wenn doch der Alte fahren wollte, so rasch die Pferde laufen können! Jetzt dünkte sie jede Minute zu lang, die er warten sollte.

Da flatterte wieder die weiße Schürze unter der Laterne, aber es ist Jemand vor ihr. Trudchen legte plötzlich beide Hände auf das hochklopfende Herz. „Franz!“ stammelte sie, und ihre Glieder versagten fast den Dienst, als sie sich wenden wollte. Er selbst hatte gewartet auf Antwort!

„Das ist er, das ist er, mein Bräutigam!“ flüsterten die zitternden Lippen. die ganze selige weihevolle Bedeutung des Wortes überschauerte sie. Und leise öffnete Sophie die Thür, und er trat über die Schwelle der zierlichen Mädchenstube; und ebenso leise schloß sie die Thür wieder hinter ihm. Das alte treue Mädchen hatte nur noch gesehen, wie ihr stolzes Fräulein sich so fest in seine Arme schmiegte und stumm und heiß sich küssen ließ „O, über so etwas,“ sagte sie lächelnd, „ja, die Liebe, die Liebe!“

Dann lenkte sie die Schritte nach dem Saal, aber vor der Thür wandte sie sich kopfschüttelnd wieder um; sie würden Alle gleich hinüber laufen, und diese seligen Minuten wollte sie dem Trudchen nicht verkürzen; in einer Viertelstunde war’s noch Zeit genug, daß er zur „Madam“ in den Saal ging. Und sie machte sich irgend etwas auf dem Korridor zu schaffen, um rechtzeitig bei der Hand zu sein, wenn die Beiden über Alles, was sie sich zu sagen haben, die Mama vergessen sollten.

Nach Mitternacht erst fuhr Linden heim; der joviale Onkel hatte noch in aller Eile eine kleine Verlobungsfeier zu stande gebracht, bei der er eine längere Rede hielt. Nächstdem hatte Frau Jenny sich am lustigsten gezeigt und sogar schelmisch mit dem Herrn Schwager in spe angestoßen. Frau Baumhagen aber war, nach einer halbstündigen Unterredung unter vier Augen mit dem jungen Manne, ernst und schweigeud geblieben und spielte die besorgte Mutter bis zu Ende; sie nippte kaum am Champagnerkelch, als das Wohl des Brautpaares getrunken wurde.

Franz Linden hatte ihre Kälte durchaus nicht als Beleidigung aufgefaßt; sie kannte ihn so wenig, und er war da wie ein hungriger Wolf eingedrungen, um ihr Lämmlein zu rauben. Es müßte eigentlich schrecklich sein, eine Tochter herzugeben, meinte er, noch dazu eine wie Trudchen, sein Trudchen. Er war weich gestimmt bis zur Rührung, er dachte an seine alte Mutter, er dachte daran, wie er noch vor wenig Wochen so düster in die Zukunft gesehen und wie sie nun so sonnig vor ihm lag, und diese lachenden Strahlen gingen aus von einem Paar blauer Augen in einem lieben blassen Mädchengesicht. Er wußte selbst nicht, wie schnell es gekommen, daß er ihr von seiner Liebe gesprochen. Er sah noch das erhellte purpurrothe Gemach gestern Abend und den halbdämmerigen Erkerraum; dort stand sie in dem wunderbaren Lichte, das Mondesstrahl und Kerzenschein gemeinsam schufen. Im Nebenzimmer brannte der Weihnachtsbaum, und das Sprechen und Lachen der Gesellschaft klang herüber, sie hatte sich umgewandt, als er zu ihr getreten, und auf ihren Wangen hatte er Thränen bemerkt. Aber sie lächelte doch, als sie seine Bestürzung gewahrte. „Ach, es ist, weil mich Weihnacht immer an Papa erinnert; gestern war er sieben Jahr todt.“

Ein Wort war zum andern gekommen, und endlich fanden sich ihre Hände fest in einander geschlungen. – „Damals, in der Kirche, hätte ich sie am liebsten gleich festgehalteu, die kleine Hand. Wären Sie böse gewesen, Gertrud?“ Und sie hatte den Kopf geschüttelt und ihn unter Thränen lächelnd angesehen, vertrauend und lieb, das schöne stolze Geschöpf – seine Braut, bald sein Weib! –

Er fuhr empor aus den Träumen. Der Wagen hielt auf dem Hofe vor der Treppe, dunkel lag das Haus da; nur hinter Tante Rosa’s Fenstern brannte noch Licht. Er ging wie im Rausche die Stufen hinan und trat in den Gartensaal; er sah sich um, als wäre er zum ersten Male in dem einsamen Zimmer, so fremd, so verändert kam es ihm vor, so leer und kalt. Und er dachte an die Zeit, wo er hier erwartet würde; es ließ sich nicht ausdenken, dieses Glück!

Da drückte sich leise die Thür hinter ihm auf, und als er sich umwandte, erblickte er, schier spukhaft anzusehen, Tante Rosa.

„Ich habe auf Sie gewartet, lieber Neffe,“ schallte ihm ihre hohe Stimme freudig entgegen, „ich habe den Brief gefunden, den Brief. Gott Lob, daß er da ist! Er liegt oben in Ihrem Zimmer. Mir ist eine Last von der Seele genommen, lieber Franz.“ Sie nickte ihm unter der ungeheuren Nachthaube freundlich zu. „Sind lange ausgeblieben; ich bin müde und nun will ich schlafen. Gute Nacht! Gute Nacht!“

Und sie ging mit leisen Schritten, wie eine gespenstige Ahnfrau der Saalthür zu.

„Tantchen!“ schallte da seine Stimme hinter ihr drein, so laut und fröhlich, daß sie sich fast betroffen umwandte. Aber da [387] war er schon bei ihr und hatte sie mit beiden Armen umfaßt, und ehe sie sich’s versah, fühlte die ehrbare alte Jungfer einen schallenden Kuß auf ihrer Wange.

„Daß sich Gott erbarme, Linden, sind Sie nicht bei Troste!“ rief sie.

„Herzenstantchen, ich kann es nicht für mich behalten, ich ersticke daran. So seien Sie doch nicht böse! Wenn ich meine Mutter hier hätte, ich küßte die alte Frau todt vor Seligkeit. So gratuliren Sie mir doch, Trudchen Baumhagen ist meine Braut!“

Tante Rosa’s halb ärgerliches halb erschrecktes Gesicht ward starr. „Ist’s möglich?“ fragte sie leise; „und die will hier herein heirathen in unser altes Haus? Und die Familie hat’s zugegeben?“

„Eine Baumhagen – ja! Und sie will hier ins Haus heirathen und die Familie hat’s zugegeben, Tante Rosa.“

„Gottes Segen! Gottes reichster Segen!“ flüsterte sie, aber sie schüttelte das Haupt und sah ihn ungläubig an. „Schlafen kann ich nun nicht diese Nacht,“ fuhr sie fort, „ich freue mich sehr, ich freue mich von Herzen, aber Sie konnten mir’s morgen früh sagen. Nun ist’s geschehen. Gute Nacht, Linden; ich freue mich, dem Hause thut die Frau wohl noth. Gott gebe, daß eine rechte Hausfrau einzieht!“ Und sie drückte ihm die Hand und ging.

Auch er ging in sein Zimmer. Auf dem runden Sofatisch brannte die Lampe, und dort lag ein Schreiben. Ach richtig, der verloren gewesene Brief! Er ergriff ihn in halber Zerstreuung; es war Wolff’s Hand. Er legte das Schreiben wieder hin, was konnte der wollen? Irgend etwas Geschäftliches. Sollte er sich die seligste Stunde verderben mit einer unangenehmen, vielleicht einer Sorgen-Nachricht? Mochte der Brief doch warten bis – Aber schon hatte er ihn wieder zur Hand genommen und öffnete das Kouvert.

Ein langes Schreiben fiel ihm entgegen, und beim Lesen biß er die Lippen auf einander. „Erbärmlicher Kerl,“ sagte er endlich laut, „gut daß der Brief nicht früher in meine Hände kam; es wäre nicht so, wie es jetzt ist.“ Und als ekle ihn vor der Berührung des Papieres, warf er es mit spitzen Fingern in den nächsten Kasten seines Schreibtisches. „Schmutzige Seelen, die mit dem Heiligsten Schacher treiben!“

Noch lange saß er still in tiefen Gedanken, und zwischen seinen Brauen stand eine düstere Falte. Dann schrieb er einen langen Brief an seinen Freund, den Kreisrichter, und mählich erhellten sich seine Züge wieder; er erzählte darin von Trudchen.


„Guten Tag, Onkel Heinrich!“ sagte Trudchen, die im Erker am Nähtischchen saß, und sie erhob sich und ging auf den kleinen korpulenten Herrn zu, der eben bei ihr eintrat.

„Es ist ja ein wahres Glück, daß wenigstens Eine von Euch zu Hause ist,“ erwiderte er und putzte nach einem kräftigen Schütteln von Trudchens Händen seine Brille mit dem rothen Schnupftuche. „Ob wohl von dem Weiberzeug einmal Jemand daheim bleiben kann außer Dir! Frau Jenny macht Besuche, Frau Ottilie sind im Kaffee – man sieht’s, hier fehlt eine kräftige Faust, die den Zügel hält.“

Trudchen lächelte. „Onkel, schilt nicht und setze Dich,“ bat sie. „Mir kommst Du sehr recht, ich hatte schon ein kleines Billet an Dich geschrieben, darin ich Dich um eine Unterredung bitten wollte. Ich brauche Deinen Rath.“

„O! Aber nicht gleich, Kind, nicht gleich! Ich komme eben vom Tische,“ wehrte er ab, „und nichts ist da gefährlicher, als angestrengtes Denken. O, la la! So ist’s bequem! Nun erzähle mir etwas Angenehmes, Kind, von Deinem Schatz; zum Beispiel – wieviel Küsse hat’s gestern gegeben? Ehrlich – Trudchen!“ Er hatte sich behaglich in einen Lehnstuhl gestreckt, und die junge Nichte schob ihm ein Bänkchen unter die Füße und legte ihm eine Decke über die Kniee.

„Gar keine, Onkel,“ sagte sie ernsthaft, „danach fragt man nicht, weißt Du. Ich sehe Franz überhaupt selten.“ Sie stockte. „Mama geht so viel aus, und ich kann ihn doch nicht empfangen, wenn sie nicht daheim. Ach, Onkel, das ist’s ja, deßhalb wollte ich mit Dir sprechen. Mama“ – sie stockte wieder – „Mama ängstigt mich mit allerhand Andeutungen über Linden’s pekuniäre Lage; Du weißt, Onkel –“

„Und sie versteht das aus dem Grunde, meinst Du?“ fragte der alte Herr. „Nun natürlich, o, la la!“

„Ja, Onkel. Siehst Du, vorgestern fuhr Mama spazieren mit Jenny, und als sie zurückkehrte, rief sie mich in ihr Zimmer, und schon beim Eintreten merkte ich, daß irgend Etwas vorgegangen sei. Denke Dir, Onkel, sie war in Niendorf gewesen, um, wie Mama sich ausdrückte, den Ort zu sehen, wo ihre Tochter sich zu begraben gedächte. Es wäre ja empörend, sagte sie, eine junge Frau in dieses Bauernhaus führen zu wollen, es sei mehr als bescheiden, sie habe sich gefühlt wie auf einer Pachtung dritten Ranges. Linden habe in einem Zimmer gesessen – sie konnte die Decke mit der Hand erreichen, so niedrig, und Alles schief und baufällig. Kurz und gut, ich dürfe da nicht hinein, und wenn ich auf meiner Caprice bestände, Herrn Linden’s Frau zu werden, so müsse sie erst bauen, denn er – er – nun, er habe es ja allerdings nicht dazu, und es sei auch viel bequemer, sich von der Schwiegermutter ein warmes Nest zurecht machen zu lassen. Jenny, die bei dieser Scene zugegen war, stimmte voll mit ein. – Ach Gott, Onkel, er thut mir so leid, und Alles meinetwegen.“

„Hat denn Deine Mama mit ihm wegen des Baues gesprochen?“ fragte Onkel Heinrich.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Ich weiß es nicht – ich bin hinaus gegangen ohne zu antworten. Wenn ich es gethan – so – wir kämpfen mit ungleichen Waffen, oder vielmehr, ich darf meine Waffen nicht gebrauchen, sie ist doch meine Mutter.“

Die Augen des Onkels sahen sie mit unverkennbarem Mitleide an; sie war so blaß und um den hübschen Mund lag ein müder Zug. „Du armes Ding; ja, ja, den Brautstand machen sie Dir nicht gerade zum Paradiese,“ dachte er; aber er räusperte sich nur und schwieg.

„Und was kann ich dabei thun?“ fragte er nach einer Pause.

„Das sollst Du gleich hören,“ sprach Trudchen. „Sieh, ich muß Dich schon quälen; mit Arthur stehe ich mich keineswegs so, daß er mir hier rathen könnte. Ich möchte Dich bitten, Onkel, mit Franz zu sprechen; ich will wissen, wie groß seine pekuniären Sorgen sind, und –“

„Ei, Kind, laß den Unsinn!“ unterbrach sie, augenscheinlich peinlich berührt, der alte Herr. „Wozu mich denn da hinein bringen? Pekuniäre Sorgen! Was willst Du dagegen thun? Vorläufig geht Dich das gar nichts an – wirst es früh genug erfahren.“

„Du meinst, weil wir noch nicht Mann und Frau sind?“ fragte sie.

„Na, versteht sich!“ nickte er.

„O, das ist ja ganz gleichgültig, Onkel,“ sprach sie lebhaft. „Von dem Momente an, wo wir uns verlobt haben, betrachte ich mich als zu ihm gehörig, und was Mein ist, als das Seine. Warum soll ich ihn denn, da ich bereits frei über einen Theil meines Vermögens verfüge, nicht aus einer vielleicht sehr unangenehmen Lage reißen?“

„Aber, liebes Kind –“

„Laß mich aussprechen, Onkel; Du weißt, ich habe zehntausend Thaler von Großmama voraus, über die kein Mensch als ich bestimmen darf, und diese zehntausend Thaler sollst Du Linden auszahlen. – Ich glaube, er muß nothwendig bauen, es mag an Diesem und Jenem fehlen draußen, es ängstigt und quält ihn – thue mir die Liebe, Onkel; sieh, ich kann mit ihm über dergleichen nicht reden.“

„Ich werde mich hüten, Jungfer Trudchen!“

„Warum?“

„Weil er es am Ende nehmen würde – oder, er kommt mir vielleicht grob. Danke ergebenst!“

„Er soll es auch nehmen, Onkel!“

Er schwieg. „Wann wollt Ihr denn heirathen, Kind?“ fragte er endlich.

In Trudchens Gesicht stieg wieder die rosige Gluth. „Mama hat sich noch nicht darüber ausgesprochen, Onkel; Franz hofft im April, und – eben mein Empfang soll ihm doch keine Sorgen machen.“

„Schön! Schön! So lange kann er ja warten,“ meinte der alte Herr.

Sie sah ihn enttäuscht an, aber sie antwortete nicht.

„Ich will Dir doch nichts zu Leide thun, Kleine,“ fuhr er fort, den traurigen Blick wohl verstehend, „ich will nur korrekt [388] in Geschäftssachen handeln. Schau, wenn Du auf Dein Vorhaben versessen bist, so verbastelt und verbaut und verjuxt Ihr ein schönes Kapital – um Euch das Nest so recht behaglich einzurichten. Amantes amentes – das heißt in unser geliebtes Deutsch übertragen: ‚Verliebt – verdreht‘. Und wenn Gott den Schaden besieht, bist Du in Deinem eigenen Fette gebacken worden – ha, ha!“

Trudchen veränderte keine Miene, es lag ein tiefschmerzlicher Zug um den Mund. Auch er sprach so! Wie oft hörte sie Derartiges jetzt! Selbst an dem einzigen Geschenk, das Linden ihr gemacht, hatte man ihr durch eine ähnliche verletzende Redensart die Freude verdorben.

„Ei, sieh doch nicht so trostlos aus, Kleine,“ gähnte der alte Herr, „was habe ich denn gesagt? Wir Männer, glaube mir, sind alle mit einander Egoisten; – warum willst Du denn Deinen Zukünftigen noch darin bestärken und ihm schon von vorn herein die gebratenen Tauben in den Mund fliegen lassen? Halte ihn knapp, Trudchen, das ist das einzig Richtige; er darf weiter nichts sein, als der Prinz Gemahl – die Regierung behältst Du in Deinen kleinen Fäusten. Alle Wetter, und ich glaube, regieren kannst Du.“

„Onkel!“ sagte das schöne Mädchen weich und trat vor ihn hin. „Onkel, Du bist ja ein Heuchler, Du redest von Dingen, an die Du selbst nicht glaubst. Egoisten seid Ihr Alle? Und ich kenne keinen Menschen, welcher weniger Anlage dazu hat, als Du.“

„Wahrhaftig, Kind!“ betheuerte er lachend. „Ein Egoist bin ich vom reinsten Wasser.“

„So? Wer giebt denn am meisten den Bedürftigen in der Stadt? Wer unterhält denn eine ganze arme Lehrerfamilie in Wohnung, Kleidung, Essen und Trinken? Nun wer, Onkel?“

„Alles Egoismus, nichts als Egoismus!“ rief er mit erhobener Stimme.

„Beweisen, logisch beweisen, Onkel!“

„Na, nichts leichter, Trudchen. Du kennst ja die Geschichte, wie ich meinen Krampf in das Bein bekam und mich in das erste beste Haus auf der Steinstraße schleppte und da auf den ersten besten Stuhl hinsank. Ich wollte gerade zum Diner, hatte mir Gustav Seyfried und August Seemann eingeladen – na, Du weißt ja, die alten Jungen haben in Paris und London gegessen. Also, da saß ich in der niedrigen Stube, die Leute waren beim Mittagsbrot und eine Schüssel dünne Kartoffelsuppe stand auf dem Tische, die kaum für den Mann genügt hätte. Sieben Kinder – ich sage sieben Kinder, Trudchen – rings herum und die Mutter kellte just auf. Vom Jüngsten fing sie an; der Aelteste, ein Bursche von vierzehn Jahren, bekam das Letzte aus der Schüssel; es war nicht viel mehr darin, und ich werde nie den Blick aus diesen eingefallenen hungerigen Augen vergessen, mit denen er den leeren Napf anschaute; es ward mir da so wunderlich mit einem Male. Ich fragte beiläufig, was der Mann denn für ein Gewerbe treibe? Sprachlehrer, die Stunde fünfzig Pfennig! Eine feste Anstellung könnte er kränklichkeitshalber nicht annehmen, bekäme sie auch nicht! Heiliger Gott, Trudchen, durchschnittlich täglich zwei Stunden, macht eine Mark, dazu sieben Kinder! Na siehst Du, wir hatten den Mittag Austern vor der Suppe, sie waren gerade recht theuer und ich rechnete aus, daß ein solch glattes delikates Dingelchen just soviel kostet wie eine englische Stunde, in der der arme Mann seinen kranken Hals heiser sprach; sie wollten mir trotz ihrer Schlüpfrigkeit nicht durch die Kehle gleiten, ich konnte es nicht über ein halbes Dutzend bringen und das war mir doch mehr als unangenehm. Bei jedem Gang dieselbe Geschichte, und wenn der Louis einen Champagnerpfropfen knallen ließ, war’s jedesmal, als flöge er mir direkt auf den Magen. Ich habe nie ein ungemüthlicheres Diner erlebt; hinterher empfand ich Uebelbehagen und mußte Natron nehmen. ‚Hol’s der Henker!‘ dachte ich, ‚das könnte Dir noch öfter so gehen‘, und – Du weißt, Kind, ein gutes Mittagessen ist das reellste Vergnügen auf der Welt für Unsereinen. Also mir blieb nur übrig, sollten mir die Austern wieder schmecken, mich durch den Gedanken zu beruhigen, daß die Kauwerkzeuge der sieben hungerigen Krabben ebenfalls um Mittag herum ihre ordentliche Beschäftigung fänden. Ich schickte also die Hammeln zur Frau Lehrerin und ließ sie fragen, wie viel Wirthschaftsgeld sie wohl monatlich haben müßte, um alle Sieben und sich dazu und den Mann ordentlich satt zu machen? Du lieber Gott, es war am Ende nicht so riesig; und so zahle ich Wirthschaftsgeld, und es schmeckt mir wieder im ‚Deutschen Hause‘. Jetzt beweise mir, daß das nicht vollendeter Egoismus ist.“

„Ei natürlich, Onkelchen,“ sagte das Mädchen mit leuchtenden Augen. „Solche Art Egoismus lasse ich mir gefallen.“

„’s ist alles Eins, Trudchen. Die Hammeln schicke ich jetzt auch aus Egoismus in den Ruhestand, sie wird so dick und breit, daß sie nicht mehr durch die Thür kommen kann mit dem Kaffeebrett. Ich frage Dich nun, soll ich mir, der alten asthmatischen Person wegen, noch einen Diener halten, der ihr beide Flügelthüren öffnet? das wäre mir schön. Heute früh habe ich ihr gesagt: ‚Hammeln, Du kannst Ostern gehen, ich werde Dir Deinen Gehalt als Pension fortzahlen – abgemacht.‘ Sie freute sich wie unsinnig, daß sie nun zu ihrer Tochter ziehen kann.“

„Onkelchen, ich weiß, an wen ich mich gewendet habe, ich darf mich auf Dich verlassen,“ schmeichelte Trudchen. „Nicht wahr, Du sprichst mit Franz?“

„Na ja, ja; werde nur nicht so roth. Siehst Du, nun hast Du mir mit all Deinen Reden den Nachtisch verdorben. Wann kommt denn Serenissima nach Hause?“

„Ich weiß es nicht, Onkelchen,“ erwiderte das junge Mädchen.

„Freilich, diese Klatschkaffees sind zu unberechenbar. Also, da seht Ihr beiden Liebesleute Euch wohl nur bei großen Festivitäten, wie Romeo und Julie am dritten Ort, oder wenn gerade hier bei Euch Gäste sind?“

Trudchen nickte still mit dem Kopfe.

„Es ist die Möglichkeit!“ raisonnirte der kleine Herr und stand auf. „Als ob’s nicht die einzige glückliche Zeit ist im Leben, der Brautstand; nachher kommt nämlich die reine Prosa, mein Kind. Und das verkümmern sie Dir nun so – na, warte! Ich muß aber jetzt zum L’hombre; heute Abend werde ich einmal nachschauen bei Deiner Frau Mama. Lebe wohl, grüße ihn wenn Du schreibst.“

„Adieu Onkelchen, vergiß nicht, daß ich mich auf Deinen Egoismus verlasse.“

Und als der alte Herr die Zimmerthür hinter sich geschlossen, setzte sie sich nieder an den Schreibtisch, nahm einen Brief aus einem der Fächer und begann zu lesen. Der letzte Brief von ihm, heute früh, und es waren Verse:

„Soll ich’s Dir sagen, was Sehnsucht ist?
Kann’s nicht mit Worten erklären;
Unruhe ist es zu jeder Frist,
Glück, was nur Du kannst gewähren.
Weiß im Städtchen am Marktesplatz
Stattlich ein Erkerlein blinken,
Weiß es, darinnen stehet mein Schatz,
Stehet die Sonne versinken;
Weiß, daß zwei Augen so groß und blau
Fragend gen Westen blicken,
Ob nicht von dort, geliebte Frau,
Zwei Lippen Dir Botschaft schicken?

Tickt mir im stillen Zimmer die Uhr,
Thauwind klopft an die Scheiben,
Draußen verrinnet des Winters Spur,
Knospen schwellen und treiben.
Langsam siehet, wer einsam ist,
Stunde auf Stunde werden; –
Eins nur ist Trost mir, daß treu Du bist,
Frühling muß es ja werden!
Eines ist Trost, daß in Ewigkeit,
Wenn Zwei sich in Liebe gehören,
Menschenzungen und Menschenneid
Nicht können solch Bündniß stören.“

Wie sie diese Verse freuten in ihrer Traurigkeit! Nichts in der Welt konnte sie trennen! Ein Glück und eine Noth! Tausendfach wollte sie ihm mit Liebe vergelten für Alles, was er jetzt um ihrethalben erdulden mußte. Mit tausend guten innigen Worten versuchte sie jene Mißachtung vergessen zu machen, die man ihm, dem kecken Eindringling, gegenüber kaum verbarg. Sein Mannesstolz mußte so unendlich leiden; mehr als einmal war ihm jäh das Blut in die Stirn geschossen, und mehr als einmal hatte er sich vorzeitig verabschiedet, als könne er nicht ruhig bleiben und suche des lieben Friedens wegen sein Heil in der Flucht.

„Ich wollte, ich hätte Dich erst in Niendorf, Trudchen,“ sagte er noch beim letzten Abschied, „ich ertrage es schlecht, so ziemlich Luft zu sein für Deine Mutter.“

[390] Und sie hatte sich an ihn geschmiegt, zitternd vor Erregung. „Mama meint es nicht so böse, Franz,“ sagte ihr Mund, aber das Herz wußte es anders. Und da hatte er sie heftig an sich gepreßt: „Wenn, ich Dich nicht so lieb hätte, Mädchen!“

„Aber es muß ja Frühling werden, Franz!“

Und heute war das Gedicht gekommen mit einem Veilchenstrauß.

Sie schrak empor, sie hörte Jenny’s Stimme, und gleich darauf trat die Schwester ein, aufgeregt und ärgerlich.

„Ich muß mich bei Dir erholen, Trudchen,“ sagte sie; „Linden ist nicht hier? Gott sei Dank! Unten kann ich nicht aushalten, der Kleine ist so unruhig und schreit und weint; der Doktor sagte, er soll ins Bett. Ich habe ihn nun hineinstecken lassen. Lieber Gott, man kommt aus der Angst und Unruhe gar nicht heraus!“

Trudchen horchte erschreckt auf. Nun, wenigstens ist er in guter Pflege bei Karoline, dachte sie.

„Werdet Ihr denn den Maskenball mitmachen, Du und Linden?“ fragte die junge Frau.

„Nein!“ sagte das Mädchen und packte ihre Briefe fort.

„Warum denn nicht?“

„Was hätten wir davon? Ich tanze nicht gern; Du weißt es ja, Jenny.“

„War Onkel Heinrich hier?“

„Ja, Jenny. Ist es denn ängstlich mit dem Kleinen?“

„I bewahre! Ein bischen Fieber; wir wollen heute Abend noch zu Dressels; Arthur hat Kostümbilder für unsere Quadrille aus Berlin kommen lassen. Aber das interessirt Dich doch nicht, Du wirst Dich wohl später ganz in Dein Niendorf vergraben. Neulich sagte noch der Landrath zu Arthur: ‚Ihre Schwägerin kommt auch nicht an den richtigen Platz; sie hätte einen Mann heirathen sollen in einer Stellung, wo sie repräsentiren muß.‘ Du wärst eine Zierde für jeden Salon; nun gehst Du in die Niendorfer Kuhställe.“

„Und wie ich mich darauf freue!“ sagte Trudchen, und ihre Augen leuchteten.

„Frau Fredrich!“ rief jetzt ängstlich das hübsche Stubenmädchen, „kommen Sie doch nur herunter, der Kleine wird so unruhig und heiß.“

Jenny nickte, besah sich noch in aller Eile eine angefangene Stickerei und ging aus dem Zimmer. Als Trudchen nach einer Weile folgte, erhielt sie den Bescheid, es sei nicht schlimm mit dem Kleinen, und Herr und Frau Fredrich machten schon Toilette für den Abend. Und so stieg sie wieder hinauf in ihr einsames Stübchen.

[401] Acht Tage später kehrten die Eisenschimmel mit dem geschlossenen Wagen in scharfem Trabe vom Kirchhofe zurück. Im Fond saß, neben dem Onkel, Arthur Fredrich mit verweinten Augen; gegenüber Linden. Sie hatten Trauerflor um die Hüte und Trauerflor am linken Arm.

Der Winter war vor dem Scheiden noch einmal in voller Herrlichkeit erschienen; es schneite, und die großen Flocken legten sich auf ein kleines frisches Grab in der eisenumgitterten Familiengruft der Baumhagen. Jenny’s blonder Liebling war todt!

Im Wagen sprach Niemand ein Wort, und als die drei Herren ausgestiegen waren, ging jeder nach einem stummen Händedruck seinen eigenen Weg; Onkel Heinrich, um einen Kognak zu nehmen, Arthur zu seiner trostlosen jungen Frau und Linden hinauf zu Trudchen. Er fand sie nicht in der Wohnstube; sie war wohl noch bei der Schwester. Dann glaubte er nebenan etwas rascheln zu hören; er schritt über den weichen Teppich und trat in die geöffnete Thür des Erkerzimmers.

„Trudchen,“ sagte er bestürzt, „um Gotteswillen, was ist das?“ – Sie lag knieend vor ihrem kleinen Sofa, den Kopf in ihre Arme geborgen; ein wunderliches Zucken und Beben ging durch ihren Körper, wie wenn man weint ohne Thränen.

„Trudchen!“ Er faßte sie und wollte sie emporziehen, da hob sie den Kopf und stand auf. „Aber sprich doch, sprich, was ist denn geschehen?“ forschte er, „giebst Du Dich so dem Schmerze um den kleinen Liebling hin? Ich bitte Dich, Trudchen, nimm Dich zusammen, fasse Dich – Du machst Dich krank!“

Sie hatte nicht geweint, sie sah nur leichenblaß aus und ihre Hände lagen eisigkalt in den seinen.

„Komm,“ sagte er, „erzähle mir, weine Dich aus!“ Und er zog sie an sich.

Sie schmiegte sich fest in seine Arme, wie sie es noch nie bisher gethan. „Nun bin ich bei Dir,“ flüsterte sie, „nun ist es gut.“

„Hast Du Dich gefürchtet? Hat Dir Jemand etwas gethan?“ fragte er zärtlich.

Sie nickte. „Ja!“ sprach sie hastig, „vorhin – da hörte ich ganz zufällig ein paar Worte an zwischen Mama und der Tante Stadträthin – sie kamen von Jenny herauf, sie vermutheten mich wohl nicht hier – ich weiß es nicht. Mama weinte noch immer sehr um den Kleinen und – dazwischen sagte sie, Jenny müsse aus dem Hause – sie müsse zerstreut werden – diese apathische Ruhe sei so gefährlich. Du weißt ja, sie hat seit drei Tagen noch kein Wort gesprochen – und – ich müsse sie begleiten auf eine längere Reise – damit ich –“ Sie stockte und biß die Lippen auf einander.

„Damit Du mich womöglich vergessen sollst?“ fragte er ernst. [402] Er legte die Hand unter ihr Kinn und blickte in ihre Augen. Sie antwortete nicht; aber er las die Bestätigung in dem thränenumflorten Blicke.

„So gern möchte man mich hier fortdrängen? So stark ist die Abneigung, Trudchen? – Und Du?“ Er fühlte, wie sie zitterte.

„O!“ sprach sie mit einer Heftigkeit, vor der Linden fast erschrak – „o – ich – siehst Du, es giebt Momente, wo ein Dämon Gewalt über mein Herz bekommt; ich bin hinein gelaufen im hellen Zorn, ich – ich weiß nicht mehr, was ich Alles gethan und gesagt habe – ich schäme mich jetzt; ich hätte still sein müssen, sie können uns ja gar nicht trennen, nein – sie können es nicht! Nun liegt Mama drüben in ihrem Schlafzimmer und die Sophie ist zu dem Doktor geschickt. Ach, Franz, ich habe so lange Jahre Alles geduldig getragen – ist es denn so große Sünde, wenn endlich das unterdrückte Gefühl durchbricht, wenn einmal die Selbstbeherrschung mich verließ? Ich bin heftig gewesen – ich habe mich stets für so ruhig gehalten – wie ein Sturm rissen die Worte mich hin, die ich gehört; ich weiß nicht, wie schwer meine Vorwürfe waren gegen die Mutter. – Und heute, gerade heute, wo sie den einzigen Sonnenstrahl hinaustrugen, der für mich im Hause war!“

„Wir wollen zur Mama gehen, Trudchen, und sie bitten, uns zu verzeihen, daß wir uns so lieb haben – komm!“

Er hatte das so gesprochen, um sie zu trösten, und weil er fühlte, daß irgend Etwas geschehen müsse. Am liebsten hätte er das Mädchen an die Hand genommen und sie hinausgeführt über diese Schwelle.

Sie machte sich los und sah ihn erstaunt an. „Um Verzeihung bitten? Deßhalb?“

„Trudchen, verstehe mich nicht falsch!“ Er wurde fast verlegen vor ihren großen verwunderten Augen. „Ich meinte damit, daß Mama es auf eine angemessene Art erfährt, wie wir von einander nicht lassen werden. Sag’ ihr ein gutes Wort wegen Deiner Heftigkeit. Komm, ich gehe mit Dir.“

„Das kann ich nicht!“ rief sie. „Ich kann nicht um Verzeihung bitten, wenn man mich so gekränkt hat in dem, was mir das Heiligste, das Liebste ist. Ich kann nicht!“ wiederholte sie und trat an ihm vorüber in den Erker.

Er ging ihr nach und faßte nach ihrer Hand; es war ihm wunderlich zu Muthe. Er hatte bis jetzt nur das ruhige maßvolle Weib in ihr gesehen. Aber sie verstand ihn falsch.

„Nein!“ sagte sie, „bitte mich nicht darum, Franz; ich thue es nicht, ich kann es nicht, ich habe es nie gekonnt! Auch als Kind nicht, obgleich sie mich stundenlang eingesperrt haben in eine dunkle Stube.“

„Ich wollte Dich nicht bitten,“ sagte er, „laß mir nur Deine Hand; ich muß doch wissen, daß Du es noch bist, Trudchen.“

Sie beugte sich hernieder auf seine Rechte und drückte einen Kuß darauf. „Wenn Du nicht auf der Welt wärst, Franz, wenn ich hier allein stehen müßte heute!“ flüsterte sie innig.

„Aber Du hast doch um meinetwegen den Kummer,“ erwiderte er gerührt.

Sie schüttelte den Kopf. „Verkenne mich nur nicht,“ sprach sie weiter, „und habe Nachsicht mit meinen Fehlern. Nicht wahr, Franz, das versprichst Du mir?“ Es klang wie Angst aus dieser Bitte. „Sieh, ich bin so trotzig, wenn ich mich gekränkt fühle; hart werde ich dann aus Trotz wie ein Stein, alles Gute schweigt in mir; hassen kann ich, wenn mir niedriges Denken entgegentritt! Franz, Du weißt es nicht, was ich schon gelitten habe darunter.“ –

Sie standen noch immer Hand in Hand. Draußen wirbelte der Schnee vor den Spiegelscheiben in der Dämmerung des vergehenden Wintertages. Es war so still hier drinnen, so warm und traut.

„Franz!“ flüsterte sie.

„Mein Trudchen!“

„Du bist mir nicht böse?“

„Nein! Nein! Wir wollen unsere Fehler ertragen, und wir wollen sie schon bessern; wenn wir uns nur erst ganz allein haben.“

„Du hast keine Fehler,“ sagte sie stolz und überzeugt und schmiegte sich an ihn.

Er war ernst. „Doch, Trudchen; ich bin ein maßlos heftiger Mensch, heftig bis zum Jähzorn.“

„Das sind nicht die schlechtesten Männer,“ meinte sie und schlang den Arm um seinen Hals.

„Weißt Du das so genau?“ erkundigte er sich und sah ihr lächelnd in das liebliche Antlitz, das jetzt so weich in der Dämmerung vor seinen Blicken verschwamm.

„Ja! Die Großmutter behauptete es immer,“ nickte sie.

„Die Großmutter aus der engen Gasse?“

„Dieselbe, Liebster; hättest Du sie doch gekannt! Aber Deine Mutter möchte ich sehen,“ fügte sie dann hinzu.

„Wir reisen hin, Liebling, sobald wir Mann und Frau. Wann wird das sein?“

„Franz,“ bat sie statt der Antwort, „laß uns nicht gleich reisen, laß es mich erst wissen, wie es in einer Heimath ist, wo Liebe, Vertrauen und gegenseitiges Verstehen bei einander wohnen! Laß mich erst wissen, was Friede ist!“

„Ja, mein Trudchen! Wollte Gott, ich könnte Dich morgen hinaus holen in das alte Haus.“

„Gertrud!“ rief es schrill aus dem Nebenzimmer.

Sie fuhr empor. „Mama!“ flüsterte sie, „komm!“

Sie gingen hinüber. Frau Baumhagen stand neben ihrem Schreibtische; eben brachte Sophie die Lampe, und ihr Schein beleuchtete das runde, verweinte Antlitz der Mutter, in dem sich heute eine ganz ungewohnte Entschlossenheit ausprägte.

„Es ist gut, daß Sie hier sind, Linden,“ redete sie den jungen Mann an, während sie die Klappe des Schreibtisches herunterließ und Platz davor nahm. „Wieviel Zeit gebrauchen Sie, um Ihr Haus so in Stand zu setzen, daß Gertrud dort wohnen kann?“

„Nicht lange,“ erwiderte er. „Einige Zimmer sind mit neuen Tapeten zu versehen und dergleichen Kleinigkeiten – das wäre Alles.“

„Schön! Mir kann es recht sein,“ erwiderte sie kühl, „so haben Sie die Güte, morgen Ihre Papiere dem Herrn Oberprediger zuzusenden und das Aufgebot zu bestellen. Ich reise in drei Wochen mit meiner ältesten Tochter nach dem Süden und wünsche, vorher diese – diese Angelegenheit geordnet zu wissen.“

Linden verbeugte sich. „Ich danke Ihnen, gnädige Frau!“ – Gertrud stand bleich bis in die Lippen, aber sie sah nicht herüber zu ihm; er fühlte nur das Eine deutlich, sie litt furchtbar durch diese Scene, um seinetwillen.

„Ich möchte jetzt noch Einiges mit meiner Tochter besprechen,“ fuhr Frau Baumhagen fort, „es betrifft die Ausstattungsgelder und den Ehekontrakt.“

Er war sofort zum Gehen bereit, küßte die Hand seiner Braut und sah sie bittend an. „Bleibe ruhig!“ flüsterte er.

Trudchen aber legte hinter dem Rücken der Mutter die Hand auf des Bräutigams Mund. „Ich will keinen Ehekontrakt!“ sagte sie dabei laut.

„So lebt Ihr in Gütergemeinschaft,“ klang es zurück.

„Das ist das Richtige,“ erwiderte sie. „Wenn ich mich selbst gebe, werde ich mein Geld nicht ausschließen; es käme mir vor wie ein Widerspruch.“

Frau Baumhagen zuckte die Schultern und wandte sich um. Sie standen dicht an einander geschmiegt, die Beiden, und das bittere Wort erstarb ihr auf den Lippen.

„Dein Vormund mag mit Dir darüber reden,“ sagte sie. „Wollen Sie so freundlich sein, Linden, und meinen Schwager aufsuchen? Ich möchte mit ihm sprechen!“

Er küßte Trudchen auf die Stirn und nahm seinen Hut, dann ging er. Gott sei Dank! Er durfte sie aus dieser Lieblosigkeit bald in sein Haus hinüberretten, das arme stolze Mädchen, das ihn so lieb hatte!

Rasch schritt er über den Markt; die frische Luft that ihm wohl. Er war im innersten Herzen empört, daß man sie hatte trennen wollen, Meilen und aber Meilen zwischen sie legen; und wie leicht ist ein Mißverständniß angebahnt; wie leicht, bei dem Charakter dieses Mädchens, dem ein Schein niedriger Gesinnung schon genügen würde zu trotzen, zu hassen, zu verachten. Wie manches Paar, das sich von Herzen liebte, war schon auf diese Weise für immer geschieden. Er wagte es nicht auszudenken, was mit ihm geworden, wenn es so gekommen wäre.

„Pst! Pst!“ scholl es hinter ihm, und als er sich auf dem schlüpfrigen Trottoir umwandte, sah er Onkel Heinrich die Stufen [403] der Hôteltreppe herunter steigen; er hatte offenbar dinirt und sein joviales Gesicht bot ein wunderliches Gemisch von Trauer und Behagen.

„Ich habe zu Mittag gespeist, Linden,“ begann er und legte seinen Arm in den des jungen Mannes, „mir war mehr wie plundrig nach der Affaire heute früh. Sie denken doch nicht falsch von mir? He? Ich bin keiner von denen, die aus Betrübniß den Appetit verlieren; ich lobe mir unsere Voreltern, die ihren Leichenschmauß hielten. Ich bitte Sie, Linden, das war gar kein so unästhetisches Gebahren, als was es leider unsere heutige Welt auffaßt; man gebe den Todten alle Ehre, der Lebende aber will sein Recht, und zu diesem gehört das Essen und Trinken, es hält Leib und Seele zusammen. O, la la! Mir fällt ein Begräbniß immer gleich auf den Magen. Das kleine gute Kerlchen! Aber glauben Sie mir, ich liebte es darum nicht weniger. Sie sind sicher noch nüchtern? Frauenzimmer essen ja bekanntlich nie bei derartigen Evenements.“

„Ich wollte Sie aufsuchen,“ erwiderte Linden, „meine Schwiegermutter läßt Sie bitten zu ihr zu kommen. Wir – heirathen in drei Wochen.“

Der kleine Herr im Nerzpelz blieb stehen und sah Linden an, als traue er seinen Ohren nicht. „Wie? – Was? Sie ist ja geschwind andern Sinnes geworden, hat Trudchen die weiche Stimmung benutzt oder –?“

„Das würde Trudchen nie thun. Nein, Frau Baumhagen wünscht mit ihrer ältesten Tochter zu verreisen, auf lange Zeit, da –“

„O, la la! Und Trudchen sollte nicht mit?“

„Im Gegentheil – aber sie wollte nicht.“

„Aha! Jetzt dämmert es mir, es hat etwas gegeben! Sie, Serenissima, hat versucht – hm, ich verstehe schon – Reisen, andere Gegenden, andere Menschen – aus den Augen, aus dem Sinn! Ha, ha, ’s ist eine geborne Diplomatin. Nun, ich komme, lassen Sie uns nur einen kleinen Umweg machen, mir thut die frische Luft so gut. Aber es freut mich, es freut mich von Herzen, also in drei Wochen?“

Die Herren gingen stumm neben einander durch das Schneegestöber, in den Straßen war es trotz des lebhaften Verkehrs merkwürdig still, Menschen und Wagen schienen auf der weißen Decke förmlich zu schweben. Die Luft war mild, wie nach Frühjahr duftend, und Franz Linden dachte an sein Daheim und an das kleine Zimmer neben dem seinigen, das nun nicht lange mehr unbewohnt bleiben würde.

„Ganz ergebenster Diener!“ sagte da eine Stimme, und an ihnen vorüber schob sich ein kleines Männchen, den Hut schwebend über den kahlen Scheitel haltend, eitel Freundlichkeit das spitze Gesicht. Linden grüßte, Onkel Heinrich berührte nachlässig den Rand seines Hutes.

„Woher kennen Sie denn diesen Monsieur Wolff?“ fragte er, dem Dahineilenden nachblickend, der sich unglaublich behende durch die Menschen wand. „Sehen Sie, Linden, der ist auch so Einer, der, treffe ich ihn vor Tische, mir den Appetit beinahe verderben kann.“

„Ich stehe oder stand vielmehr mit ihm in Geschäftsverbindung durch meinen alten Onkel, er hatte Geld von ihm auf Niendorf,“ erklärte Linden.

„Von diesem Kravattenfabrikanten? Der Alte ist wohl unklug gewesen!“

Linden erwiderte nichts. Sie waren eben in eine stille Seitenstraße eingebogen.

„Steht das Geld noch darauf?“ fragte Herr Baumhagen.

„Nein, die Schwester meines Freundes hat die Hypothek übernommen.“

„So! Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Sie hätten überdies von Trudchens Geld –“

Franz Linden machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

„Na – ich hab’s dem Kinde versprochen; sie hatte mich beauftragt, Ihnen ein Kapital zur Verfügung zu stellen,“ erläuterte der alte Herr.

„Ich danke!“ erwiderte Linden kurz; „in meine Brautschaft mag ich keine Geldgeschichten hineinspielen lassen.“

„Und der Bau in Niendorf?“

„Trudchen weiß, daß kein Feenpalast sie erwartet; es läßt sich übrigens ganz gemüthlich dort wohnen, in den alten Zimmern, wenn sie auch niedrig sind und klein. Einen Gartensaal habe ich, der sehr hübsch ist, und das, was vor den Fenstern liegt, findet man so bald nicht wieder, und reist man noch so weit.“

„Ei, das Kind ist schon zufrieden, freilich!“ stimmte Herr Banmhagen bei, „aber Serenissima?“

„Es ist mir immer noch lieber, sie sagt: ‚Mein Kind ist in ein Bauernhaus gezogen‘, als ‚Wir haben erst bauen müssen‘,“ bemerkte Linden trocken.

Der alte Herr lachte vergnügt in sich hinein. „Ja ja, so spricht sie, so macht sie’s. Und verreisen will sie – ’s ist wunderbar. Meine liebe selige Mutter suchte Trost in der Arbeit, als mein Vater starb, das war noch die gute alte Sitte, die Heutigen reisen. Dem armen Ding, der Jenny thät’s besser, sie trauerte recht tief innerlich in der Stille. Nein, da wird sie hinausgerissen, damit das Pfeifen der Lokomotive ihr die letzte Erinnerung an die Stimme des Kleinen übertönt. Linden!“ Der alte Herr blieb stehen und legte die Hand auf seine Schnlter. „Die Trudchen ist anders, Sie können’s glauben! Sie ginge nicht fort von dem kleinen Grab da draußen, jetzt nicht! Sie hat auch ihre Fehler, das Kind, aber – hier drinnen,“ er zeigte auf seine Brust, „da ist’s richtig bei ihr. Wollte Gott, daß sie recht glücklich würde bei Ihnen, in dem alten Neste; sie hat’s verdient, schon um ihre Jugend – um ihren Vater.“

Franz nickte. Er wuße es ja so genau, was der alte Egoist ihm da erzählte.

„Na, nun kommen Sie aber,“ fuhr Onkel Heinrich fort, „meine Schwägerin wird mich sprechen wollen wegen der Hochzeit.“

„Ich denke, wegen des Ehekontraktes,“ meinte Franz Linden, „und da wollte ich Sie bitten, auch Gertrud zu bestimmen, daß sie sich den Wünschen ihrer Mutter fügt; es ist mir lieber so.“

„Hm!“ Der alte Herr räusperte sich. „Ich füge mich, Du fügst Dich, er fügt sich, sie – fügt sich nicht! Sie ist ein Trotzkopf – pardon! Na, bange machen gilt nicht, das hat sie von meinem Bruder, er war ein praktischer, ein tüchtiger Kaufmann, aber sobald das Herz ins Spiel kam – vorbei mit Klugheit, Vorsicht, Berechnung, was weiß ich’s! O, la la! Aber da wären wir ja!“

Frau Baumhagen empfing die Herren sehr ruhig, Gertrud war nicht bei ihr. „Sie ist in ihrem Zimmer,“ erklärte sie Linden, der sich wie suchend umblickte, „und erwartet Sie.“

Er fand das Mädchen im Erker, es brannte noch kein Licht, nur der Schein der Ofenflammen leuchtete über den Teppich.

„Gertrud,“ sagte er, „wie soll ich Dir danken!“ Und als er ihre Hände ergriff, brannten sie heiß in den seinen.

„Wofür?“ fragte sie.

„Für Alles, Trudchen! – Du warst doch ruhig Mama gegenüber?“ setzte er dann ruhig hinzu, als sie schwieg.

„Ganz ruhig!“ erwiderte sie, „ich dachte an Dich, aber fest bin ich geblieben, ich will keinen Ehekontrakt!“

„Du thörichtes Mädchen! Ich kann ja Unglück haben, schlechte Ernten oder dergleichen – dann leidest Du mit?“

Sie nickte und lächelte. „Freilich – und helfe Dir mit Allem, was ich besitze. Und wenn wir schlechte Ernten haben und nichts, nichts glücken will, gar nichts mehr unser ist, dann –“ sie hielt inne und sah ihn glückselig an aus den lieben verweinten Augen, „dann hungern wir zusammen, nicht? Du?“




Und der Hochzeitstag kam; anders als sonst ein solches Freudenfeft hub er an. Es war unheimlich still in dem Hause, das noch in tiefster Trauer stand.

Die Zimmerflucht hatte man geöffnet und erwärmt, und über Trudchens Thür hing eine Guirlande aus ernstem Tannengrün. Gestern war unermüdlich die Thürklingel gezogen worden und ein kostbares Geschenk nach dem andern eingetroffen, die ganze Pracht an schwerem Silberzeug, Majoliken, Teppichen und anderen kostbaren Dingen hatte man auf eine lange Tafel gestellt im Erkerzimmer, ein Gärtnerbursche hantirte noch leise im Saal, um den improvisirten Altar mit Orangerie zu dekoriren. Der feine Duft von Räucherwerk schwebte in der Luft und die Flammen des Kamins spiegelten sich in den Glasbehängen des Kronleuchters und dem glänzenden Parkett des Fußbodens. Draußen aber wehte trügerische weiche Luft, es war der erste März.

Frau Baumhagen hatte schon seit dem Morgen geweint und gestöhnt, und zwischen den Anordnungen für die Trauung waren [404] Befehle erlassen, die Reise betreffend. Die großen häuserartigen Koffer standen, fertig gepackt, in der Garderobe; übermorgen sollte es fortgehen, zunächst nach Heidelberg zu einem berühmten Arzt.

Um Trudchens Aussteuer hatte sich die Mutter nicht bekümmern können; mochte sie sich die Einrichtung selbst aussuchen. Trudchens Geschmack war ja so wie so höchst wunderbar; wenn sie blau gewollt, hätte das Mädchen sicher roth gewählt, so war es von je her. Ach, dieser Tag war ein schrecklicher in ihren Augen, und er beschloß qualvolle Wochen. Seit dem Begräbniß des Kleinen, wo die Tochter eine so leidenschaftliche Scene gemacht, war man noch kälter denn sonst an einander vorüber gewandelt. Gertrud’s Augen konnten so groß, so fragend blicken, es stand immer die leise Anklage darin: ‚Warum störst Du denn mein Glück?‘ – „Wenn man doch erst im Koupé säße!“

Jetzt waren die Damen alle bei der Toilette, um fünf Uhr sollte die Trauung stattfinden. Die alte Sophie half Trudchen heut; sie wollte es sich nicht nehmen lassen.

Das bedeutungsvolle Kleid hatte Trudchen schon angelegt, nun kniete Sophie vor ihr und knöpfte die weißen Atlasschuhchen zu.

„Fräulein Trudchen,“ seufzte die Alte, „wie wird’s so öde werden im Hause! Das Walterchen todt, und Sie nun fort.“

„Ich werde so glücklich sein, Sophie!“ Die weiche Mädchenhand strich über das runzlige Gesicht, welches traurig zu ihr empor sah.

„Das walte Gott! Das walte Gott!“ murmelte die alte Frau gerührt und erhob sich. „Nun kommt wohl Schleier und Kranz? Aber Fräulein, dazu bin ich zu ungeschickt, das wird – da ist Frau Fredrich schon.“

Frau Jenny kam eben durch das Wohnzimmer des jungen Mädchens, sie war in tief schwarzer duftiger Krepp-Robe und aus den blonden Haarwellen leuchtete eine weiße Kamelie. Sie sah erschreckend bleich aus und hatte roth geweinte Augen.

„Ich will Dir helfen, Trudchen,“ sagte sie matt und begann den Schleier auf dem braunen Haar der Schwester zu befestigen. „Wenn ich denke, Trudchen, wie Du mir den Kranz aufgesetzt hast, weißt Du noch? Ach, wenn man in der Stunde ahnen könnte, welch unendlichem Leid man entgegengeht!“

„Jenny,“ bat Trudchen, „weine nicht so viel; sieh’, wie ich herunter kam, als Walterchen gestorben war und Arthur Dich so treu im Arme hielt, dachte ich, welch eine Fülle von Trost Ihr noch hättet in Euch selbst. Das ist doch erst das rechte wahre Glück, wenn Zwei so bei einander stehen in Kreuz und Noth.“

„O,“ sagte Frau Jenny, und um ihre Lippen zuckte es verächtlich, „glaube mir doch, Arthur ist schon halb getröstet; er kann von etwas Anderem reden, er kann essen und trinken und ins Geschäft gehen, er hat sogar Skat gespielt. Dieses vielgepriesene Glück! Lieber Gott!“

„Ach Jenny, Du darfst nicht die tiefe Trauer von ihm verlangen, wie sie ein Mutterherz empfindet; er –“

„Du wirst es auch noch einsehen,“ unterbrach die junge Frau. „Die Männer sind alle Egoisten!“

Trudchen erhob sich jäh von ihrem Sessel; sie schwieg, doch ihre Augen hefteten sich vorwurfsvoll auf die Schwester, als wollte sie sagen: „Sind das Deine Segensworte, die Du mir auf den Weg mitgiebst?“

Aber ihre Lippen sagten nur: „Nicht alle, ich weiß es besser!“

Jenny stand wie verlegen. „Ich möchte nun zu Arthur hinunter, er wird sonst wieder nicht zur rechten Zeit fertig; und dann ist’s auch soweit, daß ich zum Empfang der Gäste heraufkomme.“

Wie ein dunkler Schatten rieselte die Schleppe ihres Kleides über den Teppich.

Trudchen setzte sich still noch einmal in den Erker; in schimmernden Falten floß die weiße Seide um die schöne Gestalt, und aus dem duftigen Schleier tauchte das ernste junge Gesicht wie aus einer Wolke empor. Sie hatte die Hände gefaltet und sah des Vaters Bild an; „Dich nehme ich mit heut Abend, Papa!“ Und ihre Gedanken flogen zu dem stillen Landhause: sie kannte es noch nicht, nur wenn sie auf einer Landpartie durch das Dorf gefahren, hatte sie ein spitzes Ziegeldach und graues Gemäuer aus den Bäumen auftauchen sehen; wer ihr gesagt, daß dies einst ihre Heimath sein würde!

Es war wohl herzlos, daß ihr der Abschied aus dem Vaterhause nicht schwerer wurde. Und von der Mutter? – Ach, die Mama! Papa hatte sie ja doch lieb gehabt, sehr lieb einmal. Sollte sie fortgehen von hier ohne eine Mutterthräne, ohne ein herzliches Wort? Und Trudchen vergaß Alles in dieser glückseligen Stunde, sie dachte nur noch an das Gute, an das Traute, an die Zeit, da sie ein glückliches Kind gewesen, und die Mutter sie noch zärtlich geküßt hatte; sie wollte versöhnt scheiden.

Sie erhob sich, raffte die lange Schleppe des Brautkleides zusammen und ging durch den halbdunklen Flur zum Schlafzimmer der Mutter hinüber. Leise pochte sie an und gleich darauf trat sie ein.

Frau Baumhagen stand vor dem großen Ankleidespiegel im schwarzen Moireekleide, schwarze Spitzen und Federn auf dem noch immer blonden Scheitel. Trudchen konnte das Antlitz im Spiegel sehen; es war dick mit Puder bestreut, und eben wurde mit einer Hasenpfote das feine Reismehl in die Haut gerieben.

Frau Baumhagen sah sich um und betrachtete ihre Tochter. Es war die holdeste, die lieblichste Braut, weit imposanter als Jenny – und das Alles für diesen Linden! Sie sagte nichts, sie seufzte nur laut und wandte sich wieder zum Spiegel.

„Mama,“ begann Trudchen, „ich möchte Dich um Etwas bitten.“

„Gleich!“

Trudchen verharrte ruhig, bis der letzte Strich mit der Puderquaste über die Schläfe gethan war, dann nahm Frau Baumhagen die langen schwarzen Handschuhe, setzte sich auf die Chaiselongue zu Füßen ihres großen roth dekorirten Himmelbettes, und begann den ersten überzustreifen.

„Was willst Du, Gertrud?“

„Mama, was ich will? Ich wollte Abschied nehmen von Dir.“ Sie setzte sich neben die Mutter und nahm ihre Hand.

Frau Baumhagen nickte ihr zu. „Ja, wir werden uns längere Zeit nicht sehen.“

„Mama, bist Du mir noch böse?“ fragte das Mädchen stockend, und ihre Augen wurden feucht. „Vergieb mir in dieser Stunde,“ bat sie, „ich war manchmal heftig und trotzig, aber –“

„O laß – laß doch!“ wehrte die Mutter. „Ich wünsche nur von Herzen, daß Du glücklich werdest und diesen Trotz, diesen Eigensinn nie zu bereuen brauchst.“

„Niemals!“ sagte Trudchen mit innigster Zuversicht.

Frau Baumhagen knöpfte an den Handschuhen weiter. Es war im Zimmer ein so betäubender Geruch von Lavendelwasser und Patchouli, dazu krachte leise die schwere Seide, wie sie sich eifrig mühte, die Knöpfe zu schließen. Sie antwortete nicht.

„Darf ich noch eine Bitte – Mama?“

„Gewiß!“

Das Mädchen faltete unwillkürlich die Hände im Schoße. „Mama, sei ein wenig freundlich zu Linden, habe ihn ein wenig lieb, mache ihm den heutigen Tag zu einem wirklichen Ehrentage! Sieh, Mama,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „das Herz würde es mir zerschneiden mit tausend Messern, würde er heute gekränkt, liebe Mama –.“ Ein paar schwere Thränen zitterten in den Wimpern.

Sie mußte noch einmal fragen: „Ja, Mama?“

Frau Baumhagen war just fertig; sie streckte ihre beiden kleinen Hände vor, besah sie innen und außen und sagte ohne aufzublicken:

Freundlich? – natürlich; lieb haben? – das läßt sich doch nicht erzwingen, mein Kind; ich kenne ihn ja kaum.“

„Um meinetwillen!“ drängte es Trudchen zu rufen. Aber sie besann sich; die Tage der Kindheit waren vorüber, und seitdem –?

Frau Baumhagen erhob sich. „Es ist bald fünf Uhr,“ bemerkte sie, „geh’ hinüber in Dein Zimmer, Linden wird gleich kommen.“ Sie küßte Trudchen auf die Stirn, dann rasch auf den Mund. „Geh’, mein Kind – ich lasse mich überhaupt nicht gern weich machen; Gott schenke Dir alles Glück!“

Trudchen kam hinüber in ihr Zimmer, erkältet bis ins innerste Herz. Da trat aus dem Erker eine hohe Gestalt rasch auf sie zu und ein fester Arm zog sie an sich. „Du!“ sagte sie aufathmend, und eine Rosengluth überflog ihr Antlitz.

[417] Im Saale versammelte sich still die kleine Hochzeitsgesellschaft, die Mutter, Arthur, Jenny, die Tante Stadträthin und Onkel Heinrich; zwei junge Kousinen in weißen Tüllkleidern boten den einzigen lichten Anblick unter dem düsteren Schwarz.

„Um Gotteswillen, macht nicht so trostlose Gesichter!“ bat Onkel Heinrich, der aussah, als wäre ihm die Hochzeit wieder auf den Magen gefallen, „’s ist schon trübselig so wie so –“

Nun öffnete sich die Thür, der alte Prediger trat herein, und Onkel Heinrich ging zu ihm hinüber und begrüßte ihn sehr laut, dann verschwand er mit ganz ungewohnter Eile, um das Brautpaar zu holen. – Der Schein der Nachmittagssonne fluthete voll in das reiche Gemach und überstrahlte die Kerzen auf dem Kronleuchter und den Kandelabern, und diese Strahlen schimmerten und webten auch um das Paar vor dem Altare. Mild und klar scholl die Stimme des Geistlichen: Im Gotteshause hätten sie sich zum ersten Male in die Augen gesehen, sagte er, sichtbarlich habe der Herr sie zusammen geführt, und was Er so geeinet, das solle der Mensch nicht scheiden. Von der Liebe sprach er, die Alles erduldet, erhofft und erträgt. Trudchen hatte sich den Text selbst gewählt.

Dann wechselte der Geistliche die Ringe; sie knieeten nieder zum Segen, und nun waren sie Weib und Mann.

Sie traten zur Mutter hinüber. Franz Linden ging es wie Trudchen vorhin, er sah Alles anders in dieser Stunde. Er streckte die Hand aus, und weil er keine Worte fand, wollte er mit diesem Händedruck geloben, die ihm eben Angetraute zu schützen, zu halten wie seinen Augapfel sein Leben lang. Aber Frau Baumhagen küßte die junge Frau zierlich auf die Stirn, legte einen Moment ebenso zierlich die Finger in seine ausgestreckte Rechte und wandte sich dann zu dem Prediger, der ihr glückwünschend nahte. Das junge Paar sah sich an, und als er in ihre bangen Augen blickte, drückte er den Arm fester, der in dem seinigen lag, und da ward sie ruhig, fast heiter.

Onkel Heinrich hatte, wie nicht anders zu erwarten war, das Hochzeitsdiner angeordnet. Im Eßzimmer, das nach Norden gelegen, waren die Vorhänge geschlossen und die Lichter angezündet, der ganze Silberschatz des Hauses blitzte und funkelte auf der Tafel. Der alte Herr verstand es; er hatte in der letzten Zeit zwar schlaflose Nächte darum gehabt, aber dafür war das Menu auch raffinirt, wie er sich ausdrückte. Schade nur, daß er, die Tante Stadträthin und Arthur die Einzigen waren, die es zu würdigen verstanden, nach seiner Meinung. Man kam doch nicht über die frostige Stimmung hinaus, nicht einmal bei Onkel Heinrich’s Toast, nicht einmal beim Sekt; der alte Egoist verzweifelte fast.

Als man sich zum Kaffee erhob, suchte Trudchen ihr Zimmer auf. Nach einer Viertelstunde trat sie in anderer Toilette in den Flur; dort stand er, ihrer wartend. Von drinnen scholl nur das gedämpfte Sprechen der Tischgesellschaft heraus, hier war es lautlos still. Sie blickte sich nochmals um und nickte der alten Dielenuhr zu. „Adieu Sophie!“ sagte sie dann, als sie an seinem Arme die Treppe hinunter schritt und die Alte [418] sich plötzlich weinend über das Geländer beugte, „grüß’ sie Alle noch tausendmal!“

Hell erleuchtete Fenster schimmerten ihnen entgegen, als Franz sie in Niendorf aus dem Wagen hob und die Stufen hinaufführte. Wolkenverhangen war der Himmel und wunderbar weich und duftig die frühe Lenzluft.

„Tritt ein!“ bat er und öffnete die altersbraune Hausthür.

„O, soviel Rosen!“ kam es entzückt von ihren Lippen. – Das Geländer der Treppe, die Thürrahmen, die Ketten, an welchen die Lampe hing, Alles wär verschwenderisch mit Rosen geschmückt, und bei dem matten Lichte glühten und leuchteten sie aus dem dunklen Grün in lebendiger Pracht. Gute Tante Rosa!

Und Hand in Hand stiegen sie die Treppe empor und schritten den Korridor entlang; es waren nur Gipsfliesen, aber ganz mit duftenden Tannen bestreut.

„Und hier unser Wohnzimmer, Trudchen, bis das Deine eingerichtet ist.“

Sie war auf die Schwelle getreten und sah hinein mit neugierigen Augen. Uneudlich traut und heimlich lag es vor ihr, das niedrige Gemach, freundlich erhellt vom Lampeschein, und winselnd vor Freude sprang der schöne Jagdhund an seinem Herrn empor, den er heute den ganzen Tag entbehren mußte. Sie trat hinein an seiner Hand in banger Glückseligkeit.

„O, der schöne Hund! Und dort Dein Schreibtisch, da die Bücherschränke, und welch liebes altes Frauengesicht im Goldrahmen – Deine Mutter, Franz? Ja, so mußte sie aussehen, so habe ich sie mir gedacht! Und wie wunderhübsch der Theetisch mit den zwei Kouverts! Ach Liebster!“ Und das verwöhnte stolze Kind des Reichthums lag weinend an seiner Brust. „Hier – so soll es bleiben Franz, hier ist’s warm und hell, hier kann kein bitteres Wort gesprochen werden!“

„Denke nicht mehr daran,“ tröstete er. „Alles Böse ist hinter uns geblieben. Hier haben wir das Hausrecht und dulden nur Frieden und Freundlichkeit.“

„Ja,“ sagte sie, unter Thränen lachend, „Du hast Recht, was geht uns die Welt da draußen an!“

Sie standen zusammen vor seinem Schreibtische; dort prangte eine Majolikaschale voller Frühlingsblüthen. „Der köstliche Veilchenduft!“ flüsterte sie tiefathmend und wand sich aus seinen Armen. Eine Visitenkarte lag in den Blumen; Beider Hände streckten sich danach aus.

„Die herzlichsten Glückwünsche zur Vermählung sendet
 C. Wolff, Agent.“

lasen sie.

„Woher kennst Du ihn? Wie kommt er dazu?“ fragten ihre Augen.

Aber er warf die Karte achtlos auf den Tisch und küßte sie auf die Stirn.




Es ist köstlich, mit seinem Glücke dem Lenz entgegen zu gehen. Blatt um Blatt trieben die Bäume im Niendorfer Garten, wie grüne Schleier hing es über dem sprossenden Walde und überall blühten die Veilchen, in Trudchens ganzem Revier duftete es nach den blauen Frühlingskindern. Wie Lerchenschlag drang die Stimme der jungen Frau durch das alte Haus, und wenn Franz sonnenverbrannt vom Felde heimkehrte, flatterte oben aus den blinkenden Fenstern ein weißes Tuch, und kam er auf den Hof, so flatterte es auf der obersten Treppenstufe in ihrer Hand. „Liebster, da bist Du!“ sagte sie dann innig.

Und die Spaziergänge im Walde, die Abende, wenn er vorlas, und dann die Einrichtung des Hauses! Wie süß war es, zusammen zu berathen, auszuwählen, einzukaufen, und wie freuten sie sich Beide, wenn sie just das Nämliche gedacht!

So putzte sich allmählich das Haus, Tapezierer und Handwerker schafften darin, nur Taute Rosa’s Zimmer blieb unbehelligt und das traute Stübchen des Hausherrn, in dem sie ihre glücklichsten Wochen verlebt hatten.

Und heute war Alles fertig, gemüthlich und wohnlich, aber ohne jegliche Prätension. Die niedrigen Räume eigneten sich nicht zur Schaustellung kostbarer geschnitzter Möbel – so hatten sie Beide im richtigen Gefühl nur einfache Sachen gewählt.

„Wenn wir uns später ein neues Wohnhaus bauen, Trudchen,“ meinte er, und sie nickte. „Erst die Wirthschaft, Franz; uns gefällt es ja so gut in den lieben Räumen.“

Der Gartensaal war zum Speisezimmer umgeschaffen; daneben ein Salon mit dunklen Tapete und weichen Teppichen, an der Längswand das Hochzeitsgeschenk Onkel Heinrich’s, zwei große Oelbilder – eine sonnendurchleuchtete Waldlandschaft und eine Seeküste bei Gewitter. Hinter grünen üppigen Blattpflanzen leuchtete eine edle schöne Hermesbüste. Sofas, Sessel und Sesselchen überall, und wo es irgend anging, befand sich eine gefüllte Blumenschale.

Oben neben des Hausherrn Gemach war das der jungen Frau hergerichtet, dort stand jetzt des Vaters Bild hinter dem Nähtischchen am Fester. Die Thür, die die Gemächer verband, stand offen, und bunte, türkischgestreifte Vorhänge, weit zurückgeschlagen, ließen Trudchen von ihrem Fensterplätzchen just den Schreibtisch sehen, an dem er arbeitete. Und aus dem Fenster konnte der Blick hinausschweifen über den grünenden Garten zu den bewaldeten Bergen, und weit und weiter bis dort, wo sich der ferne Brocken in Wolken verhüllte.

Die junge Frau hatte alle Spinde eingeräumt, in der Küche war das letzte Stückchen des neuen Geschirres an die Haken gehängt und blinkte und glitzerte in dem hereinfallenden Sonnenstrahl, als wäre Alles eitel Gold. In der Speisekammer standen Büchsen und Töpfe in Reih’ und Glied, und mit glücklichem Lächeln drehte sie den Schlüssel im Schlosse und that ihn in das fuukelnagelneue Körbchen an ihrem Arme. „Komm, Franz,“ sagte sie, nachdem er diese Herrlichkeit hatte bewundern müssen, „nun wollen wir noch einmal durch alle Stuben gehen!“

„Es sind nicht viele, Trudchen,“ lachte er.

„O, genug für uns, Franz, wir brauchen nicht mehr.“

Und sie gingen durch den Gartensaal und freuteu sich über das stattliche Buffet und über die Lampe aus polirtem Messing, die über dem großen Eßtische schaukelte. Sie traten in den Salon und freuten sich wieder an den Bildern, welche die Sonne so schön beleuchtete, und dann blieben sie stehen, sahen sich in die Augen und küßten sich.

„Das ist Alles so, wie ich es gern habe, Franz,“ sagte sie, „einfach und gediegen; nur nichts Falsches, nichts Nachgemachtes. Ich hasse den Schein. es soll Alles echt sein, so echt und wahr wie meine Liebe und wie Dein Herz, Du großer lieber Mensch. – Und in der Wirthschaft ist jetzt Alles komplet,“ fuhr sie fort und nahm ein Fäserchen vom Teppich auf, „gar nicht zum Wiederkennen, es ist das schmuckste kleine Gut weit und breit. Franz, sieh, und das Alles hat noch lange nicht soviel gekostet, wie Jenny’s Aussteuer und Hochzeitsreise.“

Sie waren in die offene Saalthür getreten und der junge Mann sah mit leuchtenden Augen über den Garten hinweg und zu den Wirthschaftsgebäuden hinüber, die ihr schadhaftes Ziegeldach mit bläulich glänzendem Schiefer vertauscht hatten.

„Du hast Recht, Trudchen, es ist ein hübscher Anblick, wir wollen oft hier sitzen. – Und übermorgen beginnt der Bau der neuen Scheune; sie soll fertig sein, wenn wir den ersten Roggen einfahren.“

„Du,“ fragte sie neckend, „denkst Du noch immer so wie damals, acht Tage nach unserer Hochzeit, als wir zum ersten Male dieses Thema besprachen und Du Dich recht kindisch betrugst und absolut nichts von dem nehmen wolltest, was Dir von Gottes- und Rechtswegen zukommt? Und es lieber den Kühen in den Futtertrog regnen lassen wolltest und den Knechten in die Betten?“

„Nein,“ sagte er, „nicht mehr, Trudchen.“

„Warum, Du Eisenkopf?“

„Weil wir uns lieben, namelos lieben.“

„Das Beiwort ist gar nicht nöthig,“ tadelte sie.

„Glaubst Du nicht, daß man namenlos lieben kann?“ fragte er scherzend.

„Es klingt wie eine Phrase!“

Er lachte jetzt hell und zog sie an die Brüstung der Veranda. „Unser Heim,“ sagte er, „komm, laß uns durch den Garten und ein Stückchen in den Wald gehen!“

Und andern Tages öffnete Trudchen die Fenster der Logirstube und rüstete dort Alles aufs Beste. Festlich gedeckt stand die Tafel im Saale, und Franz fuhr mit der neuen Equipage nach der Stadt, um den Amtsrichter vom Bahnhofe abzuholen. Sie freute sich, ihn kennen zu lernen, Franz hatte ihr soviel erzählen müssen von dem Freunde, sie hatte sich königlich amüsirt [419] über die drollige Personalbeschreibung, wie er in den Gesellschaften mitunter nicht so recht vom Flecke komme und in der Absicht, ein Kompliment zu sagen, häufig eine wunderbare Grobheit herausbrächte zu seinem eigensten Erstaunen. Sie wollte sich ganz besonders für diese „Seele“ von einem Menschen, wie Franz ihn nannte, putzen; sie steckte eine Spitzenrosette ins Haar; das hatte Franz gern, es sah so frauenhaft aus, beinahe wie ein Häubchen. Als sie mit dem graziösen Attribut ihrer jungen Würde an den Toilettentisch trat, um in den Spiegel zu schauen, sah sie dort einen Maiblumenstrauß und um seinen Stiel gewunden ein Zettelchen.

„Von ihm, von Franz,“ flüsterte sie und würde roth vor Freude. Er hatte ihr so lächelnd „Adieu!“ gesagt. Eilig wickelte sie das Papier von den Blumen und las:

„Ich hab’ Dich ‚namenlos‘ geliebt!
Was schaust Du mich verwundert an?
Und warum fragst Du schier betrübt,
Wieso ich dieses Wort ersann?

Weil lieben schon so herrlich sei,
Daß es des Beiworts nicht bedürfe?
Es wär’, als ob man in dem Mai
Noch mit gemachten Blüthen würfe?

Du hast wohl Recht; doch gieb die Hand
Und hör’, wie mir die Worte kamen,
Als mir Dein Blick ins Herz gebrannt,
Da kannt’ ich längst nicht Deinen Namen.

Ich sah nur Deiner Augen Paar,
So süß, wie ich sie heute kenne,
Und wußt’ es gleich, daß Dein ich war,
Und wußte nicht, wie ich Dich nenne,

Noch wo Dein Haus, und wer die Deinen,
Und wer davon mir Kunde giebt!
Will Dir das Wort so recht erscheinen?
Ich hab’ Dich ‚namenlos‘ geliebt!“

„So redet er sich heraus,“ flüsterte sie mit seligen Blicken und drückte das Papier an die Lippen. „Ja freilich, das ist richtig, ‚namenlos‘!“ –

Es war ja ihr Lieblingsgespräch, daß sie sich schon gern gehabt, ehe sie wußten: woher, wohin? Sie war doch eine sehr glückliche Frau!

Und sie steckte die Maiblumen an die Brust, den kleinen Zettel in die Tasche, nahm den Schlüsselkorb und ging noch einmal im Speisezimmer musternd um die Tafel, und weil sie weiter nichts vorhatte im Moment, klopfte sie an Tante Rosa’s Thür, die nur durch einen schmalen Flur vom Saale getrennt war.

Die alte Dame saß am Fenster und „machte“ Rosen; es sollte eine Hochzeit im Dorfe sein um Pfingsten. Ihr gegenüber hatte ein kleiner Herr Platz genommen, der jetzt die eintretende junge Frau mit einer tiefen Verbeugung begrüßte.

„Bitte tausendmal um Entschuldigung, gnädige Frau – ich wollte Ihren Herrn Gemahl sprechen – höre, daß er ausgefahren ist, da hat mir das Fräulein gestattet, hier zu warten.“

„Was sagt er, Frau Gertrud?“ fragte die alte Dame, ihr die Hand reichend, „ich habe ihm gar nichts erlaubt, er kam herein – und da ist er.“

„Mein Name ist ‚Wolff‘, gnädige Frau,“ stellte sich der Agent vor.

„Müssen Sie meinen Mann heute nothwendig sprechen? Wir haben Besuch zu Mittag, es paßt sich schlecht; kann ich es nicht ausrichten?“ erkundigte sich Trudchen.

„O nein! Nein!“ wehrte er entschieden ab mit neuen Verbeugungen. „Ich muß Herrn Linden selbst sprechen, kann aber wiederkommen, ’s ist ja nicht so umständlich, bin früher täglich den Weg gegangen. Ich empfehle mich, wünsche den Damen ‚Guten Morgen‘!“

„Was er nur gewollt hat, Tantchen?“ forschte die junge Frau, als er gegangen.

„Nun, was er bei mir wollte, kann ich Ihnen sagen – ausfragen wollte er mich; am liebsten hätte er durch die Schlüssellöcher geguckt, um zu wissen, wie es aussieht bei Euch drüben. Aber setzen Sie sich doch, junges Frauchen!“

Die Beiden verstanden sich ganz gut. Zuweilen trank die alte Dame bei Trudchen Kaffee, und dann mußte sie viele Fragen beantworten. Ganz zufällig war es da herausgekommen, daß sie eine Schulkameradin von Trudchens Großmutter gewesen aus der engen Gasse. Unterweilen gingen sie auch zusammen spazieren, und Trudchen lernte die Dorfleute kennen, erfuhr, wo es Arme gab, und ein wenig von der Chronik des Ortes. Tante Rosa zeichnete in etwas schroffen Strichen, es gefiel ihr nicht leicht Jemand, dafür war aber Linden, nächst einer jungen Nichte, ihr Abgott. „Er ist so anständig,“ pflegte sie ihn zu loben, „ist galant, auch gegen die Alten.“ Und Trudchen vergalt ihr dies Kompliment und erklärte, sie könne sich das Haus gar nicht ohne Tante Rosa denken.

Heute litt es die junge Frau nicht lange in dem Rosenstübchen; es war sonderbar, sie ängstigte sich um ihren Mann. Wenn ihm nur nichts mit den neuen Pferden passirt, dachte sie und trat auf die Veranda. In Blüthenpracht lag der Garten unter der Mittagssonne vor ihr, einsam und still allenthalben. Dann flog ein Schatten über ihre Züge; dort hinten, unter den Kastanien, wo die Sonnenstrahlen wie goldene Flocken durch das Blättergewirr brachen, ging ein Mensch. Kein Zweifel – er war es, der aus Tante Rosa’s Stübchen. Wie kam er dazu, in den Garten einzudringen? Wo hatte sie doch seinen Namen schon gehört? Sie schreckte empor, als hätte sie etwas Unangenehmes berührt. „Wolff“ – der Name stand auf der Visitenkarte, die dem Blumenkorbe beigegeben war, der am Hochzeitsabend – – ja freilich! Aber sie hatte den Mann auch schon gesehen – wo doch gleich? Vielleicht bei Arthur, draußen in der Fabrik? Es konnte sein.

Sie hob den Kopf, und ihre Augen leuchteten wieder; dort bog der Wagen in das Gitterthor; er lenkte die Pferde, und im Fond des leichten Gefährts saß, neben dem erwarteten Freunde, Onkel Heinrich und schwenkte sein rothes Taschentuch.

Die Herren waren in allerbester Stimmung; es wurde eine lebhafte Begrüßung. „Jetzt sieht’s hier anders aus, Franz,“ sagte der kleine Amtsrichter und klopfte Linden auf die Schulter und schüttelte der jungen Frau die Hand; er war so vergnügt, daß er sich sogar nach Tante Rosa erkundigte.

„O, siehst Du, Kind,“ entschuldigte Onkel Heinrich sein Kommen, „ich wäre nicht schon wieder hier, aber der Wirth im ‚Deutschen Hause‘ ist gestorben hente früh – ich kann da nicht essen, ’s ist mir nicht möglich! Du hast doch Spargel?“

„Wird nichts verrathen, Onkelchen!“ Sie legte eben ihren Arm in den des alten Herrn und schritt zwischen ihren Gästen die Stufen hinauf. Oben wandte sie den Kopf zurück und trat dann rasch an die Brüstung der Veranda.

Dort stand dieser Wolff wie hingezaubert vor ihrem Manne, den Hut devot in der Hand, und sein Gesicht war eitel Lächeln.

„O, la la!“ sagte Onkel Heinrich, „wo kommt Der her, Trudchen?“

Der Amtsrichter sah unter seiner blauen Brille hervor mit gespannter Aufmerksamkeit auf die beiden Herren. Jetzt winkte Linden kurz mit der Hand, und sie schritten den Weg entlang, der nach dem Gittertore und zum Hofe führte; Wolff immer eifrig spreched.

Trudchen bog sich weit über das Eisengeländer; es kam ihr vor, als ob Franz unwillig sei. Nun standen sie still, Franz öffnete die Gitterthür und wies plötzlich mit einer nicht mißzuverstehenden sehr energischen Geberde hinaus. Herr Wolff zögerte, er sprach wieder; da noch einmal, noch heftiger die stumme Geberde, und wie ein Blitz verschwand der kleine Mann. Klirrend fiel die Thür ins Schloß und Franz kam zurück, aber langsam, als müsse er sich erst sammeln, und dunkelroth, wie nach heftigem Aerger.

Sie ging ihm entgegen, aber fragte nicht; vor den Gästen wollte sie ihn nicht zum Reden bringen. Sie drückte nur verstohlen seine Rechte und sprach heiter über die Freude, Besuch zu haben.

„Charmant!“ sagte er zerstreut, „aber bitte, Trudchen, unterhalte Dich mit Onkel Heinrich – Richard – komm einen Augenblick – ich muß – ich will Dir Deine Stube zeigen.“ Und die beiden Freunde gingen zusammen hinaus.

„Weißt Du auch, daß Du Nachmittag noch mehr Gäste bekommst?“ fragte der alte Herr, sich behaglich im Salon niederlassend. „Deine Mutter und Fredrichs; sie sind gestern früh zurückgekehrt. Tausend Wetter, sieht Frau Jenny fesch aus! Und, Gott sei Dank, ist auch das Milchgesicht, der Arthur, ein bischen von der Sonne angebräunt.“

[422] „Ja,“ sagte Trudchen, „er war noch vier Wochen mit ihnen an den italienischen Seen.“ Und als besinne sie sich jetzt erst: „Wie es mich aber freut, daß Mama gleich herauskommen will! Ach Onkel, wenn sie sich doch mit Franz aussöhnte!“

„I Was, Trudchen, sorge Dich nicht, wird sich schon machen; er ist auch nicht der Mann, der sich was gefallen läßt.“

„Was nur dieser Wolff von ihm wollte?“

„Hm! Wo, um Himmelswillen! bleiben sie denn aber?“ fragte ungeduldig der Onkel.

„Hungert Dich?“ erkundigte sie sich zerstreut.

„Hungern? Wie kann man so plebejisch fragen! Für den Hunger thut’s ein Gericht Schweinefleisch mit Rüben. Ich habe Appetit, mein Kind!. O, la la – der Spargel wird schlecht werden, wenn die Beiden so lange bleiben.“ –

Es war ein sehr behagliches Bild, das sich der Frau Baumhagen darbot, als sie nebst Jenny und Arthur vor den Stufen der Veranda anlangte. Man saß eben noch beim Nachtisch und Onkel Heinrich, die Serviette im Knopfloch, das erhobene Champagnerglas in der Hand, rief ihnen an der Saalthür ein kräftiges „Willkommen!“ entgegen, während das junge Paar eilig die Stufen hinabschritt; Trudchen mit purpurrothen Wangen. Sie war so stolz, so glücklich.

Frau Baumhagen sah erstaunt auf ihr Kind. Das blasse stille Mädchen war aufgeblüht wie eine Rose; „es sind noch die Flitterwochen,“ sagte sie sich, und unablässig folgten an diesem Tage ihre Augen der jüngsten Tochter.

Unter der Kastaniengruppe stand der Kaffeetisch, es war ein köstliches Fleckchen. Neben den grünen Rasenflächen, an prächtig belaubten Bäumen vorbei schweifte der Blick zu dem gemüthlichen alten Wohnhause hinüber mit seinem epheubewachsenen Dache und dem hohen Giebelfeld. Die Thüren des Gartensaales standen offen, an der Fahnenstange flatterte lustig ein schwarz-weißer Wimpel.

„Ein Idyll, wie eine Idylle von Voß!“ lachte der kleine Amtsrichter.

Der junge Hausherr führte galant die Schwiegermutter durch die Gartenwege; jede Wolke war von seiner Stirn geschwunden, er war heiter und liebenswürdig.

„Aber sehr sicher!“ raunte Frau Jenny ihrer Mutter später zu, „er fühlt sich als Wirth und Hausherr.“

Das unbehagliche Gefühl, das ihn sonst seiner Schwiegermutter gegenüber nicht verlassen hatte, war gewichen; zu ihrem Erstaunen erlaubte er sich, ihr ein paarmal ganz ruhig zu widersprechen, das hatte Arthur nie gewagt. Und Trudchen, wie lächerlich! Während sie in ihrer ruhigen Weise am Kaffeetisch waltete, flogen ihre Augen beständig zu ihm hinüber, sobald er sprach. „Wie Du willst, Franz !“ – „Was meinst Du dazu, Franz?“ Und auf eine Einladung der Mutter, Trudchen möge doch am morgenden Geburtstage der Tante Stadträthin als Gratulantin nicht fehlen, fragte sie lieblich bittend: „Erlaubst Du, Franz? Kann ich den Wagen bekommen?“

„Sicher, Trudchen!“ war die Antwort.

Da legte Frau Baumhagen ihre zierliche Kaffeeserviette auf den Tisch und lehnte sich weit zurück in den Gartensessel; das Kind war wohl nicht recht gescheit! Das ging über alle Begriffe! Arthur Fredrich aber klatschte lebhaft Beifall; „Trudchen,“ rief er über den Kaffeetisch hinweg, „sprich hier zu dieser –“, er faßte die Hand seiner Frau, die sie ihm ärgerlich zu entwinden suchte, „wie sagt doch Käthchen als liebenswürdige Ehefrau zu ihrer Schwester? ‚Dieselbe Treue und Ergebenheit, wie sie der Unterthan dem Fürsten zollt, die schuldet auch das Weib dem Eheherrn.‘ Ist’s nicht so? Ach, es klingt so süß für unser Einen, wie eine Botschaft aus der bessern Welt!“

„Gewiß!“ lachte Trudchen, nicht im mindesten verletzt von dem ironischen Tone, „‚der Gatte ist der Herr und der Erhalter, das Licht, das Haupt, der Fürst; er sorgt für Dich, giebt seinen Leib mühsel’ger Arbeit preis, wenn Du im Hause warm und sicher ruhst, und fordert zum Ersatz nicht andern Lohn als Liebe, freundlich Blicken und Gehorsam. Zu kleine Zahlung für so große Schuld!‘ Du siehst, Arthur, ich habe meinen Shakespeare im Kopfe.“

Frau Baumhagen hob urplötzlich den gemüthlichen Kaffeetisch auf; sie schien echauffirt, denn sie wehte sich heftig Kühlung zu mit dem Taschentuche.

„Gertrud, Du mußt uns noch die Einrichtung zeigen!“ erklärte sie. „Komm, Jenny, wir wollen die Herren allein bei ihren Cigarren lassen!“

„Gern, Mama,“ sagte die junge Frau unbefangen. Sie führte Mutter und Schwester durch Küche und Keller, durch die Zimmer, durch däs ganze Haus. Im Gartensaal war eine junge hübsche Frau in blendend weißer Schürze beschäftigt die Tafel abzuräumen. Trudchen gab ihr im Vorbeigehen leise einen Befehl.

„Das ist ja die Johanne, deren Mann damals verunglückte!“ sagte Jenny.

„Ja,“ bestätigte die Schwester, „ich habe sie als ‚Mamsell‘ engagiert. Sie ist sehr tüchtig und ich möchte gern ein bekanntes Gesicht um mich haben.“

„Mit dem Kinde?“ fragte spöttisch die Mutter.

„Das versteht sich,“ erwiderte die junge Frau. „Sie wohnt im Seitengebäude; ’s ist eine Lust, wie der kleine Kerl hier draußen gedeiht.“

„Wer wohnt auf dieser Seite des Hauses?“ erkundigte sich Jenny weiter.

„Die Tante Rosa.“

„Barmherziger! Wohl eine Art Schwiegermutter?“ rief die Schwester erschreckt.

Trudchen schüttelte den Kopf.

„Nein, sie ist eine ganz harmlose Person, ein altes Hausinventar – so zu sagen. Aber ich möchte gern, daß Franz seine Mutter hernimmt; die alte Frau ist so allein und es geht ihr recht kümmerlich.“

Jenny lachte hell auf, Frau Baumhagen aber rauschte so heftig in das nächste Zimmer, daß alle Schleifen ihrer etwas jugendlich arrangierten Trauertoilette flatterten und wogten.

„Trudchen!“ rief Jenny, „Du wirst doch nicht so von Sinnen sein?“

Die junge Frau antwortete nicht. Sie öffnete gelassen eine Schrankthür im Korridor und sagte: „Das ist die Gesindewäsche, Jenny; wir müssen viel haben auf dem Lande; dort die Spinde für andere Wäsche und für Porcellan, hier ist mein Zimmer. Bitte, Mama!“

„Hätte etwas weniger einfach sein können,“ bemerkte die Mutter, die ihr Gleichgewicht wiedergefunden; nur die Röthe der Erregung lag noch auf dem runden Gesicht.

„Ich wollte nicht so sehr abstechen von Franz, und der hat seine alten Möbel behalten; wir sind ja überhaupt nur ganz kleine Gutsbesitzer, Mamachen, und haben eben erst angefangen.“

Die Frau Mama räusperte sich und nahm Platz in einem der kleinen Fauteuils. Jenny ging im Zimmer umher und beschaute die Nippes und Bilder, wobei sie leise vor sich hinsummte. Trudchen aber stand gedankenvoll vor der Mutter, und wie Eis legte es sich um ihr Herz. Es war das alte Gefühl von Fremdsein, das sie immer und immer wieder zurückdrängte von Mutter und Schwester; Nichts war ihnen gemeinschaftlich. Es that ihr noch immer so unendlich leid, aber sie empfand nicht den herben Schmerz wie früher. Langsam senkte sich ihre Hand in die Tasche des Kleides und faßte leise ein knisterndes Papier: „Ich hab Dich namenlos geliebt!“ Ach, es war ein Ersatz für Alles, Alles, und fröhlich hob sie den Kopf. „Aber Ihr habt mir noch gar nicht erzählt von Eurer schönen Reise, und Eure Briefe waren so kurz.“

„Ja,“ sagte Jenny gähnend und nahm eine Terrakottafigur in die Hand, sie von allen Seiten betrachtend, „es war himmlisch in Nizza; man fühlt so recht, in welch kleinen Kreisen man vegetirt, nun man zurück ist – es leben die deutschen Kleinstädte!“

„Nächstes Jahr gehen wir wieder hin, so Gott will,“ fügte Frau Baumhagen hinzu, „nur möchte ich von Arthur’s Begleitung absehen; er war genau so kindisch, wie seiner Zeit Euer Vater. Jenny sollte dies nicht thun und jenes nicht thun, hier nicht hingehen und dort nicht stehen bleiben, er kehrt bei solchen Gelegenheiten den richtigen deutschen Spießbürger heraus, als ob wir Frauen nicht ganz von selbst das Rechte fänden.“

Frau Jenny setzte sich ebenfalls. „Laß nur gut sein, Mamachen, er büßt noch immer für seine Albernheiten. Die Scene, die er uns in Monte Carlo machte, habe ich ihm noch lange nicht vergessen.“

„O ja, die Stimmung zwischen Euch ist eine äußerst angenehme, das weiß Gott!“ erklärte die Mutter. „Uebrigens,“ sie [423] nahm die kleine kostbare Uhr aus dem Gürtel, „ich glaube, es wird Zeit, Jenny, daß wir heimfahren; wir wollen Deinen Mann holen; kommt!“

Die drei Damen kehrten in den Garten und an den Tisch zurück, wo die Herren jetzt bei einem Glase Bier und Cigarren sehr behaglich plauderten. Franz war in eifriger Unterhaltung mit Tante Rosa, die in ihrem herrlichsten Putz auf dem Platz thronte, den kurz zuvor Frau Baumhagen verlassen hatte. Trudchen beeilte sich, Mutter und Schwester der alten Dame vorzustellen. Es ging nicht anders, man mußte anstandshalber noch ein wenig Platz nehmen; Frau Baumhagen mit gelangweilter Miene, Jenny mit kaum verhehltem Amusement über die wunderliche kleine Alte.

„Trudchen,“ begann Franz, „Tante Rosa kam, um uns mitzutheilen, daß sie Besuch erwartet.“

„Es stört doch hoffentlich nicht?“ wandte sich die alte Dame an die Hausfrau; „meine Nichte hat mich bis jetzt jedes Jahr besucht. Sie wissen ja von mir, daß das Kind Wald und Berge leidenschaftlich liebt und mich Alte ein wenig aufheitert.“

„Das hübsche kleine Fräulein, von dem Sie uns schon so oft erzählten, Tante Rosa?“ fragte Trudchen liebenswürdig; und als jene eifrig nickte, fuhr sie fort: „O, sie ist von Herzen willkommen, nicht wahr, Franz? Wann trifft denn der Gast ein, und wie heißt sie eigentlich?“

„In den nächsten Tagen erwarte ich sie, und Adelheid Strom heißt sie,“ berichtete Tante Rosa; „‚Heidchen‘ nenne ich sie immer.“ Und nun begann sie eine Verwandtschaftserklärung, wobei der ganzen Gesellschaft schwindlig wurde. „Meiner Mutter Schwester hatte einen Strom, und deren Stiefsohn ist der Vetter von Adelheid’s Großvater –“

Wieder erhob sich Frau Baumhagen sehr geräuschvoll. „Ich muß heim,“ sagte sie, das Gespräch unterbrechend, „es ist die höchste Zeit.“

Jenny, die hinter ihres Gatten Sessel getreten war, legte die Hand auf seine Schulter: „Bitte, den Wagen bestellen!“

„I, was fällt Dir denn ein, Kind?“ sagte er ärgerlich, „wir sind ja eben erst gekommen!“

„Aber Mama wünscht es!“

„Mama? Warum denn?“ fragte er kurz, „wir sind hier in der gemüthlichsten Unterhaltung.“

„Bleiben Sie doch zum Abend, gnädige Frau,“ bat Franz seine Schwiegermutter höflich.

„Ich habe etwas Kopfweh,“ war die Antwort.

Herr Arthur griff sich verzweifelt in seine blonden Haare. Dieses „Kopfweh“ war ja die Keule, mit der beständig jede Vernunftsvorstellung zu Boden geschmettert wurde.

„Gut, so fahrt!“ murmelte er ingrimmig, „ich komme schon mit Onkel Heinrich nach Hause.“

„Ja wohl, ja wohl, lieber Neffe!“ rief der alte Herr vergnügt, „ist mir sehr angenehm, daß Du bleibst; wir wollen den Mosel probiren; wie, Franz?“

„Der Onkel hat mir zur Hochzeit den Weinkeller eingerichtet,“ erklärte der junge Hausherr, indem er sich erhob, um den Wagen zu bestellen.

„Und so kostbar!“ fügte Trudchen hinzu.

„O la la!“ Der alte Herr war aufgestanden und half mit etwas asthmatischer Höflichkeit seiner Schwägerin beim Umlegen des Mantels. „Es war purer Egoismus, Ottilie; nur damit man seinen gewohnten Tropfen kriegt, wenn man hier wegmüde und durstig anlangt.“

„Trudchen,“ flüsterte Jenny und zog die Schwester etwas abseits, „wie kannst Du so thöricht sein und Dir ein junges Mädel ins Haus schmuggeln lassen? Ich sage Dir, es ist geradezu fürchterlich, überall sind sie, immer wissen sie sich bemerkbar zu machen, überall wollen sie helfen und stets sind sie von einer rührenden Aufmerksamkeit gegen den Hausherrn. Es ist wirklich rücksichtslos von der Alten, daß sie Dir dies zumuthet; erfinde doch irgend etwas, daß das Mädel nicht kommt. Ich spreche aus Erfahrung, Herzchen; Arthur hatte einmal eine Kousine eingeladen, Du weißt ja; Herr Gott, ich bin bald gestorben vor Aerger!“

Trudchen lachte.

„Ach Jenny,“ sagte sie kopfschüttelnd. Dann eilte sie ihrer Mutter nach, die bereits im Wagen saß. „Kommt bald einmal wieder,“ bat sie freundlich, als auch Jenny Platz genommen.

„Ich erwarte zunächst Euren Besuch,“ war die Antwort; „Ihr werdet wohl überhaupt daran denken müssen, ein paar Besuche zu machen in der Stadt.“

„Wir haben in der That noch nicht daran gedacht,“ erwiderte Trudchen heiter.

„Bitte, sorge, daß Arthur nicht erst in sinkender Nacht zurückkehrt. Onkel Heinrich sitzt, wo er sitzt,“ schalt Frau Jenny ärgerlich.

Und fort rollte der Wagen.

[438] Es war spät geworden, ehe Onkel Heinrich und Arthur ihren Heimweg antraten und spät, ehe der kleine Amtsrichter sein Zimmer aufsuchte. Sie hatten alle Drei noch lange in Franzens Wohnstube gesessen und gesprochen von alter und neuer Zeit.

„Das kann ganz lustig bei uns werden,“ meinte Franz, „wenn Tante Rosa’s Nichte kommt; Du bist dann auch nicht mehr so allein, Trudchen, wenn ich lange auf dem Felde zu thun habe.“

„Ich vermisse Niemand,“ erwiderte sie ruhig, „ich habe nie eine Freundin gehabt, jetzt aber erscheint es mir mehr als überflüssig.“ Und sie blickte zu ihm hinüber mit ihren tiefen Augen.

„Gnädige Frau,“ erkundigte sich der Amtsrichter, der eben den Rest seiner Cigarre in eine Meerschaumspitze steckte, „hat er Sie denn auch angedichtet?“ Und er wies verstohlen lächelnd auf Franz.

Trudchen wurde roth. „Gewiß!“ antwortete sie.

„Ja, das Dichten kann er nicht lassen,“ neckte der Kleine und schlug den Freund auf die Schulter. „Ich sage Ihnen, gnädige Frau, zuweilen ergriff’s ihn wie ein Fieber; und was so ein Mensch alles besingt! Die Poeten sind wirklich geborne Lügner; in dem Moment, wo die süßen Verse aufs Papier strömen, glauben sie freilich selbst jedes Wort, was sie schreiben – ’s ist wirklich rührend!“

„Aber ich bitte Dich, Richard,“ lachte halb ärgerlich der junge Hausherr.

„Ist’s etwa nicht wahr?“ fragte der Amtsrichter. „Denke doch nur an Dein berühmtes Gedicht von der Zigeunerin! Ich war ja dabei, als Du auf dem Römerberg die braune Maid erblicktest, und am Abend schon stand in Deinem Notizbuch, daß sie

‚Beschwingten Fußes durch die Straßen irrt,
Mit wirrem Haar und schwarzen scheuen Augen,
Darin die Sehnsucht nach der Haide lag
Und nach dem Wind, der durch das Riedgras schwirrt, –‘

Und was war’s? Ha! ha! Aus der Judengasse stammte sie und fragte in den Häusern herum: ‚Habens Hasenfelle, Hadern, Lumpe?‘“

Alle Drei lachten, Trudchen am herzlichsten. dann ward sie plötzlich nachdenklich.

„Du bist ein boshafter Mensch,“ erklärte Franz und erhob sich, um ein Licht anzuzünden. „’a ist apät, Richard, und unsereiner wird früh wach.“

Als sich die Herren dann vor dem Gastzimmer gute Nacht wünschten, sagte der Amtsrichter: „Na, Franz, ich gratulire, Du hast das große Loos gezogen; so ein liebes kleines verständiges Weib! Und das Andere – Goldsohn, was habe ich Dir gesagt von diesem Menschen? Na, gute Nacht! Ein charmanter Onkel übrigens, dieser Onkel Heinrich – nun mach’, daß Du wegkommst.“

Trudchen stand am offenen Fenster in ihrem Zimmer und sah in die schwüle Nacht hinaus; nur schwach drang der Lampenschein aus dem Nebenraum herüber. Es waren dunkle Wolken heraufgezogen, fern über den Bergen zuckte ein Wetterleuchten, und im Garten schlug und schluchzte ein Chor von Nachtigallen.

„Trudchen!“ klang es hinter ihr.

„Franz!“ erwiderte sie und legte den Kopf an seine Schulter. „Horch, horch! Es ist so schön heute Abend.“

Er stand eine ganze Weile schweigend; das Gespräch von heut Nachmittag ging noch in seinem Kopfe herum; der Onkel hatte nicht begriffen, warum der junge Mann nicht aus seinem Walde Bauholz schlagen ließ. Es war aber Alles zu sehr ausgeholzt, und frische Anpflanzungen kaum gemacht.

„Sage, Trudchen,“ begann er plötzlich, „wo liegt denn eigentlich die Villa ‚Waldruhe‘?“

Die junge Frau an seinem Arme fuhr auf wie von einer Schlange gebissen. „Unsere – meine Villa?“ stieß sie athemlos hervor, „woher weißt Du – wer sprach Dir von der Villa?“

Er blieb stumm. „Ich kann mich nicht besinnen, wer,“ sagte er nach einer Pause, „irgeud Jemand muß mir doch davon geredet haben, daß ein kleiner Wald, ein Naturpark dabei ist. Aber, Gertrud, was ist Dir denn?“ fragte er. „zitterst Du?“

„Ach, Franz, wer hat Dir davon erzählt?“ wiederholte sie, „und was?“ Es klang so traurig, daß er sofort empfand, er habe sie verletzt.

„Trudchen, habe ich Dir weh gethan? Ich bitte tausendmal um Verzeihung, ich dachte an nichts weiter als an billige Hölzer, die ich möglicherweise zum Winter dort schlagen lassen könnte.“

„Bauholz? Dort? Es ist ja nur ein Park. Ach Franz –“

„Aber was heißt denn das?“ fragte er etwas ungeduldig. „Ich kann doch unmöglich wissen –“

„Nein, Du kannst es nicht wissen,“ bestätigte sie. „Es war nur der Schrecken – ich hätte Dir es längst mittheilen sollen, es wird mir nur so furchtbar schwer, davon zu sprechen. Du sollst es auch hören, aber – sage mir, wer Dir davon erzählte!“

„Wenn ich doch die Versicherung gebe, Kind: ich weiß es nicht mehr.“

„Franz,“ sagte die junge Frau stockend und leise, „da draußen – in der ‚Waldruhe‘, ist mein armer Vater gestorben –“

„Mein Frauchen!“ tröstete er.

„Er ist dort – er hat – sich selbst das Leben genommen.“ Es klang kaum hörbar.

Er bog sich erschreckt zu ihr. „Armes Kind, das wußte ich nicht, daran wollte ich nicht rühren.“

„Und ich, Franz, ich habe ihn gefunden. Er hatte sich die ‚Waldrnhe‘ gebaut, da war ich noch ein Kind, und er zog sich wochenlang dorthin zurück. Es ist so schwer darüber zu sprechen – er war nicht glücklich, Franz, – ach, erlaß mir das! Mama verstand ihn nicht, und da, Weihnacht war’s, am ersten Feiertag, ich wußte, sie hatten wieder einen Wortwechsel gehabt; ein Wortwechsel ist nicht das Rechte, Papa widersprach ihr eigentlich nie, versuchte auch gar nicht Mamas Weinen und Jammern zu unterbrechen. Nach einer Weile hörte ich den Wagen fortrollen. Das war früh – mich packte eine seltsame Angst, und nach Tisch nahm ich Hut und Mantel und lief aus dem Bergedorfer Thor und die Chaussée entlang, immer weiter und weiter bis nach ‚Waldruhe‘. Und ich wunderte mich, daß die Läden in seinem Zimmer nicht geöffnet waren, ich sah doch die frischen Wagenspuren vor dem Hause. Die Gärtnerfrau, die im Hofgebäude wohnt, sagte, der Herr sei droben. Er war auch oben – ja – aber todt!“

Sie stand neben ihm, von seinem Arm umfaßt, wie sie das erzählte. Er fühlte ihr Zittern und wie kalt ihr die Hände. „Höre auf, mein Herz,“ bat er erschüttert, „Du machst Dich krank!“

„Ja, ich war krank, Franz, jahrelang,“ sagte sie. „Es war eine fürchterliche Zeit; ich konnte meiner Mutter nicht vergeben. Von diesem Augenblick that sich die Kluft auf, die zwischen uns liegt; und keine Brücke wollte hinüberreichen. Zum Sterben arm war ich, bis ich Dich fand, Franz. Aber die Villa? – ja, sie gehört mir, Papa hatte sie schon damals für mich bestimmt, als er sie baute. Ich habe dort ruhige schöne Zeiten mit ihm verlebt, – aber jetzt ist mir jeder Gedanke an das Haus schrecklich. Es steht öde und verlassen, ich habe es nie wieder aufgesucht. Es ist so grauenhaft, Franz, einen Menschen, den man verehrt und geliebt, so zu finden – so –“

„Verzeihe mir, Trudchen!“ bat er weich.

„Du konntest es nicht wissen, Franz. Es weiß Niemand davon außer uns, der Familie.“ Und als wollte sie ihn auf andere Gedanken bringen, fuhr sie hastig fort: „Ich danke Dir auch, Schatz, wie ist das Gedicht so schön ‚Du hast mich namenlos geliebt!‘“ Und sie streichelte seine Hand und drückte sie an die Lippen.

„Mein armes kleines Trudchen!“

So standen sie noch eine Weile, und an ihuen vorüber zogen die Wonnen des Frühlings, Duft und Lieder.

„Das Gewitter kommt herauf,“ sagte er endlich, und sie entwand sich seinen Armen und ging aus dem Zimmer. Franz hörte sie auf dem Korridor leise hin und her gehen, die Thüren und Fenster schließen und mit den Schlüsseln klappern. Sie sah nach, ob Alles versorgt und verwahrt zur Nacht.

Er legte die Hand an die Stirn und sann; wer hatte ihm von der Villa gesprochen? und er ging hinüber in sein erleuchtetes [439] Zimmer, als könne er dort besser nachdenken. Nach einem Weilchen kam die junge Frau zurück, das Schlüsselkörbchen am Arm. Das liebe Gesicht wandte sich zu ihm empor.

„Franz,“ sagte sie, „was wollte doch heute der Agent von Dir?“

Er sah sie starr an, als sei ein Blitz vor ihm niedergefahren. „Richtig, richtig!“ Und er schlug sich vor die Stirn, als falle ihm plötzlich ein, wonach er vergeblich gesucht.

„Was er wollte? O, nichts, Trudchen, gar nichts von Belang.“

Sie blickte ihn erstaunt an, aber sie schwieg. Es war nicht ihre Art, zum zweiten Male zu fragen, wenn sie keine Antwort bekam. Es mochte ja auch wirklich nichts von Belang sein.


In der Nacht hatte es stark gewittert, aber die Natur schien heute keine Lust zu haben, ihr kokettestes Kunststückchen auszuführen; sie lachte nicht wie sonst doppelt fröhlich in Himmelsbläue und Sonnengold auf Wald und Fluren; verdrießlich spannte sich ein graues Zelt über die Landschaft, so gleichförmig vertheilt, daß die Sonne auch nicht ein Ritzchen fand, nur einen freundlichen Gruß hinunter zu schicken, und es regnete; so ein richtiger Landregen war es, unverdrossen, ohne Aufhören.

Franz kehrte vom Felde heim, er freute sich über das Wetter; und Trudchen winkte aus dem Fenster, wie jeden Morgen.

„Alle Blüthen sind verregnet, Franz,“ rief sie ihm hinunter; „wie schade –!“

Er kam besonders gut gelaunt herauf. „Der Regen ist nicht mit Geld zu bezahlen, Liebling,“ sagte er; „nun bin ich nämlich schon so weit wie ein richtiger Oekonom, meine Stimmung hängt vom Wetter ab.“

„Meine auch!“ bemerkte die junge Frau, „so ein grauer Tag macht mich melancholisch.“

Er trat zu ihr, die an ihrem Schreibtisch saß und in Papieren und Büchern kramte. „Sieh einmal, Franz,“ und sie hielt ihm ein Päckchen entgegen, zierlich mit blauem Band gebunden, „das sind lauter Verse von Dir, der Reihe nach geordnet; wenn wir einst silberne Hochzeit feiern, lasse ich sie drucken und einbinden. Diese, auf dem crêmefarbigen Papiere, sind aus der Brautzeit, und diese verschiedenen Fetzen, weiß und blau und grau, die sind von jetzt, wo Du jedes Papier nimmst, das Dir in die Hände kommt, weil Du vermuthlich denkst, für die Frau Trude ist es gut genug.“

Sie sah ihn lachend an; er hatte sich tief zu ihr gebeugt.

„Und jetzt kaufe ich mir noch ganz besonderes Papier zu den nächsten Gedichten, Trudchen.“

„Warum?“

„Kunterbunt, wie die Klapperstörche Tüten unter den Flügeln haben. Und darauf schreibe ich.“

Sie war purpurn erglüht, „ein Wiegenlied –“ sagte sie leise ergänzend.

Er nickte und zog ihre Hand an den Mund. Sie aber schlang beide Arme um seinen Hals. „Dann wäre es erst traut, erst heimlich, Franz. Dann hätten wir uns noch lieber – wenn’s möglich ist.“

„Hier, kleine Frau, das habe ich Dir heute im Felde, im Regen, aufgeschrieben!“ Er zog sein Notizbuch aus der Tasche und legte es in ihre Hände. „Ich will einmal nachschauen, wo sich der Amtsrichter umhertreibt, der Sakramenter!“ rief er von der Thür noch zurück. Und sie saß schon und las, und ihr Antlitz war so ernst, als lese sie in der Bibel.

Sie schreckte empor von dem Knall einer Peitsche vor den Fenstern, eilig blickte sie hinaus – dort unten hielt der Baumhagen’sche Wagen; der Kutscher im weißen Gummirock und ebensolchen Hutüberzug, die Eisenschimmel anzuschauen wie ein Paar Rappen, so naßgeregnet. Sie öffnete das Fenster, zu sehen, ob Jemand aussteige, es rührte sich nichts; dann kam Johanne, der Kutscher reichte ihr einen Brief und sie lief eilig ins Haus zurück.

Die junge Frau durchzuckte es wie ein Schrecken; ein Unglück zu Hause? Sie flog zur Thür. „Ein Brief, gnädige Frau!“ Hastig riß sie das Kouvert auf:

 „Komme sofort; muß Dich nothwendig sprechen.
 Deine Mutter.“

Das war der orakelhafte kurze Inhalt des Billets.

„Bringen Sie mir die Sachen, Johanne, und benachrichtigen Sie meinen Mann.“

„Franz,“ rief sie ihm entgegen, als er rasch eintrat, „irgend etwas ist passirt!“

„Aengstige Dich doch nicht,“ bat er, ohne seine Unruhe ganz verbergen zu können.

„Ja ja! Gott, wenn ich nur erst wüßte, was! Mir ist so schwer ums Herz.“

Er nahm dem Mädchen die Sachen ab und legte den Mantel um Trudchens Schultern.

„Wenn es nur kein Krach ist mit Arthur und Jenny! Sie waren wunderlich mit einander gestern.“

Trudchen sah ihn kopfschüttelnd an. „Nein, nein, sie sind nie anders zusammen gewesen.“

„Dann wundert’s mich, daß er nicht schon längst davon gelaufen ist,“ sagte er trocken.

„Oder sie,“ gab Trudchen zurück und band die Hutschleife.

„Ich ertrüge solch ewige Katzbalgerei nicht, Trudchen;“ er knüpfte ihr dabei den linken Handschuh zu.

„Ich auch nicht, Franz. Leb wohl! Ihr müßt mich beim Essen entschuldigen. Gott gebe, daß es nichts Schlimmes ist.“

Sie sah sich noch einmal im Zimmer um, ging dann rasch an den Nähtisch und schob das Notizbuch in die Tasche.

Als der Landauer ein paar Momente später das Gitterthor passirte, bog sich ihr Köpfchen noch einmal aus dem Wagenfenster. Er stand auf der Treppe und sah ihr nach; nun nahm er den Hut ab und schwenkte ihn. Wie hübsch er war, wie stattlich und wie gut!

Sie lehnte sich in die Polster zurück. Es war ihr bange – das erste Mal, daß sie ohne ihn das Haus verließ. Es kamen ihr so wunderliche Gedanken, wie schrecklich es wäre, wenn sie ihn nicht gefunden, oder gar – wenn sie ihn verlieren müßte! Ob sie wohl noch leben könnte, dann?

Leben – ja; aber wie!

Furchtbar, Wittwe zu sein! Noch furchtbarer, sich zu trennen, der Eine hier – der Andere dort, grollend oder gleichgültig!

Ob Jenny und Arthur wirklich –? Herr Gott im Himmel, bewahre uns vor solchem Leid!

Sie sah aus dem Fenster; der Kutscher fuhr in schwindelndem Tempo. Dort vor ihr im Dunst lag die Stadt. Wieder wanderten ihre Gedanken; schneller noch als die Fahrt. Sie zog das Notizbuch aus der Tasche, sie wollte lesen, aber die Buchstaben verrannen vor ihren Augen; sie schob es wieder an seinen Platz.

Auf dem Boden zu Hause stand noch die alte Wiege, in der einst Papa gelegen, und Jenny und sie. Die Großmutter aus der engen Gasse hatte sie zur Aussteuer bekommen. Die wollte sie dereinst sich holen, wenn Gott ihr jenen Wunsch erfüllen würde. Jenny’s Liebling hatte in einem anderen Bettchen gelegen, die alte plumpe Wiege paßte nicht in das elegante Schlafzimmer der jungen Mutter; aber in die schlichte Stube zu Niendorf, wo der Wein sich ums Fenster rankte und der alte große Kachelofen so breit und gemüthlich stand, da war sie an ihrem Platz, just zwischen Ofen und Wandschrank, so recht traut und heimlich. Sie lächelte glücklich wie ein Kind; daß ihr Leben so schön, so reich werden solle, sie konnte es gar nicht glauben.

Der Wagen rasselte jetzt durch das Stadtthor, sie war gleich daheim, und ihr Herz begann stürmisch zu klopfen. Wenn sie doch erst wüßte!

Der Hausmann öffnete ihr den Schlag und sie stieg die Treppe empor, vorüber an Jenny’s Wohnung; die Entréethür zur mütterlichen Etage stand geöffnet. Niemand zu sehen, und sie trat in den Flur. Wie grüßte sie Alles so lieb und vertraut, selbst die Standuhr erhob ihre Stimme, eben schlug sie dreiviertel auf Zwei. Sie legte den Mantel ab und ging zu dem Zimmer der Mutter hinüber. Auch hier die Thür nur angelehnt. Im Begriff einzutreten, zog sie plötzlich die Hand zurück.

„Und ich sage Dir, Ottilie, daß es der unüberlegteste Streich Deines Lebens ist, wenn Du dem Kinde das Alles so unvorbereitet ins Gesicht wirfst. Mag es wahr sein oder nicht, wozu willst Du ihr junges Glück zerstören? Da giebt es doch andere Mittel und Wege!“

Es war Onkel Heinrich; er sprach im Tone tiefster Entrüstung.

„Sie soll es von Fremden erfahren?“ scholl die Stimme der weinenden Mutter; „die ganze Stadt erzählt es sich, und sie soll wie eine Blinde umhergehen?“

[440] „Ich zittere an allen Gliedern,“ hörte Trudchen jetzt Jenny, „es ist empörend, wir sind auf ewig lächerlich gemacht! Gestern Abend erst sagte ich noch zur Frau von S.: ‚Sie können sich nicht vorstellen, welch ein idyllisches schäferhaftes Glück da draußen in Niendorf seinen Wohnsitz hat!‘“

„Zum Henker mit Eurer Logik! Ich sage Euch –“ rief jetzt der kleine Herr zornig. Aber er verstummte jäh, dort auf der Schwelle stand Trudchen Linden.

„Sprecht Ihr von uns?“ fragte sie, und ihre erschreckten Augen irrten über die Anwesenden und blieben an der Mutter hängen, die bei ihrem Erscheinen weinend in den Sessel zurücksank.

„Ja, Kind!“ Der alte Herr war zu ihr geeilt und suchte sie hinauszudrängen. „’S ist ein unüberlegter Streich von Deiner Mutter gewesen, daß sie Dich holen ließ, es ist nämlich gar nichts Schlimmes passirt, so eine dumme Rederei, ein Mißverständniß, lächerlich! Komm erst mal herüber in ein anderes Zimmer, ich will es Dir erklären.“

„Nein, nein, Onkel, ich möchte es wissen, genau wissen!“ Sie zog ihre Hand aus der seinen und schritt zur Mutter hinüber. „Hier bin ich, Mama, nun sage mir Alles, aber rasch – ich bitte Dich.“

Sie sah aus todtenbleichem Antlitz zu der weinenden Frau hinunter, und so stand sie in ihrer einfachen Sommertoilette fast regungslos, nur die Bänder des Hütchens, die zur Seite des Gesichtes in einen leichten Knoten geschürzt waren, bebten in raschen Schlägen und gaben Kunde von ihrer furchtbaren Erregung.

„Ich kann’s ihr nicht sagen,“ schluchzte Frau Baumhagen, „sag Du es, Jenny!“

Sofort wandte sich Trudchen zu der Schwester. Die junge Frau schlug die Augen nieder und wickelte die schwarzen Sammetschleifen ihres Morgenkleides nervös um die Finger.

„Dein Mann ist in eine unangenehme Situation gerathen,“ begann sie leise.

„In wiefern?“ fragte Trudchen.

„Eine fatale Geschichte ist es, aber nicht darnach angethan, solche Leichenbittergesichter zu machen,“ polterte der alte Herr, der am Fenster stand.

„Er hatte –“ Frau Jenny stockte wieder, „gestern ein Gespräch mit Wolff.“

„Das weiß ich.“ bestätigte Trudchen.

„Wolff hat eine Forderung an ihn, eine sehr diskrete Forderung; Dein Mann will sie nicht anerkennen, und –“

„So kommt in drei Teufels Namen zu Ende!“ Der alte Herr schlug zornig auf das Fensterbrett, „wollt Ihr der Frau das Gift tropfenweise geben?“

Er faßte wieder Trudchens Hand und suchte nach Worten.

„Sieh, Trudchen, es ist so schlimm nicht; es kommt manchmal vor, und der Wolff mag sich auch aufgedrängt haben – kurz und gut, er ist so ein lebendiges Lexikon, kennt alle Menschen hier herum, und was Einer wissen will, das erfährt er sicher bei ihm. Da hat Dein Mann sich nun – na, wie soll ich mich denn ausdrücken? – hat sich nach Deinen Verhältnissen erkundigt, verstehst Du? – ehe er um Dich anhielt, voilà tout. Es kommt hundertmal vor, Kind, Du bist vernünftig, nicht wahr, Trudchen?“

Die junge Frau stand wie eine Statue, nur allmählich kehrte die Farbe wieder auf ihr Antlitz zurück.

„Das ist eine Lüge!“ sagte sie hoch aufathmend. „Deßhalb habt Ihr mich holen lassen?“

„Aber Wolff war bei mir,“ klagte Frau Baumhagen, „er rief meine Vermittelung an.“

„Nein, er war bei uns,“ berichtete Jenny, „schon in aller Morgenfrühe; er wollte Arthur sprechen. Aber Arthur –“ sie stockte, „Arthur ist gestern Abend –“

„Vielmehr in dieser Nacht urplötzlich verreist,“ ergänzte Frau Baumhagen schneidend, „ich habe Freude an den Ehen meiner Kinder.“

„Ich kann nichts dafür, daß er Alles gleich übelnimmt,“ lachte die junge Frau unbekümmert; „eigentlich sind wir doch sehr glücklich!“

„Das weiß was von Glück!“ brummte der alte Herr vor sich hin, so leise, daß es nur Trudchen verstand, neben der er Posto gefaßt hatte. Und laut setzte er hinzu: „Eine eilige Geschäftsreise; sagen wir, eine eilige Geschäftsreise, der eine kleine süße Gardinenpredigt voranging.“

„Allerdings eine Geschäftsreise,“ betonte Frau Baumhagen pikirt, „nach Manchester.“

„Was hat das mit Trudchens Angelegenheit zu thun?“ fragte Onkel Heinrich; „genug, Arthur war nicht da und der Gentleman stieg eine Treppe höher und sprach mit Deiner Mutter, mein Kind. Nicht der Rede ist’s werth – wäre ich nur früher hier gewesen! Es ist zwar fatal, daß Du es erfährst, aber glaube mir, Kind, sie erkundigen sich Alle heutzutage.“

Der kleine gutmüthige Herr klopfte ihr freundlich auf die Schulter.

Frau Baumhagen aber fuhr wie eine gereizte Löwin empor. „Rede nicht so wunderlich! Was ist da noch zu beschönigen? Eine ganz gemeine Heirathsvermittelung ist es gewesen. Ich hoffe, daß Gertrud soviel Ehrgefühl besitzt, Herrn Linden zu sagen, daß –“

„Vorläufig kein Wort!“ Die junge Frau trat förmlich drohend in die Mitte des Zimmers.

„Aber ich bitte Dich! Es wird der skandalöseste Proceß, den die Welt kennt,“ schluchzte die erregte Dame, „er will ja Linden verklagen – Du und er, Ihr werdet Beide vor Gericht müssen.“

Trudchen erwiderte keine Silbe.

„Habe die Güte, mir einen Wagen besorgen zu lassen, Onkel,“ bat sie.

„Nein, Du darfst nicht fort, so nicht! Du siehst erbarmungswerth aus!“ schlugen die Angstrufe von Mutter und Schwester an ihr Ohr.

„Laß doch mit Dir reden, Trudchen,“ klagte Frau Jenny, „wir beschwichtigen den Wolff. – Onkel kann ja fragen, wie hoch die Forderung ist für seine Vermittlung, und –“

„Und Du kommst wieder zu uns,“ schluchzte die Mutter. „Trudchen, Trudchen, mein armes unglückliches Kind, habe ich es nicht geahnt?“

„Da hört Alles auf!“ murmelte ingrimmig der alte Herr. „diese Weiberweisheit hole der Teufel! Laß Dir nicht dreinschwatzen, Kind,“ rief er kräftig dazwischen, „mach’s mit Deinem Mann allein aus.“

„Einen Wagen, Onkel!“ wiederholte die junge Frau ihre Bitte.

„Warte doch wenigstens,“ flehte Frau Jenny, „bis Mamas Anwalt –“

„Das fehlt auch noch!“ brummte Onkel Heinrich, „wäre nur Arthur hier gewesen, so konnte diese verfl .... Geschichte nicht gleich in die Hände der Frauenzimmer kommen. Ich hole Dir einen Wagen, Trudchen. Eure Gäule sind wohl auf der Fabrik, Jenny? Auch gut. Verziehe nur einen Moment!“

Trudchen war wie betäubt an das Fenster getreten, noch hatte sie kein klares Verständniß der Sache. „Die ganze Stadt spricht davon!“ hörte sie die Mutter schluchzen. Wovon denn? – Sie versuchte mit Gewalt ihre Gedanken zusammen zu fassen, aber es ging nicht. Nur das Eine: Es ist nicht wahr! stand deutlich vor ihrer Seele.

Sie ballte die kleine Faust im Lederhandschuh. „Lüge! Lüge!“ kam es über ihre Lippen. Aber wie ein schwerer Nebel hatte sich diese Lüge über ihr junges Glück gelegt, so beängstigend, daß ihr das Athmen schwer wurde.

„Soll ich mit Dir fahren?“ fragte Jenny hinter ihr. Eben kam der Wagen über den Marktplatz.

„Ich danke! Zwischen meinem Mann und mir brauche ich keinen Dritten!“ Kalt und schroff klang es.

„Du siehst so jammervoll aus,“ stöhnte die Mutter.

„Um so besser, daß ich bald heim komme.“

„Schicke doch wenigstens gleich einen Boten!“

„Vielleicht glaubt Ihr auch, daß er mich schlägt?“ fragte sie schneidend und sich zum Gehen wendend.

„Kind! Kind!“ rief Frau Baumhagen und streckte die Arme nach ihr aus, „nimm Vernunft an; sei doch nicht so verblendet, wo Thatsachen sprechen!“

Aber sie wandte sich nicht zurück; ruhig nahm sie draußen ihren Mantel vom Garderobenständer. Sophie blickte angstvoll in das blasse stille Gesicht der jungen Frau, die ganz vergaß, der alten Dienerin ein freundliches Wort zu sagen. Am Wagenschlag stand Onkel Heinrich.

„Ich will Dich begleiten, Trudchen,“ bat er.

Sie schüttelte den Kopf.

[442] „Es ist nur purer Egoismus, Trudchen,“ fuhr er fort. „Wenn ich nicht weiß, wie es da wird bei Euch, bin ich ein kranker Mann.“

„Nein, Onkel. Wir zwei brauchen Niemand, wir sprechen besser unter vier Augen.“

„Brich nicht gleich den Stab, Kind,“ sagte er weich.

„Das habe ich nicht nöthig, Onkel Heinrich!“

Er nahm den Hut ab über dem kahlen Scheitel. Es lag etwas wie Ehrfurcht in seinen Augen. „Leb wohl, Trudchen, kleines Trudchen, wenn’s nach mir gegangen wäre, Du hättest keine Silbe erfahren.“

Sie nickte ihm ernsthaft zu: „Es ist gut so, Onkel!“ Dann fuhr sie den Weg zurück, den sie gekommen.

Der Regen schlug an die klappernden Scheiben und trommelte auf dem Lederdach des Wagens, und die Fahrt ging so langsam. Das junge Weib starrte hinaus in die dunstige Landschaft; verweht war die Blüthenpracht, die weißen Blumenblättchen schwammen auf den Pfützen der Landstraße. „Nur einen Sonnenstrahl!“ dachte sie, das Wetter drückte sie vollends zu Boden.

Lächerlich! Wie kann man sich so beeinflussen lassen durch thörichte Reden! Mama, die stets Alles schwarz sah, – und wenn sie auch stets die Wahrheit sprach – diese Geschichte hatte man ihr aufgebunden. Armer Franz! Nun wird es Aerger geben – den ersten Verdruß! – Sie wollte es ihm scherzweise mittheilen, – nach Tische, wenn sie allein im Zimmer, dann wollte sie sagen: „Franz, ich muß Dir noch etwas erzählen, zum Todtlachen, Franz! Denke Dir, Du hast Dir einen bittern Feind geschaffen, und seine Rache ist so komisch, er behauptet“ – sie lächelte jetzt wirklich – „Ja, so wird es gehen.“

Da kam sie eben an dem Wartthurme vorüber. Woran dachte sie doch gleich, als sie vor ein paar Stunden hier fuhr? Ach ja – eine Purpurröthe überflog ihr Gesicht – „an die Wiege auf dem Boden“. Sie sah das alte Geräth so deutlich vor sich; zwei rothe Rosen waren am Kopfende gemalt, in der Mitte ein goldener Stern, und darunter stand: „Wohl Dem, der Freude erlebt an seinen Kindern.“

Sie griff in die Tasche und holte das Notizbuch hervor – der Wagen kroch so langsam den Berg hinan – sie kannte die Worte noch nicht ganz, sie mußte es noch einmal lesen:

„Als ich vor Thau und Tag zu Felde ging –
Du schliefst noch fest mit purpurrothen Wangen,
Da wandt’ ich auf dem Wege mich zurück
Und sah mein Haus, und rings des Lenzes Prangen;

Vom Giebel flog ein Schwalbenpaar hernieder
Zum Nestlein, das es neulich erst gebauet,
Am Fenster schwanken grün die Lindenzweige,
Da hab’ ich Dich mit Seherblick geschauet.

Vor einer Wiege lagst Du auf den Knieen
Und sangst ein Schlummerlied im trauten Stübchen,
Vom Vater, der zur Jagd, zum Wald hinaus,
Und Schönes heimbringt seinem braven Bübchen.“

Sie ließ das Blatt sinken; sie wußte ja, welches Lied er meinte – das alte Wiegenlied, das sie einst dem Pathenkindchen gesungen, als er draußen vor dem Fenster gelauscht; er hatte es ihr erzählt, und daß er in jenem Augenblicke völlig bezaubert gewesen.

„Nun kommt Väterchen bald
Heim aus dem grünen Wald.“

Sie drückte das Buch an die Lippen. Ach, Menschenneid und Kleinlichkeit, wie lagen sie so tief unter ihr, wie wesenlos erschienen sie vor dieses Glückes Erwartung!

Da wehte ein Blatt hernieder, bläuliches Schreibpapier. Sie hob es auf, das Stückchen eines Briefes, auf der freien Rückseite Notizen von Franzens Hand: „Ein halber Centner Grassamen, Thiergartenmischung,“ die Adresse einer Fabrik landwirthschaftlicher Maschinen.

Sie wendete das Blatt, sah flüchtig darauf, dann starr – aus dem Gesichte war plötzlich jede Spur von Farbe gewichen –. Sie hob die Augen mit dem erschreckten Ausdrucke und senkte sie wieder – ja, da stand es!

„– Außer obengenannten Kapitalien besitzt Fräulein Gertrud Baumhagen noch eine Villa bei Bergedorf. Massives Gebäude, herrschaftlich eingerichtet, mit Stallungen, Gärtnerwohnung und einem zehn Morgen großen, von massiver Mauer eingefriedigten Gartengrundstück, zum Theil in Wald bestehend.

Das Besitzthum ist im Grundbuche auf den Namen der Dame eingetragen zum Schätzungswerthe von vierundzwanzigtausend Thaler.

Zu jeder näheren Auskunft gern erbötig

D., den 21. December 1882.

 Hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener
 Isidor Wolff, Agent.“

Trudchen wollte es noch einmal lesen, aber ihre Hand zitterte so heftig und flimmernd tanzten die Buchstaben vor ihren Augen. Sie hatte es ja auch gesehen, klar und deutlich, es wurde nicht anders, und wenn sie den Zettel noch so oft las. Mit erbarmungsloser Gewalt drang die Ueberzeugung auf sie ein. Es ist Wahrheit, schreckliche Wahrheit! Und Lüge war ein jedes Wort von ihm!

Wie eine Waare hatte sie sich verschachern lassen, sie, sie war nun doch in ein solches Netz gegangen!

Sie hatte das für Liebe gehalten, was nur die gewöhnlichste Berechnung gewesen!

Ach, die Demüthigung war ja nichts gegen das furchtbare Gefühl, das so unheimlich kalt in ihrem Herzen aufstieg – die Pein gekränkten Stolzes und mit ihr der Trotz, der alte herbe Trotz. Sie hatte ihn nicht mehr gekannt, sie war gut gewesen, das Glück macht so gut – Und nun? Und jetzt?

[453] Der Wagen rollte schnell den Berg hinunter Niendorf zu, und nun hielt er vor dem Hause. In halber Betäubung stieg die junge Frau aus und stand im Regen auf der Verandatreppe. Es war ihr, als sei sie zum ersten Male hier; die kleinen Fenster, die altersgrauen Mauern mit dem spitzen Dach – wie häßlich, wie fremd! Die Blüthenpracht des Gartens verregnet; verflogen der Zauber, den Liebe giebt; kahle, nüchterne, traurige Wirklichkeit! Und auf des Hauses Schwelle hockte der Dämon des Eigennutzes, der Berechnung.

Sie schritt durch den Gartensaal, die Treppe hinan und nach ihrem Zimmer. Auf dem Korridore kam Johanne ihr entgegen.

„Der Herr sind gleich nach dem Frühstücke mit dem Wagen fort,“ berichtete sie; „der Herr haben einen Zettel auf den Nähtisch der gnädigen Frau gelegt.“

„Ich habe Kopfschmerzen, Johanne, stör’ mich nicht weiter,“ sagte sie tonlos. In ihrem Zimmer angekommen, riegelte sie zuerst die Thür hinter sich zu, dann die zu seinem Zimmer. Und nun las sie den Zettel:

„Das Barometer ist gestiegen, der Amtsrichter will partout auf den Brocken; ich begleite ihn bis Jl., habe dort zu thun und hoffe nicht allzu spät zurück zu sein. 0 Dein Franz.“

Und unten ein Postskript des Gastes:

„Zürnen Sie nicht, gnädige Frau, ich gehöre zu Denen, die einen Berg nicht sehen können, ohne das dringende Bedürfniß zu fühlen, hinauf zu kraxeln. Ich nehme den Brocken zuerst, um bei wiederkehrendem schönen Wetter mit Ruhe seinen Anblick von meinem Fenster aus ertragen zu können. Den Franz schicke ich Ihnen wohlbehalten wieder heim.“

Gott sei Dank, er kam nicht so bald! – Aber was nun? Sie saß regungslos an ihrem Nähtischchen und starrte in den Garten hinaus, ohne dort etwas zu sehen. Stunde um Stunde verrann; ein paarmal fuhr sie mit der Hand über die Augen – sie blieben trocken und brennend, und um den Mund lag ein starker Zug von Verachtung.

Gegen Abend klinkte es an der Thür. Sie wandte den Kopf nicht herum.

„Gnädige Frau!“ rief die Dienerin. Keine Antwort, und die Schritte draußen entfernten sich.

Trudchen Linden stand jetzt auf und ging zum Schreibtische. Ruhig öffnete sie die hübsche Ledermappe, rückte einen Stuhl heran, ergriff die Feder und setzte sich zum Schreiben. Sie hatte lange genug überlegt; ohne zu stocken, kamen die Worte aus ihrer Feder:

„Ich will Onkel Heinrich bitten, daß er Dir Alles in schonender Weise mittheilt; ich selbst könnte nicht ruhig darüber sprechen – es ist die schmerzlichste Enttäuschung meines Lebens. Ich bitte Dich vorläufig nur, meiner Erklärung, daß ich auf einige Zeit aus Gesundheitsrücksichten irgendwo zurückgezogen leben müsse, beizustimmen. Es wird nicht lange Zeit brauchen zu einer Entscheidung.   Gertrud.“

[454] Sie siegelte das Schreiben und trug es in das Zimmer ihres Mannes, auf den Schreibtisch. Das Päckchen Gedichte legte sie daneben, ebenso das Notizbuch. Was sollte sie damit? Das Dichten galt nicht ihr – es war eine leidige Angewohnheit von ihm, das hatte erst gestern der Amtsrichter verrathen. Es war hier als passendes Mittel angewendet, um die Täuschung vollkommen zu machen. Einer, der zarte Verse schreibt und dabei heimlich den Agenten um die Mitgift befragt – eine tolle Zusammenstellung, komisch-tragisch, ein Lustspielmotiv, und sie die lächerliche Heldin!

Das Fragment des schrecklichen Briefes behielt sie zurück. Dann schrieb sie ein Billet an ihre Mutter, eins an Onkel Heinrich, nahm die Uhr aus dem Täschchen und griff dann zum Kursbuche.

Wohin? Der Berliner Schnellzug, der alle Verbindung in die weite Welt hinaus vermittelte, war nicht mehr zu erreichen. Also warten bis morgen – Und dann? Irgendwo hin – allein sein! Nur nicht mit Mama und Jenny zusammen, nur weit fort von hier!

Sie sprang plötzlich auf mit erschrecktem Gesichte, sie hatte eine Stimme gehört, seine Stimme. „Ist meine Frau zurück?“ Dann ein lustiges Pfeifen, ein paar Takte aus dem Boccaccio- Marsche – und eilige Schritte vom Korridore herauf. Nun drückte seine Hand auf die Klinke –. Verschlossen!

„Trudchen!“ rief er.

Sie stand mitten im Zimmer, die Lippen auf einander gepreßt, starr die Augen; aber sie rührte sich nicht.

Er nahm nicht an, daß sie drinnen; ruhig ging er in sein Zimmer. Sie hörte, wie er die Thür der Schlafstube öffnete.

„Trudchen?“ klang es fragend.

Nun wieder in seinem Zimmer, er sprach mit dem Hunde, pfiff wieder ein paar Takte. schritt hin und her, und nun blieb er stehen – jetzt riß ein Papier – jetzt las er.

„Gertrud! Gertrud, ich weiß, Du bist in dem Zimmer! Oeffne!“ Es klang ruhig und freundlich, aber sie verharrte wie zu Stein geworden auf ihrem Platze.

„Ich bitte, öffne!“ scholl es jetzt befehlend.

„Nein!“ antwortete sie laut und richtete sich empor.

„Du bist in einem grenzenlosen Irrthum! Man hat Dir irgend etwas vorgeredet – laß mich doch mit Dir sprechen, Kind!“

Sie kam einen Schritt näher. „Ich kann nicht!“ sagte sie.

„Ich bitte dringend darum. Man hört doch auch einen Verbrecher, ehe man ihn verurtheilt!“

„Nein!“ erklärte sie, schritt zum Fenster und blieb dort stehen.

Zum Henker mit diesem verfl.... Unsinn!^ klang es jetzt in ihre Ohren. Dann ein Krach, ein Splittern – die Thür war gesprengt und Franz Linden stand auf der Schwelle.

„Ich bitte um Aufklärung,“ sagte er gereizt, und die Zornader auf der weißen Stirn, die seltsam abstach von dem gebräunten Antlitz, war ihm mächtig geschwollen.

Sie hatte sich nicht umgewandt. „Onkel Heinrich wird Dir das Nähere sagen,“ erwiderte sie kühl.

Er schritt zu ihr hinüber und legte die Hand auf ihre Schulter, aber da trat sie zurück, und die blauen, sonst so milden Frauenaugen sahen ihn an, so kalt und fremd und so glanzlos matt, daß er tief erschreckt inne hielt.

„Ich hätte Dich getäuscht? Dich, Trudchen?“ fragte er. „Was habe ich Dir gethan? Worin besteht mein Unrecht?“

„In Nichts –“

„Das ist keine Antwort, Gertrud.“

„O, es handelt sich ja um eine Kleinigkeit nur – ich kann nicht mit Dir darüber sprechen.“

„Gut! So will ich noch heute zu Onkel Heinrich.“

Sie antwortete nicht.

„Und fort willst Du? Mich allein lassen?“ fragte er wieder.

Sie zogerte einen Moment. „Ja, ja!“ sagte sie dann hastig, „fort!“

„Wozu die Komodie, Trudchen?“

„Komodie?“ Sie lachte kurz auf.

„Trudchen. Du thust mir weh.“

„Nicht mehr, als Du mir gethan.“

„Aber, zum Donnerwetter, ich frage Dich – womit?“ rief er außer sich.

Sie war noch einen Schritt zurückgewichen und sah ihn groß an. „Bitte, laß anspannen, fahre zu meinem Onkel,“ klang es kühl.

„Ja, bei Gott, Du hast Recht!“ rief er außer sich, „Du bist mehr als trotzig!“

„Ich habe es Dir gleich gesagt, es ist mein Charakter.“

„Trudchen,“ begann er, „ich bin ein heftiger Mensch, mich bringt nichts sehr in Zorn, als ein passiver Widerstand. Es ist doch unsere verd.... Pflicht und Schuldigkeit, uns mit Vertrauen entgegen zu kommen – sage mir, was Dich drückt; es kann aufgeklärt werden, ich bin mir keines Unrechtes bewußt gegen Dich.“

„Das ist eben Ansichtssache,“ sagte sie.

„Nun, so ist es gut! Ich erkläre Dir, daß ich absolut nicht neugierig bin, und gebe Dir Zeit, Dich zu besinnen.“ Er wandte sich, um zu gehen.

„Das ist freilich das Bequemste in dieser Sache,“ klang es bitter hinter ihm.

Er zögerte, aber er ging wirklich, schloß die zerbrochene Thür hinter sich zu, so gut er es vermochte, und begann in seinem Zimmer auf- und abzuwandern.

Sie preßte die Stirn an die Scheiben und sah über den Garten hinweg. Es hatte aufgehort zu regnen, im Westen lichteten sich die Wolken und ließen den Glanz der untergehenden Sonne ahnen; nun brachen die schimmernden Dunstmassen und im nämlichen Augenblicke stand die Landschaft im funkelnden Sonnenglanze, wie ein holdes, unter Thränen lächelndes Weib.

Wenn sie doch weinen konnte! Die Frauen, denen Gott die Fähigkeit gegeben zu weinen, sind bevorzugt. Weinen macht das Herz leicht, den Sinn milder – aber nein, für sie gab es keine Thränen.


Noch in der allerletzten Dämmerung fuhren die Eisenschimmel vor und Frau Jenny stieg aus dem Wagen. Sie lief, flink wie ein Wiesel, die Stufen zur Veranda hinan und stand im Gartensaale plotzliach vor Franz Linden, der dort allein am gedeckten Tische saß; Trudchens Kouvert war unberührt.

„Jenny, so spät noch?“ fragte er.

„Ich möchte Trudchen sprechen.“

„Sie finden meine – Frau in ihrem Zimmer.“

Jenny warf aus ihren lustigen Augen einen raschen Blick auf ihn. Ob der Krach schon erfolgt? Sie waren zu Hause vor Angst beinahe umgekommen.

„Ist Trudchen nicht wohl?“ erkundigte sie sich scheinbar harmlos.

Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort. „Sie scheint in der That etwas angegriffen und erregt, ich glaube, daß sie im Laufe des Tages irgend eine Unannehmlichkeit hatte,“ erwiderte er dann.

„Ach so!“ nickte die junge Frau. „Nun, ich werde selbst nachsehen.“

Sie ging über den Flur, noch war die Lampe nicht angezündet, und in der Dunkelheit stieß sie an etwas und wäre fast gestürzt. Auf ihren leisen Schrei eilte Johanne mit Licht herzu.

„Ach, verzeihen Sie, gnädige Frau, es ist der Reisekorb der jungen Dame, die vor einer Viertelstunde ankam. Dora hat vergessen, ihn in Frau Rosa’s Wohnung zu tragen.“

Jenny warf einen ärgerlichen Blick auf das bescheidene Gepäckstückchen, stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Zimmerthür der Schwester. „Ich bin es, Trudchen,“ rief sie mit ihrer hellen klingenden Stimme. Sie hörte darauf leichte Schritte und leise, leise ward der Riegel zurückgeschoben und die Thür geöffnet.

„Du, Jenny?“ fragte Trudchen; genau so, wie vorher Franz gesprochen: „Du, Jenny?“

Es war fast dunkel im Zimmer, Jenny konnte die Züge der Schwester nicht erkennen.

„Warum sitzest Du so im Dunkeln, Trudchen? Ich bitte Dich, sage rasch, wie ist es geworden? Mama und ich vergehen vor Angst!“

„Es ist gut so,“ erwiderte die junge Frau. „Aengstigt Euch nicht!“

[455] „Gut?“ fragte Jenny verwundert. „Das glaube wer will! Er allein bei Tische, Du hier oben hinter verschlossenen Thüren – gestehe es doch, Kind, Ihr habt Euch nicht verständigt.“

„Bitte, nimm Platz, Jenny,“ sagte die junge Frau müde.

Frau Jenny setzte sich auf die Chaiselongue, Trudchen wieder an das Fenster. Es war todtenstill im Zimmer und im ganzen Hause.

„Es wäre auch gescheiter gewesen, wenn Du gar nicht geheirathet hättest, Trudchen,“ begann die Schwester mit einem Seufzer. „Aber, was hilft’s Du bist angeschmiedet, ja, ja! Man müßte sich Alles gefallen lassen, dürfte nie eine eigene Meinung haben! Ich bin auch noch ganz krank von dem Aerger gestern Abend, ich lief schließlich zu Mama hinauf; sie erschrak furchtbar, als ich in Nachtkleidern vor ihrem Bette stand; ich habe dann die ganze Nacht geweint. Heute früh wartete ich; ich dachte, er würde mich herunter holen, sonst war er immer so reuig, – aber er blieb aus, und wie ich mit Mama frühstückte, brachte mir Sophie eine Karte von ihm, auf welcher er mir sehr kühl mittheilte, daß er nach Manchester gegangen sei auf vierzehn Tage. Na – glückliche Reise!“

Trudchen antwortete nicht.

„So nimm Dir’s doch nicht so schrecklich zu Herzen, Kind,“ fuhr die junge Frau fort. „Liebe Zeit, wenn’s weiter nichts ist! Alle Frauen müssen ein Auge zudrücken, und manchmal über ganz andere Dinge.“

„Müssen?“ fragte Trudchen leise.

„Ja, was denn sonst?“ rief Jenny verwundert. „Denkst Du, man kann sein Bündel unter den Arm nehmen und davon gehen? Bah! Da wäre keine Frau mehr bei ihrem Theuren. Nein, nein – man söhnt sich hübsch wieder aus und nimmt Gelegenheit, es dem Herrn der Welt mit Zinsen heimzuzahlen. Das Versöhnen macht mir auch immer großen Spaß; paß nur auf, Kleine, wie lieb Arthur sein wird, wenn er zurückkommt, er ist auf vier Wochen wieder der goldigste beste Mann von der Welt.“

„Mir wäre so etwas unmöglich!“ klang plötzlich Trudchens Stimme klar und fest. „Heute zum Tode erbittert – morgen zum Aufessen zärtlich, es ist einfach unwürdig!“

Frau Jenny schwieg. „Ja, mein Himmel,“ sagte sie dann gähnend, „Einer ist nicht besser als der Andere! Wenn ich mich von Arthnr trennen wollte – wer weiß, was ich dafür eintauschte! Heirathen würde ich am Ende ja doch wieder, was soll man sonst anfangen in der Welt? Apropos! Mama hat mit dem Rechtsanwalt gesprochen – er räth dringend, die ganze Geschichte in diskretester Weise beizulegen. Mama ist zwar anderer Meinung, aber Doktor Schneider erklärte – siehst Du, man kann gar nicht fort, wenn man auch will – das wäre kein Scheidungsgrund, und ich sagte auch schon zu Mama: ,Gertrud,‘ sagte ich, ,und von ihm gehen? Undenkbar! Sie ist ja bis zum Wahnsinn in diesen Mann vernarrt; er könnte, glaube ich, gemordet haben, so würde sie noch einen Entschuldigungsgrund finden für ihn.‘ Habe ich Recht?“

Trudchen litt tausend Qualen. Sie rang stumm die Hände in einander, und ihre Augen sahen starr zu dem dunklen Himmel empor, an dem in grünlich blinkendem Lichte der Abendstern funkelte. Frau Jenny gähnte wieder.

„Ja, denke Dir nur,“ fuhr sie fort, „Du weißt noch gar nicht, was wir eigentlich hatten mit einander, Arthur und ich. Er machte mir Vorwürfe, ich verbrauche zu viel für meine Toilette; natürlich eine Ableitung seines Zornes von etwas Anderem – es waren Geschäftsbriefe da, vermuthlich mit unangenehmen Nachrichten. Ich erwiderte, das gehe ihn nichts an, ich bekümmere mich nicht um seine Depensen. Da wurde er unangenehm und warf mir vor, ich hätte in Nizza die Toiletten der eleganten Französinnen kopiren wollen. Es ist aber nicht wahr, ich hatte mir nur zwei Roben gekauft. Gott ja, sie waren etwas theurer, als wenn sie mein Schneider in Berlin macht. Natürlich sagte ich wieder: ‚Das geht Dich gar nichts an, denn ich bezahle sie.‘ Darauf sprach er sehr moralisch von ehrbaren Frauen und deutschen Frauen, die des Hauses Wohlstand mehren helfen; es wären schon andere Vermögen verschwendet als das unsere, und wenn man der Sache auf den Grund gehe, trage allemal ,Madame‘ die Schuld. Er tadelte Mama, die sich geradezu lächerlich mache mit ihren jugendlichen Kostümen, und zuletzt erklärte er, wir hätten Pflichten für unsere künftigen Kinder. – Der Himmel soll mich behüten! Mein armes süßes Walterchen habe ich hergeben müssen, ich will kein anderes, der Schmerz, ihn zu verlieren, war zu groß, ich würde vor ewiger Angst sterben. Kurz und gut, er spielte den richtigen kleinstädtischen Philister, und zuletzt noch gar den Othello, indem er behauptete, Rittmeister von Brelow grüßte mich immer so unverschämt vertraulich. Mir riß die Geduld. Ich schlug ihm vor, wir könnten uns ja trennen. Verstehe mich recht, ich sagte es nur so, denn in Wahrheit – er ist ziemlich folgsam, wenn man ihm die Zügel kurz hält. Und, wie schon erwähnt, man kommt auch nicht los um ein Nichts. ,Ich gehe sofort!‘ rief ich endlich weinend und lief zu Mama.“

„Höre auf, ich bitte Dich,“ sagte Trudchen, hastig aufstehend. Sie klingelte nach Licht, und als Johanne die Lampe brachte, beleuchtete sie ein fieberrothes Gesicht und Augen, wie verschwollen von heißen Thränen; und Trudchen hatte doch nicht geweint.

„Wie Du aussiehst, Kind!“ bemerkte Jenny. „Ja, was soll denn nun werden? Ich muß Mama Bescheid bringen, lediglich deßhalb kam ich.“ Sie warf einen Blick auf die zierliche Uhr über dem Schreibtisch. „In fünf Minuten neun Uhr – ich muß heim. Bitte, sage, wie gedenkt Ihr die Sache zu arrangiren?“

„Ihr werdet Nachricht erhalten, morgen – übermorgen – ich weiß es noch nicht,“ stammelte die junge Frau, die Hand an die schmerzende Stirn gepreßt.

„Mache nur keine Geschichten, Trudchen,“ Jenny nahm den grauen, mit rother Seide gefütterten Mantel um und schlang die Spitzenbarben des Hutes in einander. „Wenn die Sache so geordnet wird, wie Doktor Schneider sagt, so ist ihr ja die Spitze abgebrochen. Wie benimmt sich denn übrigens Franz? Hat er es zugegeben? Na ja, was kann er auch weiter machen! Also, bitte spätestens morgen Bescheid. Uebrigens, Kind, das ist mir noch nachträglich eingefallen – an dem Tage, wo Linden Besuch bei uns machte, begleitete ihn dieser Mensch, dieser Wolff, über den Markt bis nach unserem Hause; ich saß im Erker und wunderte mich noch, wie vertraulich Wolff ihm die Schulter klopfte.“

Trudchen stand regungslos. Ach, sie hatte dasselbe gesehen; sie besann sich so deutlich in diesem Augenblick.

„Ja, ja!“ stammelte sie.

„Er soll sehr viel dergleichen Geschäfte machen, erzählte der Rechtsanwalt. Aber nun gute Nacht, mein Herzchen; willst Du Bescheid senden, oder soll Jemand von uns morgen kommen?“

„Ich gebe Bescheid,“ antwortete Trudchen. Sie hatte die Schwester nicht hinaus begleitet, sie stand noch immer dort, den Kopf auf die Brust gesenkt, die Arme schlaff hernieder hängend. Das Gespräch mit Jenny hatte einen Abgrund vor ihren Augen eröffnet, sie wußte auf einmal nicht mehr, was beginnen. Nur das Eine war ihr klar, bei ihm bleiben konnte sie nicht; ein gleichgültiges Nebeneinander würde sie nie ertragen und – ein herzliches Zusammenleben würde nie wieder möglich sein. „Niemals,“ sagte sie laut und fest, „niemals!“

Sie hörte jetzt nebenan seine Schritte; dann gingen diese Schritte wieder hinaus und nach einer Weile hörte sie dieselben auf dem Kies des Gartens, dann entfernten sie sich. Sie war so müde, und es war so kühl und sie konnte sich gar nicht besinnen, daß es jemals anders gewesen, daß es eine Zeit gegeben, gestern noch, wo sie glücklich war; sie kam sich so verachtet vor.

Sie hielt das unselige Brieffragment in der Hand, es brannte wie glühende Kohle. Sie kannte ein ältliches Mädchen, die Tochter einer armen Beamtenfamilie, verbittert und mürrisch. Dreizehn Jahre war sie mit einem mittellosen Referendar verlobt gewesen, und schließlich sahen sie doch ein, daß sie mit Nichts keinen Hausstand gründen konnten. Sie blieb einsam, von Allen bedauert, die ihr trauriges Geschick kannten.

Ach, wenn sie hätte mit jener tauschen können, die doch geliebt worden um ihrer selbst willen! Und wenn sie das auch überwand, daß er sie nicht aus Liebe gewählt, die Lüge, die Heuchelei – nie, nie. Das Vertrauen war dahin.

Ohne recht zu wissen, was sie that, war sie in den Korridor getreten und empfand die kühlere Luft wie eine Wohlthat. Rasch ging sie die Treppe hinab und in den Garten. Aus der Küche schallte Lachen und Flüstern, der Gärtner trieb dort Unsinn mit den Mädchen; das Auge der Herrin fehlte.

[456] Im Gartensaal brannte kein Licht, nur hinter Tante Rosa’s Fenstern war es heute ungewöhnlich hell und ein Schatten glitt jugendlich lebhaft über die weißen Vorhänge. Das mußte die junge Nichte sein.

Trudchen schritt weiter über die Kieswege des Gartens, die Nachtigallen schlugen und aus der Verwalterstube scholl Gesang. Eine tiefe sympathische Männerstimme und eine traurige Melodie.

Tiefer und tiefer ging sie in den duftenden Garten. Dann schrie sie auf:

„Franz!“ Sie stand plötzlich vor ihm an der Biegung eines Weges.

„Gertrud!“ erwiderte er und wollte ihre Hand fassen.

„Laß!“ wehrte sie. „Ich suchte Dich nicht, aber da wir uns getroffen, will ich Dich um etwas bitten.“ Sie griff, nach Halt suchend, mit der schmalen Hand in das Geranke eines Fliederstrauches.

„Gern, Trudchen,“ sagte er weich; „verzeihe mir nur meine Heftigkeit, der Zorn packte mich hinterrücks. Ich verspreche Dir, es soll nicht wieder geschehen.“

Er schwieg und wartete auf den Ausspruch ihrer Bitte. Eine Weile blieb es stumm zwischen ihnen, dann sprach sie langsamer, fast unverständlich in ihrer furchtbaren Aufregung: „Gieb mir meine Freiheit wieder – es ist doch nicht mehr möglich so –“

„Ich habe Dich nicht verstanden,“ sagte er kühl, „wie meinst Du?“

„Ich lasse Dir Alles, Alles – nur gieb mich frei! Wir können nicht mehr zusammen bleiben, begreifst Du das nicht?“ rief sie außer sich.

„Sprich leise!“ herrschte er sie an und trat zornig mit dem Fuße auf.

„Sage Ja!“ bat die junge Frau mit einer vom Herzklopfen fast erstickten Stimme.

„Ich sage Nein!“ klang es zurück. „Bitte, nimm meinen Arm und komm!“

„Ich will nicht! Ich will nicht!“ rief sie und riß ihre Hand los, die er ergriffen, um sie in seinen Arm zu legen.

„Du bist in höchster Aufregung heute Abend, Du kommst jetzt mit mir in das Haus, bitte; morgen werden wir weiter sprechen, und Du kannst mir dann am hellen Tage die Gründe sagen, die unser Zusammenbleiben unmöglich machen.“

„Gleich, wenn Du willst, gleich!“ stieß sie athemlos hervor, „weil uns nur Zweierlei fehlt, zwei ganze Kleinigkeiten nur – das Vertrauen und die Achtung! Von Liebe will ich ja gar nicht mehr reden. Du bist nicht wahr gegen mich gewesen, Franz, Du hast mich hintergangen und hast mein Vertrauen verloren. Laß mich, ich bitte Dich um Gotteswillen – laß mich!“

Und als er nicht antwortete, sprach sie weiter, und die Worte überstürzten sich fast: „Ich weiß ja, daß ich kein Recht vor dem Gesetz habe; über eine Frau, die ihre Freiheit wieder verlangt und keine andern Gründe anführt, als daß sie einmal belogen wurde, lächelt man höchstens. Ich komme deßhalb als Bittende; sei so ehrenhaft, laß mich ziehen, ich kann es nicht ertragen neben Dir zu leben im Mißtrauen und – und –“

„Komm, Trudchen,“ sagte er jetzt weich; „Du bist krank. Komm nur erst in das Haus und wiederhole mir das im Zimmer noch einmal; komm!“

„Krank – ja! Ich wollt’, ich könnte sterben,“ flüsterte sie. Dann ward sie plötzlich ruhig und ging neben ihm her in das Haus. Er öffnete sein Zimmer, sie trat auch hinein, aber sie schritt rasch hindurch in das ihrige und warf sich auf ihre Chaiselongue, zog die weiche Decke über sich und schloß die Augen. Franz stand rathlos vor ihr.

„Ich werde Dir Thee machen lassen,“ sagte freundlich der junge Mann.

Sie sah unsagbar elend aus, wie sie so dalag und die langen Wimpern gleich schwarzen Schatten auf ihre bleichen Wangen fielen. Sie mußte furchtbar gelitten haben.

„Gehe zu Bette, Trudchen,“ bat er ängstlich, „es wird Dir besser werden, und morgen reden wir zusammen.“

„Ich bleibe hier,“ erwiderte sie fest und wandte den Kopf nach der andern Seite.

Da riß ihm die Geduld. „Zum Henker mit Deiner albernen Störrigkeit!“ rief er zornig. „Meinst Du, ein dummer Junge stehe vor Dir? Ich werde Dir zeigen, wie man trotzige Kinder erzieht!“

Er wandte sich um, und die Thür hinter sich zuschmetternd, ging er hinaus.

[469] Die ersten Sonnenstrahlen legten sich wie rothes Gold auf die Spitzen des Waldes, der sich bis zu dem weißen im Villenstil gebauten Hause herandrängte; Riesenwächtern gleich standen vor der massiven Gartenmauer prachtvolle Eichen auf dem Rasengrund. Ein schmaler wenig betretener Pfad führte zwischen ihnen dahin, wie man ihn findet an Stellen, die eigentlich nicht begangen werden sollen. Noch gaben die stolzen Bäume wenig Schatten, die Eiche belaubt sich zuletzt; jung und kraus erschienen die Blättchen an den knorrigen Aesten und stachen reizend ab gegen die dunklen Edeltannen jenseit der Gartenmauer, untermischt mit dem zarten schleierartigen Laub der Birke.

Wie traumverloren lag „Waldruhe“ in dieser Morgenstille. Die grünen Jalousien waren sämmtlich geschlossen, gleich schlafschweren Augen; auf dem Dache sonnte sich eine Reihe bunter Flüchtertauben. Der Rasenplatz vor dem Hause schien verwildert, kaum noch von dem grasbewachsenen Wege zu unterscheiden, der von der Gitterpforte zum Treppenhause führte. Aus dem Nebengebäude stieg leichter Rauch zum blauen Himmel empor, und eine Katze saß zusammengekauert auf dem hölzernen Bänkchen zur Seite der Hausthür. Kein Laut ringsum, als der jauchzende Triller der Lerchen, die unsichtbar im blauen Aether standen.

Da kam unter den Eichen eine schlanke Frauengestalt daher. Sie ging langsam, und ihre Blicke schweiften bald nach links über die grünende Saat hinweg ins Land hinaus, bald hingen sie an den Bäumen. Sie mußte schon einen weiten Weg gemacht haben; das feine Gesicht sah müde aus, unter den Augen lagen braune Schatten, und der Saum ihres Kleides war feucht wie die kleinen halbhohen Lederschuhe, die unter dem grauen Falbelrocke hervorsahen. Sie ging direkt auf das Gitterthor zu, faßte mit den unbehandschuhten Händen die rostigen Stäbe und blickte auf das Haus, etwa in der Stellung eines neugierigen Kindes; aber ihre Augen sahen zu ernst dafür. Neben ihr stand schweifwedelnd ein brauner Hühnerhund und richtete wie fragend die klugen Augen zu ihr hinauf, aber sie achtete des Thieres nicht, das ihr so treulich gefolgt. Ihre Gedanken hatten nur ein Ziel.

Sie war nie wieder hier gewesen seit jenem Tage, an dem sie in verzweifelnder Angst hergelaufen, um – zu spät zu kommen. Noch erschien Alles wie damals – eben so verlassen. Sie zog die Glocke, wie schwer das ging! Ja, die [470] hatte Niemandes Hand wieder berührt. Jedes Frühjahr und jeden Herbst fuhr zwar Sophie pflichtschuldigst heraus, um die Möbel zu klopfen und die Zimmer zu lüften, von den Andern aber Niemand. Frau Baumhagen hatte diese idyllische Marotte ihres Gatten vom ersten Moment an für eine Verrücktheit erklärt, und Jenny nannte das Landhaus die Grillenburg. Sie war einmal hier gewesen und nie wieder, „man verkam ja vor langer Weile zwischen den stummen Bäumen!“

Endlich gab die Glocke einen schwachen Laut. Daraufhin erhob sich ein wüthendes Hundegebell im Nebenhause, und eine Frau von etlichen fünfzig Jahren in wattirtem Unterrocke und rothgeblümter Nachtjacke kam aus dem Gebäude. Starr wie ein Wachsbild schaute sie die jnnge Dame an, dann schlug sie die Hände zusammen und rannte auf klappernden Pantoffeln ins Haus zurück, um sofort mit einem Schlüsselbund wiederzukehren.

„I du Barmherziger!“ sagte sie athemlos beim Aufschließen, „das hätte ich mir nicht träumen lassen – die Frau Linden! Haben einen Morgenspaziergang gemacht, gnädige Frau? Dachte schon immer, ob Sie nicht einmal herkommen mit dem Herrn Gemahl – nun sehen Sie nur – das freut mich aber!“ Und sie lief den Weg voran und schloß die Thür der Villa auf.

„Alles in Ordnung, Frau Linden; mein Maun hat immer darauf gehalten. ‚Pass’ auf,‘ sagte er, ,eines Tages kommt doch einmal Jemand von den Herrschaften.‘“ Und wieder lief die vierschrötige Person die Treppen vorauf und öffnete ein Zimmer. „Es ist Alles beim Alten – da steht Ihr Bettchen, und da sind auch noch die Bücher, nur die Tannen und Buchen vor den Fenstern sind gewachsen.“

Die junge Frau nickte. „Bringen Sie mir ein wenig heiße Milch,“ sagte sie fröstelnd, „aber recht bald, Frau Rode.“

„Gleich! Gleich!“ Und die Alte hastete fort; Trudchen hörte das Klappern ihrer Pantoffeln auf der Treppe verhallen und die Hausthür zuschlagen. Nun war sie allein.

Es herrschte eine kühle grüne Dämmerung in dem Zimmer, die Buchenzweige drängten sich bis dicht an die Scheiben. Damals war es noch nicht so dunkel hier innen, als sie zuletzt einen Sommer in „Waldruhe“ verbrachte. Sonst – die Frau hatte Recht – sonst war es noch ebenso, der Spiegel im Rahmen von Pflaumenholz zeigte noch immer die bogenspannenden Centauren in dem gelb und schwarzen Felde der oberen Verzierung; über dem kleinen altmodischen Schreibtische hing noch immer der Stahlstich „Paul und Virginie“ unter dem Palmenblatte; die grünen Vorhänge des Himmelbettes waren nicht um die leiseste Schattirung verblichen, das Sofa war noch genau so unbequem, der Tisch davor mit der nämlichen Plüschdecke. Hier hatte sie so manche traute Stunde verlebt, in süßer Lenznacht am offenen Fenster und an stürmischen Herbstabenden, wenn die Wolken am Himmel jagten, der Sturm sich über die Berge stürzte gegen das einsame Haus; der Regen prasselte und der Wald so unheimlich zu rauschen begann. – Dann waren die Vorhänge zugezogen, im Kachelofen brannte das Feuer, und drüben im gemüthlichen Wohnzimmer wußte sie den Papa bei einer L’hombrepartie. Sie machte die Wirthin hier in „Waldruhe“, sie war so stolz darauf, in die Küche zu gehen mit dem weißen Schürzchen, in den Keller zu steigen, und die alten Herren ließen sie dann bei Tische ob des wohlgelungenen Wildbratens hoch leben. Die alten lieben Freunde – da war jetzt nur noch Onkel Heinrich.

Dort auf jenes Lager hatten sie dann auch das ohnmächtige Mädchen getragen, wie sie es an Papas Todtenbette gefunden.

Es schüttelte die junge Frau plötzlich wie im Fieber. „Er starb an seiner unglücklichen Ehe,“ hatte sie Onkel Heinrich einmal sagen gehört – leise, aber sie hatte es doch verstanden.

Mama liebte ihn nicht, Mama hatte einen Andern gern gehabt, und das hatte sie ihm einst gesagt, als es einer Kleinigkeit wegen zu Meinungsverschiedenheiten kam. „Mit dem Andern wäre ich glücklicher geworden, ich hatte ihn wenigstens lieb, aber – es war keine Versorgung.“

Trudchen begriff jetzt Alles; sie hatte Papas Charakter, sie war stolz. O, diese düsteren Jahre, da sie mit wachsendem Verständniß erkannte, welcher Sonnenschein dem Hause mangelte! „Hätte ich die Kinder nicht,“ hatte er einst zornig gerufen, „es wäre längst ein Ende gemacht!“

O, Qual der Hölle, wenn zwei Menschen durch Gott und das Gesetz zusammengeschmiedet sind, die doch am liebsten eine Welt zwischen sich legten! – Unwürdig! unmoralisch –! Hatte er nicht recht gethan, der Papa, daß er freiwillig ging – ging für immer? Aber ach, wie schwer ist das Gehen, wenn man liebt, so liebt! – Wie denn? Liebe, Achtung gehören doch einmal zusammen – Einbildung, alles Einbildung!

Sie wurde plötzlich noch um einen Schein bleicher; sie dachte, wie Papa sie geliebt, und sie dachte an die kleine Wiege in der Rumpelkammer zu Hause. Gott sei Dank, es war nur ein Traum, ein Wunsch, ein Nichts – und doch – – O diese herzbeklemmende Angst!

Sie ging hinüber an das Bett, sie war so müde; sie schmiegte den Kopf in die Kissen, zog die Decke empor und schloß die Augen. Und dann standen ihr immer die Worte vor der Seele wie flammende Schrift, die Worte, die sie heute geschrieben, um sie auf seinen Schreibtisch zu legen. Und sie flüsterte: „Sei barmherzig, gieb mich frei! Suche mich nicht auf, laß mir den einzigen Platz, der mir noch gehört!“

Die Frau brachte die heiße Milch, und sie trank. Sie wolle schlafen, sagte sie dann, aber sie konnte nicht schlafen. Sie horchte immer wieder hinaus, sie meinte Pferdegetrappel zu hören und Wagenrollen. Ach, nur das nicht!

Und Stunde auf Stunde verrann, unbeweglich lag sie; sie hatte nicht mehr den Muth, sich aufzuraffen. Warum kann man nicht sterben, wenn man will? – Das Mittagläuten im Dorfe war eben verhallt, da kam doch ein Wagen, und bald darauf Schritte die Treppe herauf.

Gott sei Dank, er war es nicht! – Zur Thür aber steckte Onkel Heinrich sein bekümmertes Gesicht herein.

„Wahrhaftig,“ sagte er, „Du bist da! – Aber warum denn, Kind, warum denn?“

Sie hatte sich rasch aufgerichtet und stand nun vor dem kleinen Herrn. „Du bringst mir Antwort, Onkel?“

„Ja freilich! Ich wollte aber lieber sonst etwas thun! Wie kommt Ihr kratzbürstige Gesellschaft dazu, mich zum Träger Eurer liebenswürdigen Botschaften auszuersehen?“ Er warf sich ins Sofa, daß das kleine Möbel förmlich aufstöhnte. „Hast Du einen Kognak hier?“ fragte er, „mir ist’s gar nicht recht um den Magen.“

Sie schüttelte stumm den Kopf und sah ihn an aus ihren verdüsterten Augen.

„Ach so,“ machte Onkel Heinrich grämlich. „Nun, er läßt Dir sagen, wenn es Dir Spaß machte hier zu bleiben, so solltest Du Dich nicht geniren.“

Sie zuckte merklich zusammen.

„O, la la! Das ist der Sinn – so ungefähr,“ verbesserte er und wischte sich über die Stirn mit dem Taschentuch. „Linden sprach eigentlich wenig,“ fuhr der alte Herr fort, „er war nur von einem stillen Zorne ob Deiner Flucht; indeß, er nahm sich sehr zusammen. Er wolle Dich nicht hindern, meinte er; mit Gewalt schleppte er Dich nicht zurück in sein Haus. Er wird Dir Johanne zur Bedienung schicken und hofft sonst noch jeden Deiner Wünsche erfüllen zu können. Er werde sich schon einrichten und – Du habest den Irrthum hoffentlich bald eingesehen. Und,“ schloß Onkel Heinrich, „so weit wären wir; nun möchte ich von Dir wissen, was jetzt werden soll, wenn Du nämlich mit Deiner bekannten Charakterstärke nicht zum Einsehen geneigt bist?“

Sie blieb stumm.

„Uebrigens leugnet Franz in Bezug auf diesen Wolff – Alles! Und, höre, Trudchen, Du warst sonst immer ein recht vernünftiges Frauenzimmer, was ist Dir in den Sinn gekommen, daß Du diesem alten Esel, der überall als anrüchig bekannt ist, diesem Wolff mehr Glauben schenkst, als Deinem Manne?“

Trudchen griff hastig in die Tasche und faßte den Zettel – da war ja der Beweis. Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn hinüber reichen – aber nein, das konnte sie nicht, sie brachte die kleine zur Faust geballte Hand, die das unglückliche Papier umschloß, nicht hervor.

„Ihr solltet Euch da Beide ein wenig entgegen kommen, meine ich,“ sagte Onkel Heinrich nach einem Weilchen; „Ihr habt Euch einmal geheirathet und – au fond – was ist’s denn weiter, wenn er sich nach Deinen Verhältnissen erkundigt hat –?“

Er brach ab vor ihrem dunklen Blick. „Heut zu Tage ist es gar nicht so etwas Besonderes, wenn man –“ stotterte er weiter.

[471] „Das ist es ja nicht, das nicht, Onkel. Hore auf!“ sagte Trudchen.

„Ja ja, ich verstehe Dich schon, in dem Punkte sind die Frauen empfindlicher, und mit Recht,“ nickte Onkel Heinrich. „Na, mir ahnt, der Name ‚Baumhagen‘ wird einmal wieder Stadtgespräch sein im nächsten halben Jahr. Adieu, Trudchen! Kann nicht gerade sagen, daß mich dieser Besuch gefreut hat. Laß Dir die Zeit nicht lang werden!“

In der Thür drehte er sich noch einmal um. „Uebrigens, es wird wohl zur Klage kommen; Franz weigert sich die Forderung dieses Wolff anzuerkennen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Er wird sich nicht weigern,“ sagte sie ruhig. „Aber ich bitte Dich, Onkel, nimm Du die Angelegenheit in die Hand und bezahle den Wolff für seine Bemühungen.“

Ihre Augen füllten sich plötzlich mit funkelnden Zornesthränen.

„O la la! Soll ich mich auch noch da hineinmischen?“ Der alte Herr war aufs peinlichste berührt.

„Ich bitte Dich darum, Onkel, ehe es stadtbekannt wird!“ Ein Schlnchzen erstickte ihre Stimme.

„Ja, meinst Du denn nicht, Kind, daß schon leise, leise darüber geflüstert wird? Hm! – Nun, ich will es thun, schon aus Egoismus, Trudchen. Denkst Du, mir ist es gleichgültig? O, la la, was das für große Tropfen sind. Aber, versprichst Du mir dann auch fünf gerade sein zu lassen? Wie? Du kannst doch nicht von ihm!“

Die Thränen in ihren Augen schienen förmlich zu erstarren. „Nein,“ sagte sie, „aber wir werden uns über die Trennung einigen.“

„Bist Du verrückt, Kind?“ rief der alte Herr mit dunkelrothem Kopf.

Sie wandte langsam den Blick von ihm. „Er hat ja doch nur mein Geld gewollt, er mag es behalten,“ klang es leise an sein Ohr. „Ich war Nebensache, ich –!“

„Na, das ist die erste Empfindlichkeit,“ meinte der Onkel beschwichtigend.

„Kennst Du mich so?“ fragte sie und richtete sich in ihrer ganzen schlanken Höhe auf; ihre verweinten Augen sahen unheimlich entschlossen in die seinen.

Der kleine Herr zog eilig die Thür hinter sich zu; das war just, als ob sein verstorbener Bruder ihn anschaute. In unbehaglichster Stimmung warf er sich in den Wagen. Tausend Wetter, wie war er da wieder hineingerathen durch seine Gutmüthigkeit!

Trudchen blieb allein. Einen Moment blickte sie ihm nach, dann schlug sie verzweifelt die Hände vor das Gesicht, flüchtete sich auf das kleine Sofa und weinte.




Es war gegen Abend. Franz Linden stieg die Treppe hinab, stellte sich auf die Terrasse und pfiff gellend in den Garten hinaus. Er wartete noch eine Weile, dann schüttelte er den Kopf: „Der Köter ist ihr nach,“ sagte er leise, „selbst so ein Thier nimmt Partei gegen mich!“ – Er trat wieder zurück in den Saal und stieß auf Johanne, die am Büffet hantierte.

„Sie werden also in einer Stunde nach ‚Waldruhe‘ fahren,“ redete er sie an und sah dabei an ihr vorüber. „Nehmen Sie das Nöthige an Wäsche und Garderobe meiner Frau mit; was sie sonst noch wünscht, steht jeden Augenblick zu ihrer Verfügung.“

Johanne blickte ihn scheu an, das sonst blühende Männergesicht sah so aschfahl aus in der abendlichen Beleuchtung. „Wenn’s noch eine halbe Stunde Zeit hätte, Herr Linden, – ich will dem Fräulein doch wenigstens noch Bescheid sagen über den Milchkeller.“

„Dem Fräulein? Ah – so –“

„Ja, dem Fräulein, die seit gestern bei der Tante Rosa zum Besuch ist; sie erbot sich dazu, Herr Linden, als sie hörte, daß die gnädige Frau fortreiste. Ich weiß ja doch sonst nicht, wie ich abkommen soll; die Dore ist zu dumm und hat auch zu viel zu thun.“

Ehe er noch antworten konnte, hatte sich leise die Saalthüre geöffnet, und hinter der wunderlichen Figur der Tante erschien ein brünettes Mädchen mit rothen Wangen und blitzenden Augen, die, ihn erblickend, einen etwas unbeholfenen Tanzstundenknix machte und gleich darauf von der alten Dame als Heidchen Strom vorgestellt wurde.

Franz verbeugte sich vor den Damen, stammelte ein paar höfliche Worte und bat um Entschuldigung, wenn er sie verlassen müsse, da er noch Briefe zu schreiben habe.

„Es thut mir so leid,“ klagte Tante Rosa, „daß Frau Trudchen nicht zu Hause –“

Er nickte ungeduldig. „Sie wird bald wiederkommen,“ erwiderte er schon im Gehen.

„Wenn die Heidchen irgend etwas helfen könnte in der Wirthschaft –“ schrillte die Stimme der alten Dame ihm nach.

„Bemühen Sie sich nicht!“ wehrte er ab.

„Ich thue es gern,“ versicherte Fräulein Adelheid schüchtern.

Abermals eine stumme Verbeugung von seiner Seite, und dann war er mit großen Schritten aus der Thür. Auch das noch!

Hastig lief er die Freitreppe hinab in den Garten. Er zog noch einmal den Brief aus der Tasche, den er heute Morgen auf der Platte seines Schreibtisches gefunden, und las ihn durch. Es waren nicht die sonst so zierlichen Buchstaben; hart und fest und groß standen sie dort, und doch unsicher wie in zitternder Erregung geschrieben.

Das Blut schoß ihm siedend zum Herzen. „Es wird sich finden!“ Er steckte das Schreiben wieder ein und nahm ein anderes aus der Brieftasche, das vor einer halben Stunde ein expresser Bote gebracht.

„Ich komme so eben von Wolff, mit dem ich ein Arrangement Ihrer fatalen Angelegenheit beabsichtigte. Der Biedermann ist leider seit gestern am Typhus erkrankt und augenblicklich nicht mit ihm zu verhandeln. Ich kann nur bedauern, daß Sie just an Diesen gerathen sind, und verstehe nicht, warum Sie ihn nicht befriedigt haben. Sobald der Gentleman wieder au fait, werde ich mir erlauben, im Interesse meiner Familie und vor allem meiner Nichte, stillschweigend zu handeln, und bitte Sie, nicht durch ein Vorgehen Ihrerseits die Sache zu verschlimmern. Sie haben Rücksichten zu nehmen!
Ich darf wohl als alter Mann Ihnen einen Rath geben? Ich beurtheile diese Angelegenheit sehr tolerant, aber eine Frau denkt anders darüber. Gestehen Sie doch offen dem kleinen beleidigten Weibe die Wahrheit, – bei ihrem Charakter das Einzige, das sie wieder versöhnen könnte. Ich will gern, schon aus naheliegenden Gründen, das Möglichste thun, um ihr die ganze dumme Geschichte im mildesten Lichte hinzustellen –“

„Rücksichten!“ murmelte er, „Rücksichten auf die Familie!“ Dann lachte er auf und ging schneller in den sinkenden Abend hinein. Was sollte er zu Hause, in den leeren Zimmern, an dem unwirthlichen Tisch und mit dem Herzen voll Groll? Kindischer, alberner Eigensinn war es von ihr – und kein Vertrauen! Womit hatte er verdient, daß sie sofort den Stab über ihn brach, ohne ihn zu hören? Nun, sie würde austrotzen, sie würde wiederkommen, aber – der Zauber war gebrochen, der Duft, der Farbenschmelz dahin!

Sein Recht mußte er haben, ohne Rücksichten auf Familie Baumhagen, auf sie, der er die Hande unter die Füße gebreitet in treuer, ehrlicher Liebe. Weher hätte sie ihm nicht thun können, weher nicht, als daß sie dem Schurken mehr geglaubt, als ihm; sie, die sonst so besonnen –. Besonnen?

Er sah noch ihre Augen vor sich, die Augen, in denen tief die Leidenschaft glimmte: er hatte sie mehr als einmal im Zorne blitzen sehen, er hörte ihr erschütterndes Schluchzen, ihre vor Bewegung tonlose Stimme, als sie von dem Vater sprach. Er sah sie, wie sie am Hochzeitsabend droben seine Hände stürmisch an die Lippen preßte, eine stumme beredte Unterwerfung, ein Dank für den Zufluchtsort an seiner Brust. Und nun? Sie war verraucht, diese leidenschaftliche Liebe, unterlegen der ersten Prüfung.

Es dämmerte schon, als er von seinem Gange zurückkehrte. Johanne war fort; das Stubenmädchen, das er auf dem Korridor traf, erzählte, sie habe ihr Kind mitgenommen und einen Koffer voll Kleider und Wäsche, auch die Bücher, welche die gnädige Frau gestern zugeschickt bekommen. Er trat in ihr Zimmer; der süße Veilchenduft, den sie so liebte, hauchte ihn an, die Decke der Chaiselongue lag noch so, wie sie dieselbe beim Aufstehen heute abgeworfen. Er hielt es nicht aus, die Sehnsucht packte ihn zu gewaltsam und drohte ihn weich zu machen, er kam wieder hinunter in den Gartensaal. Unwillkürlich behielt er die halbgeöffnete [474] Thür in der Hand – da saß der Amtsrichter am Tische, bestaubt, derangirt von der Brockentour und seelenvergnügt. Aber – wie kam diese Fremde dazu, hier zu schalten?

Das frische brünette Mädchen deckte just den Tisch. Sie hatte über das dunkle Kleidchen eine weiße Schürze gebunden, der Latz schmiegte sich ohne Falten an die volle Brust; sie schob eben mit den runden Armen, die aus den halblangen Aermeln blickten, eine Platte mit kaltem Fleisch auf des Amtsrichters Platz und setzte die Bierflasche neben das Kouvert. Und sie lachte den kleinen wegemüden Freund dabei an, daß alle ihre weißen Zähne durch die Lippen blitzten.

Auch das noch, um die Gemüthlichkeit vollkommen zu machen! Mochte essen wer da wollte! Und nun saß er oben in seinem Zimmer in der Sofa-Ecke; draußen dämmerte die Frühlingsnacht, und eine Mädchenstimme sang um die Wette mit den Nachtigallen dort unten, das mußte die kleine schwarze Adelheid sein; zuletzt scholl es nur noch verhallend aus der Tiefe des Gartens herauf.

Er fuhr erst empor, als der Amtsrichter vor ihm stand.

„Nun möchte ich aber wahrhaftig wissen, Franz – bist Du verhext oder ich? Was ist denn los? Wo ist Madame? Die kleine Schwarze da unten, die wie vom Himmel gefallen scheint, sagte: ,Fort!‘ – Fort? Was heißt das?“

„Fort!“ wiederholte Franz Linden. Es klang so wunderlich, daß der Freund stutzig wurde.

„Es ist etwas passirt. Franz – die Alte, die Schwiegermama hat’s angerichtet. O, diese Weiber!“

„Nein, nein! – Die Sache mit dem Wolff.“

Der Amtsrichter stieß ein gut deutsches Schimpfwort aus, dann setzte er sich neben Linden und schlug ihm auf die Schulter. „Den kriegen wir, Franz,“ tröstete er, „und sie wird wiederkommen, muß wiederkommen, sie wird gar nicht gefragt darum. Aber sie hat das Dümmste gethan, was sie thun konnte, indem sie davonlief.“ Und er begann eine Auseinandersetzung über einen Proceß, der kürzlich in Frankfurt am Main gespielt auf Grund böswilliger Verlassung.

Linden sprang empor. „Bleibe mir mit dem Gesetze vom Leibe!“ sagte er barsch. „Denkst Du, ich werde sie mit Gewalt zurückführen?“

„Und wenn sie nicht von selber kommt, Franz?“

„Sie wird kommen,“ erwiderte er kurz.

„Und der Ehrenmann, dieser Wolff?“

Franz Linden präsentirte dem Freunde eine Cigarre und nahm selbst eine, aber zündete sie nicht an, und indem er sich wieder setzte, sagte er: „Das fragst Du? Habe ich mir schon je etwas gefallen lassen, Richard?“

„Nein, aber worauf stützt sich nun der Mann eigentlich?“

Franz zuckte die Achseln. „Ich sagte Dir schon, daß er erklärte, als ich ihn quasi hinauswarf, er werde sein Recht zu finden wissen. Uebrigens ist der Gentleman krank,“ setzte er hinzu.

„O, das ist fatal!“ bedauerte der Amtsrichter. Er verstummte, denn eben scholl wieder die volle tiefe Mädchenstimme herauf:

„Du hast mir viel gegeben. Du schenktest mir Dein Herz;
Du nahmst mir Alles wieder und ließest nur den Schmerz.“

„Es muß recht schwer sein, Franz!“ flüsterte der Freund nach einer Weile tiefsten Schweigens. „Sehr schwer – ich meine: das Richtige bei den Weibern zu treffen. Wie wirst Du Dich benehmen? Mit Strenge oder mit Milde? Schreibst Du ihr einen groben Brief, oder dichtest Du sie an? Es ist heute so ein Abend, ich könnte selbst Verse machen. Weißt Du, Franz, zünde Licht an und laß uns die Zeitung lesen!“

„Richard,“ sagte der junge Mann laut und stand auf, „wenn Du mir bei der Sache gegen Wolff Deinen guten Rath leihen willst, nehme ich es dankbar an, aber laß meine Frau aus dem Spiele, das ist meine Sache allein!“

[485] Frau Baumhagen hatte ihre Abneigung gegen „Villa Waldruhe“ überwunden und war gekommen, um mit ihrer jüngsten Tochter zu sprechen; irgend etwas mußte geschehen, jedenfalls war sie nicht im Stande, die theilnehmenden Fragen nach dem Befinden der jungen Frau länger zu ertragen. Entweder – oder!

Trudchen saß am Fenster in ihrem dämmerigen kühlen Zimmer und las, wenigstens hielt sie ein Buch in der Hand; zu ihren Füßen schlief Linden’s Hund. Sie erhob sich erschreckt, als sie Tritte auf dem Korridore hörte, und einen Moment überzog ein helles Roth das blasse Gesicht. „Ach, Mama,“ sagte sie müde, als Frau Baumhagen über die Schwelle rauschte in lichtgrauer Toilette, den Hut der Halbtrauer wegen verschwenderisch mit Veilchen geschmückt, das runde Gesicht von der Frühlingssonne und Erregtheit noch lebhafter gefärbt, als sonst.

„Aber Kind, so geht es nicht länger!“ begann sie und küßte die Tochter zart auf die Stirn, „wie Du aussiehst, und wie kalt es hier ist! Jenny läßt Dich grüßen, sie ist heute früh nach Paris, um mit Arthur dort zusammen zu treffen; warum bist Du nicht mit gereist, wie ich Dir vorschlug?“

„Ich fühlte mich nicht wohl genug,“ erwiderte darauf Trudchen.

„Du siehst blaß aus. Es ist ja kein Wunder, ich habe auch nie Rücksichtslosigkeiten vertragen können.“

Die junge Frau hatte ihren Platz wieder eingenommen.

„War Onkel Heinrich einmal hier?“ fragte Frau Baumhagen.

„Gestern erst.“

„Nun, da weißt Du ja, daß Linden sich einfach seine Einmischung bei Wolff verbeten hat?“

„Ja, Mama.“

„Und daß dieser Herr Wolff seit drei Tagen mit dem Tode ringt? Es könnte wohl nichts Besseres passiren, als daß er stirbt, die Angelegenheit wäre damit natürlich zu Ende. Ob man in der Stadt schon eine Ahnung hat von dem wahren Sachverhalt, weiß ich nicht, aber irgend etwas ist in der Leute Mund, man überstürzt sich mit Erkundigungen nach Dir.“

Trudchen nickte leise mit dem Kopfe; sie wußte das Alles schon vom Onkel.

„Und er war nicht hier? bat nicht um Verzeihung, suchte keine Annäherung?“ fragte athemlos Frau Baumhagen.

„Nein!“ klang die Antwort, halb erstickt.

„Armes Kind!“ Die Mutter führte das Battisttuch an die Augen. „Es ist roh, geradezu roh! Danke Gott, daß Du so bald zur Einsicht gekommen. Aber Du kannst doch nicht die ganze Zeit, die der Scheidung vorangeht, hier zubringen?“

[486] Trudchen zuckte zusammen und sah mit starren Augen die Mutter an. Sie selbst hatte ja an weiter nichts gedacht, als an Trennung. Jetzt, wo sie das furchtbare Wort aussprechen hörte, traf es sie wie ein Donnerschlag. „Doch!“ sagte sie dann und wand die Hände unmerklich in einander, „wo sonst?“

„Und was machst Du hier, um Gotteswillen, von früh bis spät?“

„Ich lese und gehe spazieren, und –“ ich gräme mich, wollte sie hinzusetzen, aber sie schwieg. Was wußte Mama von Gram!

„Mein armes Kind!“ Frau Baumhagen weinte jetzt wirklich. Der Aufenthalt hier fiel ihr auf die Nerven, es lag etwas Beängstigendes in der Luft, und es war doch im Grunde eine schreckliche Zeit, die nun bevorstand. Wie, wenn er nicht in die Trennung willigte? Warum hatte Gott dem Kinde einen so unbeugsamen Charakter gegeben, der sie in dies Elend gebracht! Wäre sie doch dem mütterlichen Rath gefolgt! Frau Ottilie hatte vom ersten Moment an einen Widerwillen gegen diesen Menschen gefaßt.

„Ich glaube, ich muß heim, meine Migräne,“ stammelte sie und schraubte ihr Büchschen mit englischem Salz auf. „Wenn Du irgend etwas wünschest, Gertrud, schreibe oder schicke. Willst Du ein Instrument oder Bücher? Ich habe den neuesten Roman von Daudet; ach Kind, es geht bunt her im Leben, und in der Ehe besonders; Du hast noch nicht das Traurigste erfahren.“

„Ich danke, Mama!“ Die junge Frau folgte der Mutter den Korridor entlang und die Treppe hinunter bis in die Hausthür. Frau Baumhagen nahm mit heiterem Lächeln Abschied; der Kutscher brauchte ja nichts zu wissen. „Gute Besserung, Trudchen,“ sagte sie laut, „laß Dir Deine Brunnenkur wohl bekommen!“

Die Zurückbleibende schritt in den Garten hinein. Am Ende der Mauer, da wo der Weg umbiegt, war ein kleines Belvedere angebracht, darüber aus Borke ein pilzförmiges Dach. Dort stand sie nun wieder und schaute in das Land hinein, das im Abendgold und Duft vor ihr lag. Hinter den bewaldeten Ausläufern des Thurmberges, da wußte sie traut und lieb das alte Haus. Sie schritt im Geiste durch alle seine Räume, nur an einer Thür zwang sie die Gedanken vorüber, das Zimmer mit den alten Mahagonimöbeln in das sie zuerst getreten am Hochzeitsabend. Und sie lehnte sich fester auf die Mauer und schaute in die untergehende Sonne, die wie ein feurig rother Ball am Himmel stand, bis ihr die Thränen aus den Augen flossen, und das Herz that ihr weh vor Scham und Demüthigung. Warum nur kam immer wieder dieser Tag herauf und der Abend, der erste, in eben dem Zimmer? Der Abend, wo sie aus seinem Arm geglitten war ihm zu Füßen, ihr Antlitz in seine Hände geborgen, vergehend in heißer Dankbarkeit? Mußte er nicht heimlich gelächelt haben über das thörichte leidenschaftliche, blindlings glaubende Weib? Und der Zorn trieb die Thränen aus den Augen über die blassen Wangen, die Hände zitterten, und riesenhaft bäumte sich der Stolz in ihr.

Sie wandte sich nun und ging dem Hause zu, immer der Hund auf ihren Fersen und in der Stube hockte sie sich wie ein Kind zur Erde und faßte den braunen Gesellen um den Hals. Sie konnte ja weinen, laut weinen, es hörte keines Menschen Ohr, Johanne war nach Niendorf und holte Bücher und allerhand Kleinigkeiten.

Als Johanne endlich kam, saß Gertrud, still wie immer, in der Sofa-Ecke, die Lampe brannte, und sie las. Die behende kleine Person bot einen schüchternen „guten Abend!“ was mit einem stummen Kopfnicken erwidert wurde. Sie legte neben das Buch ein paar Rosenknospen. „Die Ersten aus dem Niendorfer Garten, gnädige Frau.“

Und als keine Antwort darauf kam, sprach sie weiter, während sie die Wäsche aus dem Korbe nahm und in einen Schrank packte: „Die Dore ist fort, Frau Linden, sie hat sich mit Fräulein Adelheid gezankt, da hat der Herr sie hinausgejagt. Er ist so böse. Herr Baumhagen, der grad draußen war, hat sich bitter beklagt über das Essen heute Mittag; ich stand in der Küche, da kam er herein und sagte, er hätte in seinem ganzen Leben noch nicht solch’ miserable Schoten bekommen, und der Schinken sei nach der verkehrten Seite geschnitten. Da hat dann Fräulein Adelheid geweint und lamentirt und erklärt, sie thäte das Alles nur aus Gefälligkeit. Und der Herr Amtsrichter wollte sie trösten und sagte, es wäre schade um ihre schönen Augen. – Ich soll auch vom Herrn Amtsrichter eine Empfehlung ausrichten, und er käme noch, um der gnädigen Frau Adieu! zu sagen; er reist ja wohl in den nächsten Tagen ab. Herr Baumhagen läßt auch grüßen, und Fräulein Rosa und die kleine Adelheid –“

„Bitte, Johanne, besorge mir den Thee!“ unterbrach die junge Frau den Redestrom.

„Ich hatte eigentlich saure Milch, gnädige Frau, aber gelt, es ist kühl. Ach Gott, und wie sieht’s im Milchkeller aus! Es verkommt Alles, es wäre wirklich besser, wollten die Herrschaften sich dahin einigen, daß das Fräuleiu Adelheid hierher kommt, und ich gehe zum Herrn.“

„Du bleibst hier!“ erklärte Trudchen und senkte die Augen auf ihr Buch.

„Der Herr sieht so blaß aus,“ fuhr die redselige Frau fort. „Der Herr Baumhagen erzählte ihm im Gartensaal, daß es mit dem Wolff zum Sterben kommt; da schlug er mit der Hand auf den Tisch, daß die Kaffetassen klirrten, und sagte: ‚In dieser Geschichte geht mir Alles gner!‘“

Trudchen sah empor; in ihr blasses Gesicht kam Farbe und sie athmete tief auf. „Zum Sterben?“ fragte sie.

„Ja! Ich hörte noch, wie Herr Baumhagen ihn zu beruhigen suchte: es sei wohl so am besten, und er hoffe, es werde sich nun Alles in Frieden arrangieren.“

„Was wollte denn mein Onkel draußen?“ forschte Trudchen.

Johanne ward verlegen. „Ich weiß es nicht, Frau Linden, aber wenn mich nicht Alles täuscht, so redete er Herrn Linden zu – daß – – Ach Gott, gnädige Frau –!“ die schmucke Person kam herüber und blieb vor dem Tische stehen, den sie zierlich gedeckt.

„Was Sie mit einander gehabt, die Herrschaft, das weiß ich nicht, es kommt mir auch nicht zu, darüber nachzudenken. Aber sehen Sie, gnädige Frau, ich hatte auch einmal einen Mann, dem ich herzlich gut war – das Leben ist so kurz, meine ich – man sollte sich keine Stunde verbittern, gnädige Frau; was todt ist, kommt nicht wieder. Aber wüßte ich, mein Fritze wäre noch auf der Welt und säße drüben hinter den Bergen, so gar nicht weit von mir – Herr Jesus, wie wollte ich laufen, daß ich hinüber käme, und wäre er auch bitterböse auf mich! Um den Hals fiel’ ich ihm und sagte: ‚Fritze, nun schilt mich und schlage mich, es ist Alles Eins, wenn ich Dich nur habe!‘ Und die junge Wittwe vergaß den Respekt vor der Herrschaft und schlug den Zipfel der sauberen Schürze vor die Augen und begann bitterlich zu weinen.

„Weine nicht, Johanne,“ sagte Trudchen. „Du verstehst das nicht. Mir wäre es schon lieber so – als daß er mich –“ Sie stockte, es war ein Gefühl herzbeklemmender Angst, das sie überkam.

Johanne schüttelte den Kopf. „’s ist nicht recht!“ sprach sie und ging hinaus.

Und Trudchen ließ den gedeckten Tisch und stellte sich ans Fenster und legte die Stirn an das kühle Glas. Ob es nicht Menschenworte giebt, so gewaltig, als hätte Gott selbst sie gesprochen?

Als Johanne nach langer Zeit wieder das Zimmer betrat, fand sie es leer und den Tisch unberührt; und als sie sich anschickte, das bescheidene Tafelgeschirr abzuräumen, da trat die junge Frau eben wieder über die Schwelle und legte einen Schlüssel auf den Schreibtisch. Sie war in des seligen Herrn Stube gewesen, und wie versteinert sah das blasse Antlitz aus unter dem braunen Haar.

„Wenn Besuch morgen kommt, oder wann es sei – ich bin nicht zu sprechen,“ befahl sie, „es müßte denn Onkel Heinrich sein.“ Und sie nahm das Buch vor die Augen und las.

Es rührte sich schon längst nichts mehr im ganzen Hause, da ließ sie das Buch einen Augenblick sinken und starrte ins Leere hinaus. „Nein!“ sagte sie halblaut. „Nein!“




Drei Tage später fuhr die Niendorfer Equipage vor das Gitterthor von „Waldruhe“ und hielt dort eine Viertelstunde im grellsten Scheine der Nachmittagssonne, sodaß sich die Gärtnerkinder nicht satt zu sehen vermochten an der aufsprühenden Farbenpracht von Tante Rosa’s veilchenfarbenem Sonnenschirm und den rothen Straußfedern, die auf Adelheid’s Sommerhütchen lagen und sich effektvoll mit dem dunklen Kraushaare vermischten, das wie in Fransen über der jungen Stirn hing. Auch dem Herrn Amtsrichter mußte dieser Anblick behagen, denn er verwandte kein Auge von dem anmuthigen vis-à-vis.

„Frau Linden bedauert, sie ist nicht wohl genug, um Besuch empfangen zu können,“ berichtete Johanne mit niedergeschlagenen Augen.

[487] Zwei der Insassen des Wagens sahen sich enttäuscht an, und der Amtsrichter suchte in der Brusttasche noch seinem Visitenkartenetui. „So!“ Er händigte der Dienerin die ungebogene Karte ein. „Und hier ist ein Brief, ein wichtiger Brief – verstehen Sie, Johanne? Empfehlen Sie mich, und ich wünschte gute Besserung.“

„Ich auch!“ sagte schüchtern das Fräulein.

Tante Rosa aber schwieg, und da man genauer hinsah, schlief sie, und das alte runzlige Gesichtchen wackelte seltsam über der großen Hutschleife.

„Borrmann, fahren Sie ja recht langsam, wenn wir in den Wald kommen,“ flüsterte der Amtsrichter, „Fräulein Rosa schläft.“ Und der Kutscher schnalzte mit der Zunge und fuhr auf dem weichen Graswege schier lautlos dahin; Johanne sah nur noch, daß der Herr Amtsrichter von der Mitte des Sitzes dem jungen Mädchen völlig gegenüber rückte und daß diese plötzlich so roth erglühte wie die Feder ihres Hütchens.

Johanne ging mit Brief und Karte ins Haus zurück und überreichte sie Trudchen.

„Einen Brief?“ fragte die junge Frau.

„Der Herr Amtsrichter gab ihn mir,“ erwiderte Johanne und verließ das Zimmer, in welchem, trotz der draußen herrschenden Wärme, eine feuchtkühle Luft wehte.

Trudchen öffnete langsam das Kouvert. Es war seine Handschrift; sie hatte es geahnt. Ein rasches banges Herzklopfen nahm ihr fast den Athem, und die Buchstaben flimmerten vor ihren Augen; es verging eine Weile, ehe sie lesen konnte:

 „Gertrud!
Gestern Abend ist Wolff gestorben. Es ist nicht mehr möglich, ihn auf Erden zur Rechenschaft zu ziehen, es ist nicht mehr moglich, seine Schuld aufzudecken. Er steigt ins Grab, ohne die Verleumdung von mir genommen zu haben. Ich bleibe als der vermeintliche Schuldige vor Dir stehen und kann weiter nichts thun, als noch einmal versichern, daß wir – Du und ich – die Opfer eines Schurken geworden sind. Ich habe nie mit Wolff über Dich, über Dein Vermögen verhandelt, noch seine Vermittelung angerufen.

Ich überlasse Dir und Deiner Einsicht das Weitere; zwingen zur Rückkehr werde ich Dich nicht, so wenig ich mich zu einer Scheidung zwingen lasse. Komm’, Gertrud, komm’ bald, und Alles soll vergessen sein. Das Haus ist öde, und die Herzen sind es noch mehr – fasse wieder Vertrauen.   Dein Franz.“

Sie war eben zu Ende mit dem Lesen dieser Worte, da trat Onkel Heinrich ein. Der kleine Herr hatte entschieden gut dinirt; er machte das lustigste Gesicht von der Welt.

„Noch immer hier?“ fragte er. Und als sie nicht antwortete, faßte er sie näher ins Auge – „nun, doch nicht schon wieder in Alteration?“

Aber die junge Frau wankte plötzlich, und Onkel Heinrich sprang noch gerade hinzu, um sie stützend zu halten und mit ängstlicher Stimme Johanne zu rufen. Sie legten die schlanke Gestalt in den Lehnstuhl und wuschen die Schläfen mit kaltem Wasser.

„So sprich doch, Kind!“ bat er, „so sprich doch!“ und daS wiederholte er, bis sie die Augen aufschlug.

„Ich kann nicht,“ sagte sie nach einer Weile.

„Was denn?“ fragte der asthmatische alte Herr.

„Zu ihm gehen! Ich kann nicht! Muß ich denn?“

„Barmherziger Gott,“ stöhnte Onkel Heinrich, „nimm doch Vernunft an! Freilich mußt Du, wenn Du ihn nicht verkommen lassen willst.“

„Ich muß?“ wiederholte sie, und wie zu ihrem Troste fügte sie hinzu: „nein, ich muß nicht! Ich kann mich nicht zwingen Vertrauen zu fassen, ich kann mich nicht verstellen. Nein, ich muß nicht!“ Und sie sprang auf und lief das Zimmer entlang bis zur Thür, bebend vor Aufregung.

„O, la la!“ Der alte Herr griff sich in die Haare. „So bleib! Laß Haus und Hof zu Grunde gehen und den Mann dazu, dem Du die Treue gelobt hast!“

„Ja, ja!“ flüsterte sie, „Du hast schon Recht, aber ich kann nicht!“ Und sie umfaßte in der Tasche die kleine Börse, in welcher das unselige Brieffragment steckte.

Es war, als ob diese Berührung ihr die völlige Besinnung wiedergab. Sie wurde still, schmiegte sich in den Sessel und lehnte den Kopf an die Polster.

„Verzeihe, Onkel – ich weiß, was ich thue.“

„Das weißt Du eben nicht!“ murmelte er.

„Doch!“ klang es trotzig zurück. „Oder meinst Du, ich müßte hinüber gehen und ihn mit gerungenen Händen bitten, mich in Gnaden wieder aufzunehmen?“ Und wie Hohn kräuselte es sich um ihre Lippen.

„Das Gescheiteste wär’s!“ erklärte Onkel Heinrich verdrießlich.

Sie beugte stolz den Kopf in den Nacken zurück. „Nein!“ kam es von ihren Lippen, „und wenn ich noch elender würde! Verzeihen kann ich, aber – hinkuschen wie – wie ein Hund – nein!“

„So soll mich Gott strafen, wenn aus Dir nicht der pure Hochmuth spricht,“ fuhr der alte Herr auf. „Wer giebt Dir ein Recht, Dich so weit über ihn zu stellen? Ein armer Kerl war er, der nicht freien konnte ohne Geld; ist es ein Verbrechen, daß er nach diesem Punkte gefragt? Bei jeder Prinzessin geschieht es. Lieblos bist Du und starr und ungerecht. Hast Du nie ein Unrecht gethan?“

Sie war schon bei den ersten zürnenden Worten zusammengefahren wie ein erschrecktes Kind, nun sprang sie auf, und als sie vor ihm niederkniete, sahen ihre Augen bittend zu ihm empor. „Onkel, weißt Du denn, wie ich ihn geliebt habe? Weißt Du denn, wie ein Weib lieben kann? Zu ihm aufgesehen habe ich, wie zu dem Edelsten auf der Welt, so hoch, so groß kam er mir vor. Zu seinen Füßen habe ich gelegen, und Abends habe ich die Hände gefaltet und Gott gedankt, daß Er mir diesen, gerade diesen Mann gegeben. Der Einzige, glaubte ich, wäre er, der nicht nur das reiche Mädchen in mir sah, und hundertmal hat er mir dies erzählt. Onkel, Du, Du bist immer allein gewesen, Du weißt nicht, wie sehr man lieben kann! Und dann hinunterzusteigen, einen gewöhnlichen Menschen vor sich zu sehen, Einen, der auch die Lüge nicht verschmäht – lieber todt, lieber todt!“ Und sie ließ seine Rechte und barg ihr Gesicht in den zitternden Händen. „Und da, wo das Glück gewesen, da soll ich mit der kargen Pflicht haushalten? Ich soll seine Frau sein, und ich weiß, daß nicht die Liebe ihn zu mir geführt? Ich soll ein zärtliches Wort hören, und nicht dabei denken: ‚Er meint’s nimmer so‘? Er sagt mir etwas, und ich zermartere mich in Zweifeln darüber, ob er es ehrlich meint? O, die Hölle kann nicht schrecklicher sein, denn ich hatte ihn lieb!“

Dem alten Herrn standen die Augen voll Wasser. Er strich verlegen über den schlichten Scheitel der jungen Frau.

„Steh auf, Trudchen,“ bat er leise; und nach einer Pause: „Man soll aber vergeben, sagt schon die Bibel.“

„Ja, von Herzen!“ flüsterte sie, „und wenn Du ihn siehst, so sage es ihm. Ach, und wenn er gekommen wäre und hätte gesprochen: ‚Verzeihe mir‘ – aber so –“

Dem Onkel Heinrich schoß ein Gedanke durch den Kopf. „Dann würdest Du nachgeben, gute Kleine?“ fragte er, „nicht wahr?“

„Ja!“ stammelte sie, „so schwer es auch ist.“

Der alte Egoist wußte, was er zu thun hatte. Er führte das weinende Trudchen zu ihrem kleinen Sofa, ließ sich von Johanne ein Glas Wein reichen und fuhr dann nach Niendorf. Er sah unterwegs immer das schöne thränenüberströmte Gesicht vor sich und hörte ihre klagende Stimme. Als er ziemlich hastig die Treppe zum Gartensaal emporstieg, erblickte er schon durch die Glasscheiben der Thür die kleine schwarze Adelheid neben dem Amtsrichter am Tische, der eben eine Weinflasche entkorkte. Beide waren so vertieft im Anblicken und Erröthen und wieder Anblicken, daß sie den alten Spion da draußen gar nicht gewahrten.

„Nun wahrhaftig, es sind auch Zeiten darnach in diesem Hause Bowlen zu machen,“ dachte Onkel Baumhagen. Er jagte das Paar beim Eintreten mit einen brummigen „guten Tag!“ in die nüchternste Wirklichkeit zurück, und der Herr Amtsrichter begann sogleich mit einem Lamento über das schauderhafte Pech, daß dieser Wolff ein halb jahr zu früh gestorben sei.

„Was ist denn hier los?“ fragte Onkel Heinrich dagegen und sog das Aroma der Waldbeeren ein.

„Die Abschiedsbowle für den Herrn Amtsrichter,“ erklärte Fräulein Adelheid.

„O, la la! Sie wollen fort?“

„Ich muß,“ erwiderte der Kleine mit einem bedauerlichen Blick zu dem jungen Mädchen. „Uebrigens, verehrter Herr, seitdem hier die frauenlose, die schreckliche Zeit angebrochen, ist es, gelinde gesagt, unheimlich in Niendorf. Linden ist seit der Todesnachricht gestern Abend so niedergeschlagen, als sei mit diesem Satanskerl sein Liebstes in die Grube gefahren. Weiß Gott, um einen [488] theuren Verwandten hätte er nicht besorgter sein können, und die Gäule haben sich die Beine abgelaufen, um Erkundigungen über das Befinden des Biedermannes einzuziehen. Ich glaube sogar, er hatte dem Leibarzt dieses ausgezeichneten Erdenbürgers eine Prämie für die Erhaltung seines so kostbaren Lebens ausgesetzt.“

Onkel Heinrich brummte etwas, das beinah wie eine Verwünschung klang. „Wo ist Linden?“ fragte er dann.

„Oben!“ scholl Fräulein Adelheid’s Stimme. „Er sitzt da schon seit heute früh, wenigstens haben wir –“ sie zeigte auf den Amtsrichter und auf sich – „allein dinirt mit Tante, dann sind wir in ‚Waldruhe‘ gewesen, aber nicht angenommen worden, und jetzt ist es die pure Verzweiflung, wenn wir eine Bowle machen. Aber bitte, Herr Baumhagen, wollen Sie nicht einmal kosten?“

Die Kleine hatte ein Glas gefüllt und bot es dem alten Herrn mit lachenden Augen.

Onkel Heinrich warf einen halb ärgerlichen, halb begehrlichen Blick auf das Kelchglas in der niedlichen Mädchenhand. „Hexe!“ sagte er dann, und stolz wie ein Spanier schritt er aus dem Zimmer. Er war zu ernst gestimmt, um auf das „Gequatsch“ einzugehen. Hinter ihm drein aber flog ein glockenhelles Lachen.

„So wollt’ ich doch. daß der Amtsrichter den kleinen Satan mit in den Koffer packte und nach Frankfürt expedierte. oder meinetwegen dahin, wo der Pfeffer wächst!“

Er schreckte den jungen Hausherrn vom Schreibtisch empor. „Linden,“ begann er, ohne sich zu setzen, „unten hält der Wagen, kommen Sie mit zu der kleinen Frau; bitten Sie sie um Verzeihung und Alles ist gut.“

Franz Linden blickte ihn ruhig an. „Wissen Sie, was ich damit thäte?“ fragte er, „ich gestände eine Schuld ein, die ich nie begangen habe.“

„Ach was, Quatsch! Lassen Sie doch Das! Hier kommt’s darauf an, wollen Sie die Frau wieder haben oder nicht?“

„Ist das die Bedingung, unter welcher meine Frau wiederkehren will?“

„Na, versteht sich. O la la! Ich weiß wenigstens genau, daß sie dann kommen würde.“

„Ich bedaure, aber das kann ich nicht,“ erklärte der junge Mann und wurde um einen Schein blasser. „Ich habe nicht um Verzeihung zu bitten.“

„Halsstarriges Volk und kein Ende!“ polterte Onkel Heinrich. „Man freut sich, daß der Hallunke todt ist, und nun sind wir auf dem alten Flecke!“

„Daß der Hallunke todt, ist für mich ein trauriges Schicksal, Onkel.“

„Sie wollen nicht?“ fragte der alte Herr noch einmal.

„Um Verzeihung bitten – nein!“

„So leben Sie wohl!“ Und Onkel Heinrich setzte den Hut auf und verließ eilig das Zimmer und Haus.

„Erlauben Sie doch, daß ich Sie hinunter begleite,“ bat Franz und folgte dem kleinen Herrn, der hastig in den Wagen stieg, als gelte es eine Flucht.

Aber ehe die Pferde anzogen, beugte sich über den Schlag noch einmal sein altes gutes Gesicht, und eine brennende ehrliche Angst stand darauf zu lesen.

„Hören Sie, Franz,“ flüsterte er, „’s ist ein thörichter Stolz von Ihnen. Die Weiber besitzen so ihre Marotten, ich habe zwar nie Eine gehabt – drei Kreuze dahinter – aber ich kenne sie doch. Sie haben so einen gewissen Korpsgeist, sie wollen Alle aus Liebe auf den Schild gehoben werden, und die Kleine ist darin besonders scharf. Sie hat mit ihrem Vater, meinem guten seligen Lebrecht, ein bischen viel in Idealen gemacht; ich sagte es immer: die Krabbe hat zu viel gelesen. Nun sein Sie der Klügere, der nachgiebt! Herr Gott, Sie sind wahrhaftig nicht auf den Mund geschlagen und – sie ist doch eine reizende kleine Frau.“

„Sobald Gertrud wiederkehrt, ist Alles vergessen,“ erwiderte Linden und schloß die Wagenthür.

„Sie kommt aber so nicht, Junge. Kennen Sie den Baumhagen’schen Trotzkopf noch nicht?“ klang es in höchster Verzweiflung.

Er zuckte die Schulter und trat zurück.

„Nach ‚Waldruhe‘!“ schrie im heftigen Zorn der alte Herr dem Kutscher zu, und ohne Gruß fuhr er ab.

„Der Monsieur spielt sich gefährlich auf als beleidigte Unschuld,“ brummte er und stieß in kurzen Zwischenräumen den Stock auf den Boden des Wagens. Und je näher er der Villa kam, desto röther färbte sich sein verärgertes rundes Gesicht. Er brauchte, in „Waldruhe“ angelangt, die Treppe nicht zu ersteigen; Trudchen war im Park. Am Ende eines dunkelschattigen Weges stand sie, und den Onkel gewahrend, kam sie ihm entgegengeschritten in ihrem einfachen weißen Sommerkleide.

„Onkel!“ stieß sie athemlos hervor, und zwei angstvolle Augen suchten in den seinen zu lesen.

„Na, komm!“ der alte Herr faßte sie an der Hand, „gehen wir den Weg vollends hinauf; es thut mir wohl, der Schlag könnte mich sonst beim Stillstehen treffen. Kurz und gut, Kind – er will nicht.“

„Onkel. was hast Du gethan?“ rief Trudchen, und die Röthe der Scham stieg ihr ins Gesicht. „Du bist bei ihm gewesen?“

Ja, ich habe gesagt: ‚Geh und bitte ihr ab, dann ist Alles gut – die Weiber sind mal so!‘ Und er –“

Sie faßte mit der Hand nach dem Herzen. „Onkel!“ stammelte sie.

„Und er sagte: Nein! Es hieße eine Schuld bekennen, die er nicht begangen. So, mein Kind. Ich hab mich da mal wieder als Friedensengel aufspielen wollen, aber – bis hieher und nicht weiter! Jetzt helft Euch allein! Der Aerger schadet mir allemal, Du weißt’s; ich habe nun wieder genug auf vier Wochen. Adieu, Trudchen!“

„Adieu, Onkel, ich danke Dir.“

Er war schon ein paar Schritte gegangen, da sah der alte Egoist sich noch einmal um. Sie lehnte an dem Stamm einer Buche, wie gebrochen, die Blicke zur Erde gesenkt, ein unheimliches Lächeln um den Mund.

„Ei du Grundgütiger!“ stammelte er, nahm den Hut von der heißen Stirn und ging mit schwerem Herzen zurück zu ihr. „Na, nun den Kopf hoch,“ sprach er freundlicher. „Da drüben in Niendorf macht der kleine schwarze Satan eine Erdbeerbowle, der Amtsrichter will abreisen. Wie wär’s, Trudchen, wollen wir mittrinken? Komm, komm, ich bringe Dich hinüber! Siehst Du, wir treten hinein in den Saal, ganz leise – ich will nicht der Egoist sein, der ich bin, wenn Ihr Euch nicht Eins – Zwei – Drei in den Armen habt, Du rufst: ‚Franz!‘, er: ‚Trudchen!‘ und alles ist vergessen. – Trudchen, alte kleine Trude, sei vernünftig. Ist das Leben denn gar so herrlich, daß man sich die paar goldenen Tage der Jugend und der Freude noch muthwillig verkümmern muß? Komm, komm, folge mir dies eine einzige Mal!“

Er hatte sie an das feine Handgelenk gefaßt; aber hastig wand sie sich los, eine förmliche Erstarrung lag über ihrem Antlitz.

„Nein, nein, das ist vorbei,“ sagte sie laut und hart.

[501] Mit leisen Schritten wandelte der Sommer über das Land; gelb bogen sich die Aehrenfelder unter dem warmen Winde, und leergepflückt standen die Kirschbäume auf dem Anger und längs der Chausseen. Wolkenlos blaute der Himmel, und in Niendorf wurde das erste Korn eingefahren.

Aus der Stadt war man in die Bäder geflüchtet, oder in die kühlen Bergthäler. Das Eckhaus am Markte zeigte von oben bis unten verhangene Fenster; Frau Baumhagen weilte in der Schweiz, Herr und Frau Fredrich in Baden-Baden. Onkel Heinrich war nach Helgoland ausgewandert, weil doch nirgend das Frühstück so gut schmeckt wie auf der Badedüne der Felseninsel. Nur jene Beiden saßen still in ihren Nestern; ein kleines Stückchen Wald und Feld trennte sie, aber sie konnten sich nicht ferner sein, hätte zwischen ihnen der Ocean gewogt. Es gab kein Hinüber!

In Niendorf ging es laut her, ungeordnet und unregelmäßig; woher auch sollte Fräulein Adelheid das Getriebe einer Landwirthschaft verstehen? Sie war den ganzen Tag auf den Füßen, sie machte hundert unnütze Wege, und Abends klagte sie, daß die zwei zierlichen Füßchen in den spitzen Hackenschuhen ihr so weh thäten und daß die Mädchen keinen Respekt vor ihr hätten. Tante Rosa war schlechter Laune, sie sah sich auf ihre alten Tage dazu verurtheilt, das Amt einer Ehrendame zu üben; Fräulein Adelheid konnte doch unmöglich mit Linden allein zu Mittag und zu Abend speisen, und sie durfte auch nicht fehlen bei Tische. Also stülpte sich die alte Dame jeden Tag um die zwölfte Stunde ihre Sonntagshaube auf und saß, wie ein Häufchen Unglück, neben Linden auf Trudchens leerem Platz. Es waren verzweifelt traurige Mahlzeiten. Nach und nach verstummte auch Heidchen; [502] eine Antwort bekam sie ja nur in den seltensten Fällen auf ihr Geplauder. So aß man schweigend und trennte sich so rasch wie thunlich, nachdem „gesegnete Mahlzeit!“ gesprochen war.

Aber Franz hatte doch wenigstens noch Arbeit, er konnte nicht immer denken und grübeln und auf die festgeschlossene Thür blicken, die in Trudchens Stube führte; das kam Abends erst im stillen Zimmer, wenn unten die Stimme der kleinen schwarzen Adelheid allerlei schwermüthige Lieder sang, von Liebe und Sehnsucht. Und wenn es um Mitternacht ganz still wurde, wenn Alles schlief in Haus und Hof und nur noch ein verlorner Hundeblaff vom Dorfe herüberschallte, da wanderte er im Zimmer auf und ab, bis die Lampe trübe wurde und erlosch, und selbst dann noch.

Er wartete nicht mehr auf ihr Kommen; Tage, Wochen lang hatte er es gethan. Anfangs war er in verzehrender Sehnsucht bis an die Mauern ihres Gartens geschritten; er wollte da sein, wenn sie hinaustrat aus der Pforte, beim ersten Schritt schon wollte er ihr entgegentreten. Es war umsonst, sie kam nicht.

Einmal hatte ihn das Gesinde mit seltsam rothen Augen gesehen. „Der Herr weint nach der Frau,“ war scheu die Rede gegangen in der Küche.

„Warum holt er sie sich nicht?“ meinte der Kutscher, „ich würde keine Thräne vergießen, wüßte schon, wie ich solch’ hübschen Trotzkopf kriegen thät!“ Und er machte eine nicht mißzuverstehende Gebärde. „Grobian!“ erklärte das Hausmädcheu wegwerfend, und das ganze weibliche Personal wandte ihm den Rücken.

Ach, und es war ein Erntejahr, wie seit langer Zeit nicht; die Scheuern faßten kaum den Gottessegen. Von den Wiesen kam der Duft des Heues herüber und vermischte sich mit den tausend Centifolien im Garten; auf dem Hofe blühte die große Linde, und eine Legion kleiner goldgelber Kücken ließ sich von der Frau Mutter spazieren führen. Droben im Storchneste auf der Scheune wuchsen die Jungen heran; wie eingesponnen lag das alte traute Haus im üppigen Grün, und die Waldreben krochen hinauf zu den Fenstern und sahen in leere Zimmer, und die Schwalben, die unter dem Dache bauten, erzählten in Stadt und Land umher: „Sie ist fort von ihm! Sie ist fort von ihm!“

Ja, man wußte sie überall, die traurige Mär. Trudchen Baumhagen hat sich von ihrem Mann getrennt. In den Kaffeegesellschaften erzählte es flüsternd Eine der Andern, auf der Kegelbahn und am Stammtisch sprach man davon, und an der Table d’hôte im „Deutschen Hause“ war es die stehende Unterhaltung. Genau wußte man ja nicht, weßhalb? Tausend Vermuthungen der wunderbarsten Art wurden laut:

„Er habe etwas gar zu willkürlich über die Mitgift der Frau verfügt –.“

„Sie sei davon gegangen, weil er in bodenloser Heftigkeit die Hand gegen sie erhoben –.“

„Die Schwiegermutter habe etwas dazwischen gebracht –.“

„Gott behüte! Sie ist eifersüchtig – da soll eine kleine schwarze Kousine im Hause sein –.“

„Nicht doch! die junge Frau ist dahinter gekommen, daß er beim Freien um sie eine ‚Vermittelung‘ zu Hilfe nahm. Auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege.“

„Ah, bah! darum läuft ein Weib nicht davon!“

„Alle Wetter, da kennen Sie Trudchen Baumhagen schlecht. Thatsache ist’s, sie ist fort von ihm.“

Ja, Thatsache war es! Und Trudchen saß in ihrem einsamen Hause, in ihrem wunderlich stillen düsteren Zimmer wie eine lebendig Begrabene. Sie las auch nicht mehr, es war, als ob sie mit wachenden Augen schliefe. Zuweilen brachte Johanne ihr Kind, und die Augen der jungen Frau folgten mechanisch dem kleinen Würmchen, wenn es ungeschickt durch die Stube rutschte oder sich am Stuhlbein aufzurichten versuchte, aber anrühren that sie es nicht, selbst wenn es hinfiel und schrie. – Gegen Abend aber kam immer dieselbe unerklärliche Unruhe über sie; dann ging sie im Garten umher in stürmischem Schritt, lange Zeit, bis sie endlich auf dem Luginsland ankam; und dort blieb sie stundenlang und sah den Thurmberg an, bis der Thau ihr Haar und Gewand feuchtete.

„Paß auf, ich werde krank,“ sagte sie zu Johanne, „hier oben.“ Und sie wies nach dem Kopfe.

„Ich glaub’s,“ nickte diese; „man kann sich wissentlich soweit bringen.“ – –

Es war ein Tag zu Ende Juli, furchtbare Schwüle brütete über der Welt, und die junge Frau litt entsetzlich darunter, selbst in ihrem kühlen Zimmer. Regungslos lag sie nach Tische im Sessel am Fenster, ein heftiger einseitiger Kopfschmerz quälte sie, wie so oft jetzt.

Johanne setzte ihr die Tasse mit starkem schwarzen Kaffee auf das Tischchen und legte das Buch hin, in dem schon seit drei Tagen die nämliche Seite aufgeschlagen war. „Hier ist auch ein Brief,“ fügte sie hinzu.

Trudchen hatte förmlich Scheu bekommen vor Briefen. Sie überwand sich aber doch, es waren Jenny’s kritzlige Schriftzüge, und Jenny schrieb nur leichtes oberflächliches Zeug, ein Blick in den Brief genügte da schon. Zwei Blätter fielen ihr entgegen.

„Wir haben schon lange nichts von Dir gehört,“ las sie, „daß es uns angst ist um Dich; bist Du noch immer in ,Waldruhe‘? Gestern lernte ich den Rechtsanwalt K. auf der Reunion kennen, denselben, der in dem bekannten Ehescheidungsproceß des Herzogs von P. mit der Gräfin Y. Vertreter der Letzteren war. Ich redete ihn scherzhaft darauf an, ob man sich von seinem Gebieter trennen könne, wenn man erfährt, daß dieser bei der Werbung mehr unser irdisches Gut als unsere Person im Auge hatte, deutete ziemlich genau die Situation an und sprach von einer Freundin, die in dieser Lage sei. Er erwiderte: ‚Sagen Sie Ihrer Freundin, sie soll ganz still wieder zu ihrem Gatten schleichen, denn sie zieht jedenfalls den kürzeren!‘ Er drückte sich noch unartiger aus, er ist ja bekannt als Grobian.

Na, da hast Du das Urtheil einer Autorität. Mache der Sache ein Ende, denn längeres Zögern könnte Dich so bitter gereuen, wie Du es in Deinem gegenwärtigen hoheitsvollen Zorn Dir gar nicht auszumalen vermagst. Wenn mich nicht Alles täuscht, liebst Du ihn ja wirklich? Nun, es giebt Dinge – aber es ist schwer, darüber zu schreiben. Lies den beigefügten Brief, den Mama mir vor ein paar Tagen sandte. Vielleicht ahnst Du, was ich sagen will.

Ich wünschte, Du wärst mit in Paris gewesen, oder jetzt hier in Baden-Baden, Du würdest einsehen, daß wir deutschen Frauen mit unserer dickfelligen Tugendhaftigkeit, unserm spinnewebzarten himmelblauen Idealismus uns das Leben recht unnütz schwer machen. Ich bin überzeugt, eine Französin hielte sich die Seiten vor Lachen, erführe sie die Ursache Deines ehelichen Konfliktes.

Arthur ist sehr liebenswürdig und parirt aufs Wort. Zur gestrigen Reunion erfreute er mich mit einer Pariser Toilette; sobald er herauskommt aus unserm Nest, ist er wie verwandelt. Adieu, nimm die Sache nicht zu tragisch.
 Deine Schwester.“

Langsam nahm die junge Frau den zweiten Brief; es waren die spitzigen Schriftzüge der Tante Stadträthin, und an Frau Baumhagen gerichtet.

„Liebste Ottilie! Hier ist Alles beim Alten. Ich war gestern in Deinem Hause; Sophie ist auf dem Platz, hat erst wieder große Mottenjagd gehalten. Dein Papagei hat ein schlimmes Auge, geht aber wieder ganz gut. Von Trudchen hörte ich nichts, man wird ja nicht vorgelassen bei ihr, Du wirst wohl Nachricht haben. Ueber Niendorf schwirren allerlei Gerüchte in der Luft. Gestern Abend kam mein Alter aus dem Kegelklub, – es soll ja eine Kousine da draußen sein, die die Wirthschaft führt, Stadtrath Hanke will sie gesehen haben in der Linden’schen Equipage – sehr brünett, sehr apart und unendlich aufgeputzt. Na, Du weißt, die Leute sagen immer gleich viel, aber ich will damit nicht Oel ins Feuer gießen. Einmal sah ich auch Linden, ich erkannte ihn erst, nachdem er beinahe vorüber war, er kam von der Bank. Der Mann hat ja schon graues Haar an den Schläfen; er erschien mir überhaupt als ein ganz Anderer, so – wie soll ich sagen – verkommen.“

Trudchen ließ den Brief sinken, dann sprang sie empor, es ruckte und schüttelte sie in allen Gliedern.

Mit furchtbarer Gewalt zwang sie sich, ruhig zu sein und vernünftig zu denken. Was wollte sie denn auch? Sie hatte sich getrennt von ihm in alle Ewigkeit. Aber das Herz! das Herz krampfte sich zusammen, es that so weh auf einmal und klopfte so laut in der todtenhaften Stille, die sie umgab, daß sie glaubte es zu hören. „Johanne!“ schrie sie auf, aber Niemand antwortete; [503] sie war wohl im Garten draußen oder bei einer häuslichen Arbeit in der Küche.

Was konnte die auch helfen? „Nein, das nicht, nur das nicht!“

Sie saß wieder im Stuhl am Fenster und schaute in das Düster der Bäume. Was gäbe sie darum, wenn der Wald, die Berge schwänden, wenn sie dort hinüber blicken könnte in das Haus – in die Zimmer. „Ein munteres Ding, das schwarze kleine Fräulein,“ hatte Johanne neulich gesagt. Und Trudchen sah sie vor ihrem geistigen Auge, wie sie im Hause umher trippelte, jetzt im Saal, nun die Treppe hinauf, die lieben alten, ausgetretenen Stufen. Tapp! tapp! Nun auf dem Korridor; da schlagen die Hackenschuhe so zierlich und fest auf den Gips; und nun an einer braunen Thür – seiner Thür.

Sie darf eintreten? Ach, sein Zimmer, das traute alte Zimmer! Und Trudchen ringt die Hände in einander wie in bitterem Neid. „Fort!“ sagt sie halblaut, „fort! Die Schwelle ist geweiht – ich – ich bin darüber geschritten am seligsten Tage meines Lebens – an seiner Hand!“

Und sie sah ihn sitzen am Schreibtisch, in der grauen Joppe und den hohen Stiefeln, wie er vom Hofe hereingekommen; seine weiße Stirn hob sich scharf ab gegen das gebräunte Antlitz. Das hatte sie immer so gerne gesehen.

Und graues Haar an seinen Schläfen? Ach, er hatte es noch nicht vor ein paar Wochen!

Und wieder gaukelt eine zierliche kleine Gestalt vor ihren Augen, hin zu ihm. Ach, nur das Eine möchte sie wissen, ob er sie je vergessen kann über einer Andern – über dieser vielleicht? – Aber wozu das Alles!

Sie erhob sich und ging aus der Stube, über den Korridor in ihres Vaters Zimmer. Was Papa gethan, das hatten schon Tausende vor ihm gethan, und Tausende werden es noch thun – man muß ja nicht leben!

Auf dem Nachttischchen am Bette stand noch das Glas mit dem geschliffenen Namenszuge, daraus hatte er das Schreckliche getrunken. Man hatte das Gefäß gereinigt und wieder dorthin gestellt. – Sie that ein paar Schritte nach dem Fenster und zuckte zusammen, ach so – ihr Spiegelbild; sie trat rasch vor das blinkende Glas und sah hinein, es war ein wunderlicher bläulicher Schimmer darinnen, und todtenblaß schaute ihr Antlitz sie an; die tiefen Schatten unter den Augen zogen sich bis auf die Wangen herab. Schauernd wandte sie sich, es leuchtete ihr etwas Unheimliches aus den eigenen Zügen entgegen.

Und wieder stand sie und grübelte. Was bot ihr das Leben noch? Mit ihm war Alles hin, Alles!

„Frau Linden,“ schallte es hinter ihr, „der Herr Rechtsanwalt.“

Sie nickte. „Nach meinem Zimmer.“ Ach ja, sie hatte vergessen, daß sie ihn um seinen Besuch gebeten. Heute schon kam er; erst gestern hatte sie an ihn geschrieben. Aber es war gut so, es mußte ein Anfang gemacht werden.

Sie wendete sich wieder um; mochte er warten, sie konnte nicht hinübergehen jetzt. Sie trat ans Fenster und sah, wie bleifarbig schweres Gewölk am Himmel aufstieg; es braute sich ein Wetter zusammen im Westen. Muth, nur Muth! Wenn es vorüber, lächelt die Sonne wieder; zuweilen richtet sich ein gebrochener Stamm auch nicht wieder auf, desto besser! Nur nicht mehr diese Stille, diese Schwüle. Handeln, handeln – sollte auch –

„Gnädige Frau!“ rief es noch einmal mahnend; da faßte sie sich und ging.

Sie kannte ihn gut, den alten Herrn, der ihr freundlich ernst entgegen schritt; aber sie vermochte kein Wort zu ihm zu sprechen; nur eine stumme Handbewegung nach dem nächsten Sessel. Er wußte ja, worum es sich handelte; mochte er das schreckliche Gespräch eröffnen.

„Sie wünschen meinen Beistand, gnädige Frau, in dieser recht schweren Angelegenheit?“

„Ja, ich wünsche, daß Sie mich vertreten,“ sagte sie und schante an ihm vorüber in die Zimmerecke, „und ich möchte vor allen Dingen, daß – Herr Linden die Bestimmungen erfährt, die ich für diesen Fall getroffen habe. Ich lasse ihn im Besitz meines ganzen Vermögens bis auf dieses Haus und das Kapital, welches auf meines Schwagers Fabrik eingetragen ist.“

Sie sprach das so hastig, als hätte sie es auswendig gelernt.

„Ist es Ihnen denn gar so ernst darum?“ fragte der alte Mann.

In ihren Augen blitzte es jetzt auf. „Denken Sie, ich treibe Scherz mit so traurigen Dingen?“

„Und glauben Sie, daß Ihr Herr Gemahl einverstanden sein wird?“

„Es ist Ihre Sache, Herr Rechtsanwalt, dies zu vermitteln.“

Er verbeugte sich stumm. Auch sie schwieg. Eine unheimliche Stille herrschte im Zimmer, im ganzen Hause; Trudchen war es, als sei eben ein Todesurtheil unterzeichnet worden.

„Es giebt ein böses Wetter heute,“ sagte der Rechtsanwalt nach einer Weile; „ich werde mich bald beurlauben müssen, gnädige Frau. Und da ich auf halbem Wege bin, werde ich nach Niendorf fahren, um persönlich mit Ihrem Herrn Gemahl zu verhandeln.“

„Heute schon?“ Sie hatte es erschreckt ausgerufen.

Er zögerte und sah sie an. „Sie haben Recht, es paßt mir auch morgen besser, sagen wir übermorgen.“

„Nein!“ widerrief sie hastig, „sprechen Sie heute noch, gleich, darüber, es ist ja besser, viel besser!“

Sie erhob sich verwirrt; ihr Kopfschmerz, das Bewußtsein, nun komme der Stein ins Rollen, stürmten auf sie ein. Mechanisch begleitete sie den Herrn bis an die Treppe; dann stand sie auf dem Korridor, die Hand an die schmerzende Schläfe gelegt, schier betäubt. In der Küche hörte sie Johanne, und als ertrüge sie die Einsamkeit nicht mehr, trat sie hinein und setzte sich auf den sauberen Bretterstuhl neben dem weißgescheuerten Tisch; Johanne stand vor demselben und wühlte zwischen Epheublättern und Cypressenzweigen. Sie hatte rothgeweinte Augen, und es fielen noch immer ein paar Tropfen auf ihre Hände, die einen Kranz banden. Die ganze Küche roch wie Tod und Begräbniß.

„Was machst Du da?“ fragte Trudchen.

Johanne sah zur Seite und unterdrückte ein Aufschluchzen.

„Morgen wird’s ein Jahr,“ sagte sie halb erstickt, „da brachten sie ihn mir todt ins Haus.“

„Ja richtig!“ Die beiden Frauen sahen sich tief in die traurigen Augen; jede mit dem Gedanken, sie wäre die Unglücklichste. Ach, aber da stand der Wagen mit dem schlafenden Kinde, und das gehörte Johanne; und Johanne konnte an ihn denken ohne anderes Weh und Herzeleid, als die Trauer um seinen Verlust. Durch den Tod verloren – es ist nicht halb so schwer, als durch das Leben. Trudchen fand kein Wort der Theilnahme.

„Wie man’s nur überleben kann,“ schluchzte die junge Wittwe. „So frisch und gesund ging er über die Schwelle, ich meine immer noch, ich sehe ihn die Gasse hinaufschreiten. Und gerad am Abend vorher hatten wir uns zum ersten Male ein wenig ernsthaft gezankt, und ich hatte gedacht: ‚Wart, Du sollst schon betteln um ein freundlich Wörtchen.‘ Und da hab’ ich mich ohne ‚gute Nacht‘ zu Bette gelegt und hab’ ihm am andern Tage früh keinen Kaffee gekocht. Ich hörte ihn so herumhantiren in der Stube und freute mich in mich hinein, daß er so nüchtern fort mußte. Er kam nochmal an mein Bette und sah mir ins Gesicht, und ich that, als ob ich schliefe. Wie er aber kaum die Hausthür zu hat, bin ich schon auf den Füßen und sehe ihm nach; er war ja mein ganzer Stolz. Das letzte Mal ist’s gewesen, keine zwei Stunden später haben sie ihn mir gebracht; und Tag und Nacht habe ich geschrieen auf den Knieen vor ihm und gefragt, ob er noch böse ist? Und habe Gott gebeten, daß er ihn nur noch einmal die Augen aufthun läßt, daß ich sagen könnte: ‚Adieu Fritze, komm gesund heim, Fritze!‘ Aber Alles umsonst, er hat nichts mehr gehört.“

Trudchen sprang plötzlich empor und verließ die Küche. Herr Gott im Himmel! Sie fühlte sich zum Sterben elend. In tollem Wirbel drehte es sich hinter ihrer Stirn, nicht anders, als ob Verstand und klares Denken in wilder regelloser Flucht begriffen seien. Sie wollte hier das fortsausende Ende eines Gedankens festhalten und konnte ihn nicht mehr haschen, und dort eine Vorstellung, die noch vor fünf Minuten in schreckensvoller Deutlichkeit sie gepackt und der sie sich nun nicht mehr zu erinnern wußte, trotz allen Sinnens; nur die dumpfe Angst vor etwas Entsetzlichem blieb.

Es war wohl die schwüle Gewitterluft, die beängstigende Stille der Natur vor dem Unwetter, das ihr die Nerven empörte?

[504] Sie klingelte und ließ Eiswasser bringen. Als Johanne das thauig beschlagene Glas vor ihr niedersetzte, wandte sie den Kopf zur Seite. „Johanne, weißt Du zufällig, wie lange die – junge Dame noch auf Niendorf bleibt?“

„Ich glaube, den Sommer über, Frau Linden,“ war die Antwort. „Es ist ja auch gut, was sollte werden da drüben?“

Trudchen biß sich auf die Lippen, sie schämte sich. Was hatte sie danach zu fragen?

„Wünschen Sie noch etwas, gnädige Frau?“

„Ich danke!“ Und sie blieb einsam in ihrem Zimmer wie alle Tage bisher. Sie hörte das Ticken des Wurmes in dem alten Holzwerke und dann und wann den Tritt der Dienerin auf dem Korridor. Mit brennenden Augen starrte sie in den sich mehr und mehr verdüsternden Himmel; ihre Hände hatten das schmale Polster der Stuhllehne umklammert, als müsse sie wenigstens äußerlich einen Halt haben.

Allmählich begann es finster zu werden, der hereinbrechende Abend, die schwarzen Wetterwolken im Verein schufen eine völlige Dämmerung, nur zuweilen leuchtete es grell auf hinter dem Geäst der Bäume. Nebenan schloß Johanne die Fenster der Schlafstube.

„Soll ich Licht bringen?“ fragte sie und schaute durch die halbgeöffnete Thür.

„Ich danke!“

„Aber gnädige Frau sollten sich doch vom Fenster fort setzen, es sieht sich so schauerlich an.“

Trudchen rührte sich nicht, und das verweinte Frauengesicht verschwand.

Da fuhr ein Windstoß durch die Bäume, wild schlugen die Zweige in einander, als erwehrten sie sich der rohen Gewalt; bis zur Erde bogen sich die schwanken Aeste und schnellten wieder empor, und in rasendem Wirbel schleuderte der Sturm Sand, abgerissene Blätter und kleine Steine an die zitternden Fensterscheiben. Und nun ein greller zuckender Blitz, ein Donner, der das Hans erbeben machte, und zu gleicher Zeit strömender, wolkenbruchartiger Regen, untermischt mit dem eigenartigen Prasseln großer Hagelkörner.

Johanne kam angstvoll, ihren Kleinen auf dem Arme, in das Zimmer der jungen Frau. „Heiliger Gott!“ schrie sie und sank vor dem nächsten Stuhl in die Kniee. Ein neuer Blitz erfüllte den Raum einen Augenblick mit leuchtend röthlichem Licht, und wie tausend Geschütze krachte der Donner nach.

„Das hat eingeschlagen, gnädige Frau, das hat eingeschlagen!“ rief sie jammernd.

Trudchen war vom Fenster zurückgetreten; sie stand mitten im Gemach. Beim Scheine der Blitze konnte die Dienerin ihr blasses unbewegliches Gesicht deutlich erkennen. Sie stützte die Hände auf die Tischplatte und schaute nach dem Fenster, als ginge das Alles sie nichts an. Und immer furchtbarer tobte das Wetter, die Welt schien in einem Flammenmeer zu stehen. Stunden schien es zu währen. Aber allmählich wurden die Blitze seltener, schwächer die Donnerschläge, zuletzt tröpfelte nur noch ein leiser Regen auf die Bäume, und im fernen dumpfen Murren erstarb das Wetter.

Trudchen öffnete das Fenster und bog sich hinaus, wunderbar duftende Luft zog ihr entgegen. weich und herb, erquickend und belebend. Und siehe, da droben hatten sich die Wolken getheilt und ein funkelndes Sternchen blickte hernieder. Dann schrak sie zurück. Von der Landstraße scholl eiliges Fahren. Peitschenknall, Menschenruf – was bedeutete das? Es war sonst todeseinsam hier um diese Zeit.

„Feuer!“ Hatte sie recht gehört? Sie konnte die Straße nicht sehen, aber sie bog sich weit hinaus und horchte auf den verhallenden Lärm. Ein rasches stürmisches Herzklopfen meldete sich. Die Gärtnerfrau kam eben eilig auf klappernden Holzpantoffeln über den spiegelnden Kiesplatz zurück, ihre schrille Stimme drang bis hinauf zu Trudchen: „David, mach’ daß Du hinüber kommst, in Niendorf brennt’s seit einer halben Stunde – die Spritze ist schon hin, mach’ fort!“

Kling, kling, kling, läutete jetzt die Glocke des Kirchleins; in Trudchens Ohr klang es markerschütternd nach. – Kling, kling, kling! Was stand sie noch und hatte die Hände fest an das Fensterkreuz geklammert, als seien sie mit ihm verwachsen? Sie hörte Thüren klappen, und Stimmen und Rufen, sie hörte, wie der Gärtner eilig aus seinem Häuschen polterte – und sie stand noch immer wie im Bann.

Wieder die hastig mahnenden Töne der stürmenden Glocke! Und wie aus schwerem Traume riß sie sich auf, und nun war sie ganz lebendig. Wie gejagt floh sie aus dem Zimmer, riß im Korridore ein Tuch von der Wand und eilte an Johanne vorüber, die mit der Gärtnerfrau und den Kindern vor der Gitterpforte stand, hinaus auf die halbüberschwemmte Landstraße.

„Gnädige Frau! Um des Himmelswillen!“ schrie Johanne hinter ihr drein. Aber sie achtete auf keinen Ruf; wie flüsterndes Gebet lag es auf ihren Lippen, nur weiter – weiter! Dunkel breitete der Weg sich vor ihr aus und einsam; die Männer, die zu Hilfe geeilt, waren längst an Ort und Stelle.

Sie flog förmlich, sie kannte keine Angst in dem finsteren Walde, sie sah nichts weiter als ein liebes altes brennendes Haus, als ein Paar einst so heiß geliebte Männeraugen. Da kam es hinter ihr in tappenden Sprüngen. Ach so – der Hund. „Komm,“ flüsterte sie und eilte weiter, ihr auf den Fersen das kluge Thier.

[517] Der Weg noch Niendorf war weit, Trudchen hätte Flügel haben mögen. „Mein Gott!“ stöhnte sie auf, als sie die Anhöhe erklommen und den rothen Schein am Himmel gewahrte. Immer rascher eilte sie am Bergeshang weiter; an der nächsten Biegung Schon mußte sie Niendorf sehen – und nun stand sie dort, hochathmend; fast sinnlos irrten ihre Blicke über das Thal. Gott sei gelobt! Ja, dort wand sich noch rother Dampf zum Himmel empor, hier und da zuckte noch die Flamme auf, aber die Wuth des Elementes schien gebrochen. Zwar hallten noch Rufe und Stimmen herüber, doch schon kamen Zurückkehrende des Weges daher.

Sie trat in den tiefsten Schatten und starrte in die Thalsenkung; heil und unversehrt stand das Herrenhaus, der rothe Schein der ersterbenden Flamme spielte auf seinem grünumsponnenen Giebel und streifte die Wipfel des Gartens. Die Scheuern lagen freilich in Trümmern, aber was that das? Und wie sie so dastand und mit nimmersatten Blicken das Haus umfaßte, da flammte Licht auf hinter zwei Fenstern, und sie schauten zu ihr herauf wie zwei grüßende treue Augen. Es waren seine Fenster. Aber die junge Frau sah keinen Gruß darin. Die schreckliche Angst, die beim Anblick des unversehrten Hauses von ihr gewichen, stieg jäh aufs Neue empor in ihrer Seele. Wie kam es denn, daß in seinem Zimmer Licht war, dort unten lohete doch noch immer die Gluth? Er wäre im Hause, wo seine Hilfe noch so nöthig?

Nein, nimmer – oder er – –

Hinunter! Hinunter – nur sehen – nur von Weitem sehen, ob er lebt, ob er gesund! „Das Leben hängt an einem Faden,“ klangen Johanne’s Worte von vorhin in ihren Ohren. „Herr Gott im Himmel, sei barmherzig, strafe mich nicht so!“

An der Gartenpforte blieb sie stehen.

Was wollte sie denn hier? Dort unten war heute ihr Abgesandter eingekehrt und hatte ihm klingendes Geld geboten für ihre Freiheit. Ach Freiheit! Was hilft sie dem Menschen, wenn das Herz in Ketten und Banden geblieben ist? Und sie lief unter den dunklen Bäumen des Gartens dahin, um den kleinen Teich, auf dessen Fläche ein schwacher rosiger Schimmer des verlöschenden Brandes sich spiegelte, und nun war sie unter den Kastanien und sank erschöpft auf einen Gartenstuhl nieder; dicht vor ihr, nur über den Kiesplatz hinweg, das Haus und aus dem Gartensaal schimmerte mattes Licht.

Da droben, hinter seinen Fenstern war der helle Schein erloschen; vom Hofe scholl noch lautes Rufen und Lärm herüber, Wagen wurden geschoben, Pferde ausgespannt, [518] der scharfe zischende Ton eines Wasserstrahles dazwischen. Trudchen zitterte, eine furchtbare Mattigkeit war über sie gekommen, in ihren Schläfen pochte das von Angst und raschem Lauf empörte Blut; der Brandgeruch benahm ihr fast den Athem.

Und dort saß sie unbeweglich und schaute auf die Treppe, die zum Gartensaal führte. Stufe um Stufe verfolgten ihre Augen und blieben an der Thür hängen. „Dort hinauf! dort hinein!“ pochte das Herz, aber wie mit eisernen Klammern hielten Stolz und Scham sie fest.

Allmählich war es stiller geworden auf dem Hofe, dann näherten sich Schritte, feste elastische Schritte. Mit raschem Griff packte Trudchen den Hund am Halsband. „Kusch, Diana!“ rief sie, heiser vor Schrecken. Und nun trat eine Gestalt in den hellen Schein der Fenster und ging, nahe an ihr vorüber, ins Haus hinein.

Franz! Er lebt – Gott sei Dank! Aber er war verletzt, er preßte den Arm so sonderbar an sich. Ja, er lebte! Und nun, nun konnte sie wieder gehen, still und unbemerkt, wie sie gekommen. Dort innen waren ja Hände, die ihn verbinden würden, die –

Wie ein Schüttelfrost jagte es wieder durch ihren Körper. „Komm!“ sagte sie zu dem leise winselnden Hunde, und sie stand auf und wollte in den dunklen Gartenweg biegen, aber das Thier zog ungestüm dem Hause zu, und als wisse sie nicht, was sie thun solle, ging sie vorwärts neben ihm.

Jetzt stand sie vor den Stufen, nun trat ihr Fuß schon darauf. Nur einen Blick dort hinein, nur sehen, ob er sehr leidet, daß er wirklich lebt! Und das ungeduldige Thier noch fester packend, kam sie mit unhörbarem Schritt über die Steinfliesen; und nun lehnte sie an der Thürpfoste und spähte durch die Scheiben in zitternder Aufregung, scheu wie eine Diebin, sehnsüchtig wie ein Kind am Weihnachtsabend.

Das Zimmer wie sonst, die Tapeten, die Bilder. Alles wie sie es verlassen, darinnen Menschen, die geschäftig hin und her eilten, und am Tische dort vor der Lampe, da saß er, das Gesicht voll der Thür zugewandt, schmerzverzogen und blaß. Und neben ihm, sich über ihn beugend mit der ganzen bezaubernden Anmuth einer sorgenden besorgten Frau, das kleine flinke Geschöpf im schwarzen Kleidchen und weißer Schürze, das Schlüsselbund im Gürtel, seinen Arm verbindend. Wie geschickt sie den Leinwandstreif legte, mit wie spitzen behenden Fingerchen sie die Binde befestigte, wie ihr dunkles Haar fast sein Antlitz streifte!

Und das mußten andere Hände thun als die, die hier draußen sich in einander rangen?

Da winselte es freudig neben ihr und riß sich los mit gewaltigem Ruck von ihren zitternden Fingern, und der Hund sprang gegen die Thür, daß sie klirrend erbebte. In schreckenvoller Hast wollte sie fliehen, aber sie fand nicht die Kraft; der Boden schien unter ihren Füßen zu schwanken, mit vergehenden Sinnen hörte sie noch, wie die Thür hastig aufgerissen wurde, dann schwand ihr das Bewußtsein!


Trudchen erwachte, als eben der Tag zu dämmern begann, aus tiefem traumlosen Schlafe. Sie war nicht krank, und sie wußte ganz genau, was mit ihr vorgegangen gestern Abend. Sie lag in Tante Rosa’s Zimmer auf dem Sofa; über ihr lächelte die Urahne in der Puderfrisur, und das ganze rosenbekränzte wunderliche Zimmerchen stand in purpurrothem Morgenscheine.

Zu Füßen des Lagers auf einem niedrigen Schemel saß ein junges Mädchen in schwarzem Kleidchen und weißer Schürze; der dunkle Kopf war gegen die Sofalehne gesunken, die Kleine schlief süß und fest.

Leise erhob sich die junge Frau. Man hatte ihr gestern Abend die durchnäßten Kleider ausgezogen und sie in einen Schlafrock gehüllt; es war ja noch allerhand Garderobe von ihr in Niendorf, auch die schmalen Pantoffeln fand sie vor dem Lager, in welche sie sonst beim Aufstehen zu schlüpfen pflegte. – Sie war sehr eilig und sehr behutsam, um das Mädchen nicht zu wecken. Wie sie aber leise die Thür aufklinkte, fuhr die Schlafende empor, und ein Paar verwunderte dunkle Augen schauten Trudchen an.

„Wo wollen Sie denn hin?“ fragte die klare Stimme.

Trudchen blieb zögernd stehen.

„Herr Linden ist so spät erst schlafen gegangen,“ fuhr Heidchen Strom fort, „er hat bis vor einer Stunde hier an Ihrem Lager gesessen – Sie wollen ihn doch nicht wecken? Es ist kaum vier Uhr.“

Ein Paar feste kleine Hände zogen die junge Frau von der Thür fort und drängten zum Sofa, und im Widerspruch zu den kindlichen Worten schauten sie ein Paar ernste Augen an, und die sagten deutlich: „Thue was Du willst – fort lasse ich Dich nicht!“

Trudchen saß wieder auf dem improvisirten Bette und biß sich die Lippen wund; das junge Mädchen aber machte sich am Nebentische zu schaffen, und bald durchzog würziger Kaffeeduft das Zimmer.

„Hier!“ sagte sie und bot der jungen Frau eine Schale des heißen Getränkes, „nehmen Sie. es wird Ihnen gut thun. Ich habe Herrn Linden auch Kaffee gekocht in der Nacht; – trinken Sie nur ruhig aus, es ist seine Tasse und ein Anderer hat sie nicht an dem Munde gehabt.“

Und als Trudchen schwieg und die Tasse, ohne zu trinken, in der zitternden Hand hielt, fuhr die Kleine fort, ohne darauf zu achten:

„Ja, das war ein böser Tag gestern, das furchtbare Wetter und der entsetzliche Schlag, und im Nu stand die große Scheune in Flammen, und ehe Hilfe kam, da brannte schon die andere, und mit Müh’ und Noth sind die Thiere gerettet. Wenn Herr Linden nicht so ruhig war und so besonnen, es hätte schrecklich werden können! Aber der ging in den Pferdestall, als ob nicht schon die Flammen hinter ihm drein züngelten, und da hat er den Gäulen das Geschirr aufgelegt, und die vorher nicht heraus zu kriegen waren, gingen mit ihm ruhig unter dem brennenden Vordache hin wie die Lämmer. Und, denken Sie nur, als nun der Tumult am allergrößten und die Flammen die sprühenden Garben in die Luft warfen, als wären es Raketen, da schreit etwas so gar arg und jammervoll aus der Luke des Futterbodens, und da ist es Lore, die große Bernhardinerhündin, die da oben ihre Jungen hat. Und wie die unvernünftige Kreatur die Menschen um Erbarmen anflehte! Ich hörte vom Fenster aus, daß Keiner hinauf wollte. ‚Um so ein Vieh!‘ sagten sie Alle. Und da auf einmal sehe ich eine Leiter, und eins – zwei – drei – eine Gestalt oben in den Flammen verschwinden. Was meinen Sie, Herr Linden hat sie Alle geholt, die Alte und die Jungen – Alle!“

Die Augen der Kleinen funkelten in Thränen. „Aber an seinem Arme spürt er es freilich,“ setzte sie hinzu, „und es war doch nur ein Hund, gelt, was könnte der erst für einen Menschen thun! – Tante Rosa war so böse mit ihm und sagte, als er blaß und von Schmerz gepeinigt herunter kam, er hätte verunglücken können. Da meinte er, so ein dummes Ding, wie sein Leben, wäre keinen Pfifferling werth! Und gerade wie er es heraus hatte, da kratzt die Diana so ungestüm an der Saalthür, und da stürzte er hin, daß ich meine, es habe wieder eingeschlagen, und wie ich hinterher renne, da hatte er Sie schon in dem gesunden Arme und sagte, er hatte es gewußt, er hätte es gewußt, daß Sie kommen.“

Trudchen stand nun doch auf und schritt zur Thür. Aber siehe, da kam ein anderes Hinderniß. Das war Tante Rosa, die aus ihrer Schlafstube trat im wunderlichsten Negligé und der riesigsten weißen Schlafhaube, die je eine alte Dame getragen. Sie nickte Trudchen zu und legte die kleine welke Hand auf ihre Schulter.

„Der liebe Gott giebt dem verstockten Herzen immer einen Fingerzeig,“ sagte die uralte Frau. „Ja, in der Noth, da wachsen dem Herzen Flügel, damit es sich hinweg heben kann über all das kleinliche Gerümpel von Stolz und Trotz. Es war gerade noch vor Thoresschluß, mein liebes Kind, denn gestern Nachmittag, nachdem ein gewisser Jemand eine Unterredung mit ihm gehabt, da habe ich die Hände gefaltet und gebetet, daß dem Manne Kraft gegeben werde, den Schlag zu ertragen. – Es sah nicht aus danach, als könnte er darüber fortkommen.“

Heidchen Strom ging jetzt leise aus der Thür, und die alte Frau blieb vor dem schönen jungen Weibe stehen, und unter ihrer mageren durchsichtigen Hand schien die hohe Gestalt fast zusammen zu sinken. Aber keine von Beidem sprach. Das Frühroth [519] glühte höher auf, und dann spielten die ersten Strahlen der Sonne auf dem braunen Haar Trudchens.

Und nun schlug sie die Hände vor das Gesicht. „Das Glück ist dahin – ich kann ihm nichts mehr sein!“ stammelte sie.

„Sagen Sie lieber: ‚Ich will ihm nichts mehr sein‘!“

„Ach ja, und wenn ich auch wollte!“ schrie sie auf. „Es wird ein so elendes Dasein!“

„Wer nicht gern und freudig etwas will, soll es lieber lassen, und Wen es zum Gebet nicht drängt, der soll die Hände nicht falten.“ Und Frau Rosa wandte sich kurz zum Fenster, setzte sich in ihren Sorgenstuhl und ergriff das Andachtsbuch. Sie überließ Trudchen sich selbst und las halblaut ein Kapitel zur Morgenandacht.

Die Worte schlugen wunderbar an das Ohr der Kämpfenden:

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht –“

klang es durch das Stübchen.

„Die Liebe ist langmüthig und freundlich. Und sie erträgt Alles, sie glaubet Alles, sie hoffet Alles und duldet Alles.“

Hatte sie denn die Liebe nicht, die wahre Liebe? Ach, Glaube – Liebe – wie soll sie bleiben, wenn man so grausam betrogen wird! Und das Haus stand vor ihren Blicken, das einsame traurige Haus am Waldesrand, und das Leben der letzten Wochen, so furchtbar öde und leer.

Und „die Liebe erträgt Alles und sie hoffet Alles“ – heißt es.

„Amen!“ sagte Tante Rosa laut. Und Heidchen kam herein, und die junge Frau fühlte plötzlich ihre Hände heruntergezogen, und durch die Thränen in ihrem Auge sah sie, wie die Kleine lächelnd das Schlüsselbund vom Gürtel hakte und es ihr entgegenhielt. „So gut ich es verstand, habe ich Ordnung gehalten,“ sprach sie, „aber so ganz recht wird’s wohl nicht Alles geworden sein; Sie dürfen mir nicht zürnen.“

Sie fühlte die Schlüssel in ihrer kraftlosen Hand; hatte sie sich nicht bis in den Staub gebeugt? „Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht,“ sprach etwas in ihrem Herzen. –

„Ich will ihm vergeben,“ sagte die junge Frau laut. Aber ihr Antlitz war blaß und starr.

„Vergeben mit den Augen?“ fragte Tante Rosa. „Und was dann? Daß Sie ihm weniger glaubten, als einem ausgesprochenen – na, er ist todt, Gott verzeihe ihm – als einem Menschen, der Ihnen völlig fremd war? Nein, kleine Frau, fassen Sie das Herz zusammen und gehen Sie hinauf zu Ihrem Franz und –“

Ich zu ihm?“ klang es schneidend durch das Stübchen. „Ich?“ Klirrend fiel das Schlüsselbund zur Erde; mit bebender Hand riß sie das Kleid vom Stuhle, das sie gestern getragen, und nahm aus seinen Falten die Börse, die den Zettel, den schrecklichen Zettel barg. Ein Weilchen hielt sie das Stückchen Papier in der Hand, dann reichte sie es stumm der alten Dame.

„Ich will nicht gar so kindisch trotzig vor Ihnen erscheinen,“ sagte sie dazu.

Tante Rosa schob die Brille zurecht und las; es flog wie ein Schreck über ihre Züge; nun wie ein Lächeln. Mit unendlicher Verlegenheit sah sie dann in Trudchens Gesicht. „Heidchen,“ rief sie, „Du kannst Zeuge sein, ich war immer die ordentlichste Person mein Lebtag!“

„Ja, Großtantchen, das muß Dir der Neid lassen.“

Und um vorige Weihnacht ist es mir passirt. daß ich einen Brief verlegte. An Linden war er, von Wolff; vier Tage lang haben wir ihn gesucht wie eine Stecknadel. Warte, das war am zweiundzwanzigsten December – fort war der Brief und am sechsundzwanzigsten, da hebe ich zufällig mein Fensterkissen auf, und da liegt das Ding. Wer war froher als ich! Da blieb ich auf bis spät in die Nacht – Linden war bei Baumhagens in Gesellschaft – und wie er endlich kommt, gebe ich ihm den Brief und er steckte ihn achtlos in die Tasche und sagte: ‚Tante Rosa, Sie sollen’s zuerst erfahren, vorhin habe ich mich verlobt.‘ Und in seiner Herzensfreude nahm er mich in die Arme, als wäre ich noch einmal achtzehn Jahre. Sehen Sie, und das –“ sie schlug mit der rechten Hand gegen das Zettelchen, „das ist ein Fetzen von dem Brief, kleine Frau, es stimmt ja ganz genau mit dem Datum!“

Trudchen war schon bei ihr. „Ist es Wahrheit?“ kam es bebend von ihren Lippen.

Die alte Dame nickte. „Wahrheit!“ bestätigte sie. „Rufe mal die Dore; sie hat damals mit gesucht nach dem Briefe und sich dabei eine gehörige Bruse an den Kopf gestoßen, als sie den Schrank abrücken wollte.“

Aber Trudchen wehrte ab. Sie stand noch ein Weilchen stumm, den Kopf gesenkt, Röthe und Blässe in raschem Wechsel auf dem Antlitz, dann ging sie auf die Thür zu und im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

Unhörbar schritt sie die Treppen hinauf, und das alte verdrießliche Gefüge schien die kleinen Füße zu verstehen, die so behutsam auftraten, und wagte nicht wie sonst zu knaxen und zu knarren.

Mäuschenstill war es im ganzen Hause; der Korridor stand noch im Dämmerschein, und die alten Bilder an der Wand sahen schläfrig herunter zu dem jungen Menschenkinde. Die Dielenuhr aber sagte ihr bedächtiges Tack! Tack! Das klang so wundersam in Trudchens Ohren, als sie zögernd an der braunen Zimmerthür stand und den Messingdrücker faßte.

Tack! Tack! Wie die Zeit läuft! Nicht eine Minute sollte man zögern, wenn man etwas gut zu machen hat; eine jede Minute ist ihm genommen – rasch! rasch!

Leise drückte sie die Thür auf und schlüpfte hinein. Sie hatte das Kleid eng an sich gezogen, damit die Schleppe nicht rauschte. Aus dem blassen Gesicht schauten zwei große Augen angstvoll in dem Gemach umher, das von der Morgensonne durchglüht war. Jetzt wollte ihr Herz aufhören zu klopfen, nun wieder raste es in vollen Schlägen – dort auf dem großen Stuhl – er war nicht schlafen gegangen, aber der Schlummer hatte ihn doch gefunden. Dort saß er; der kranke Arm lag auf der Lehne des Sessels, der andere stützte den Kopf. Er war noch in der beschmutzten angesengten Joppe von gestern, und ach – er sah so bleich aus, so verändert!

Der Hund, der zu seinen Füßen lag, hob den Kopf ein wenig und wedelte. Und nun kam sie herüber: „Mach Platz,“ flüsterte sie, „da muß ich jetzt hin!“ Und sie knieete vor dem Manne und faßte die leise zuckende, verwundete Hand und zog sie an ihre Lippen.

„Trudchen, was thust Du denn?“

„Vergieb mir, Franz, vergieb mir!“ flüsterte sie weinend, und wehrte seinen Bemühungen sie empor zu ziehen, „Nein, Franz, nein, laß mich, es soll so sein –“

„Verzeihen? Davon ist ja keine Rede. Gott sei gelobt, Du bist da!“

Aber ehe sie aufstand, zerpflückte sie ein Stückchen Papier in tausend Atome, dann lief sie ans Fenster und öffnete die Hand, und wie Schneeflocken wirbelte es in die Luft hinaus. Und als sie sich umwandte, schaute sie in seine ernsten Augen.

„Was war das?“ fragte er und zog sie an sich.

Da schlang sie die Arme um seinen Nacken und versteckte ihre weinenden Augen an seiner Brust. Und so standen sie am offenen Fenster im Lichte der hellsten Sonnenstrahlen. Zirpend schossen die Schwalben an ihnen vorbei, über die Wipfel der Bäume in den blauen Himmel hinein. „Wieder da! Wieder da!“ klang ihr Gezwitscher.

Und unten im Hause ward’s lebendig; ein kleines brünettes Mädchen deckte den Kaffeetisch im Gartensaal. Zwei Tassen, zwei Teller und in die Mitte ein Rosenstrauß – das letzte Mal,“ sagte sie, „nun kann sie es wieder besorgen und schaffen.“ Dann stand sie sinnend und hielt den kleinen rosigen Finger an das Näschen. „Er weiß gar nicht, wie gut er es hat, daß er eine so fügsame, lammfromme Frau bekommt, wie ich bin,“ flüsterte sie. „Freilich, ich könnte nicht in die Verlegenheit gerathen mir einzubilden, er habe mich ums Geld gefreit.“ Sie lachte plötzlich hell auf. „Das wird ’ne nette Aussteuer, wenn Tante Rosa sie besorgt!“ Und sie wirbelte die Gartenthür auf und lief hinaus in die grüne Pracht.

Die Welt war so schön, die Sonne so golden, und Heidchen hatte den kleinen Amtsrichter so lieb. Sie war verlobt, heimlich verlobt, denn der gute Mensch wollte dem Freunde nicht in lauter Bräutigamsseligkeit unter die Augen treten, wo sein Glück im Begriff war zu zerschellen. So hatten sie sich Beide heimlich Treue gelobt und sich heimlich geküßt – nach der Erdbeerbowle [520] damals. Tante Rosa störte sie nicht, sie schlief in der Sofa-Ecke, und Franz – Gott wußte allein, wo der umherlief.

Aber nun – sie besah ihre niedlichen Händchen, ja, es war Tinte daran; sie hatte es gleich nach Frankfurt berichtet: „Großes Feuer, große Angst, große Versöhnung!“

Sie stand plötzlich vor einem kleinen runden Herrn in staubgrauem Sommerüberzieher und weißem Strohhut.

„O la la! Kleine, rennen Sie mich nicht um!“ Er war sehr verdrießlich, der gute Onkel Heinrich. „Schöne Geschichten! Kommt man die Nacht von Hamburg mit dem Eilzug, kaum aus dem Koupé: ‚Herr Baumhagen, wissen Sie schon, in Niendorf war großes Schadenfeuer?‘ Hundemüde, wie man ist, setzt man sich in einen Wagen und fährt her; man kann doch nicht schlafen nach solcher Nachricht. Ich bitte Sie um des Himmelswillen, Sie machen ja ein Gesicht, als ob heiliger Christabend wäre!“

„Die ganze Ernte ist hin,“ berichtete Heidchen mit einem so freudigen Ton, als sagte sie etwa: „Wir haben das große Los gewonnen.“

„Der arme Kerl hat Pech,“ murmelte Onkel Heinrich. „Ist schon Jemand hinüber –“ er wollte den Namen nicht aussprechen – „zu – nach Waldruhe? Oder hat man die Verkündigung der freudigen Botschaft wieder für mich aufgehoben?“

„Es ist Niemand hinüber,“ antwortete der Schalk.

Onkel Heinrich faßte sie plötzlich schärfer ins Auge. „Na, was ist denn los, Sie Hexe? Irgend was hat’s gegeben!“

„Ich habe mich verlobt!“ platzte die selige kleine Braut heraus. Gott sei Dank, daß sie es aussprechen konnte!

„Sie Unglückskind!“ gratulirte Onkel Heinrich. Aber sie lief lachend davon, dem Hause zu.

„Das Frühstück ist fertig!“ rief sie von der Terrasse herunter, „Kaffee, Thee, Schinken und Eier!“

Der alte Herr, der nach dem Hofe gewollt hatte, um den Brandschaden zu sehen, schwenkte rechts um und folgte ihr. „Es ist auch wahr,“ sagte er, „es wird mir besser werden, wenn ich etwas esse, mir ist nach der Fahrt gar nicht recht im Magen.“ Und Onkel Heinrich pustete die Treppe hinan und faßte die Thür.

Ja, du barmherziger Himmel, sah er denn recht? Da sitzt Linden, den Arm in der Binde, und neben ihm – den braunen dicken Haarknoten sollte er doch kennen und die feine Gestalt, die sich herunterbiegt und ihm das Fleisch zerschneidet. Nun hebt sie den Kopf und küßt ihn auf die Stirn und setzt sich wieder still auf ihren Platz.

„Himmelsakrament! Man soll nur einmal fortreisen –!“ Onkel Heinrich läßt den Drücker fahren; es ist ihm wunderlich zu Muthe, er ist so ungern gerührt, und er stört auch nicht gern. Er möchte sich am liebsten aus dem Staube machen – vielleicht geht es noch an.

Aber nein. Da klinkt Trudchen die Thür auf. „Onkel Heinrich!“ sagt sie bittend. Und er kommt herein und thut gar nicht, als ob es hier je anders gewesen wäre. ’s ist der pure Egoismus, Alterationen bekommen ihm nicht.

„Ich wollte ’mal nachfragen bei Euch, das scheint ja ein netter Brand gewesen zu sein,“ beginnt er.

„Gottlob! – kein Mensch ist verunglückt,“ sagt nun auch Linden, „kein Stück Vieh verbrannt, die Ernte freilich ist völlig hin, aber dafür aus der Asche etwas Anderes neu erstanden!“ Und er reichte Trudchen die gesunde Hand.

„O, la la!“ murmelte Onkel Heinrich und nimmt sich hastig Schinken und Butter, „ich sage Euch, Kinder, das Reisen ist eigentlich Strapaze, und wenn in Helgoland die Hummern nicht wären und in Hamburg die Aalsuppe, so – Aber Trudchen, Du lachst ja unter Weinen! Na ja, ich bin froh, wieder daheim zu sein; es geht doch nichts über die Heimath, und wenn Ihr erlaubt, so nehme ich dieses Glas mit gutem Portwein und leere es auf Euer Wohl und Eures Hauses Frieden!“


Anmerkungen (Wikisource)