Ueber unbewußtes Zählen

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Autor: W. Preyer
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Titel: Ueber unbewußtes Zählen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 2, S. 15, 16, 36
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ueber unbewußtes Zählen.

Von W. Preyer.
I.

Auf den ersten Blick scheint die Ueberschrift „Unbewußtes Zählen“ sich selbst zu widersprechen. Denn wer von 1 bis 100 zählt, weiß bei jeder einzelnen Zahl, daß er zählt: aber es giebt in Wirklichkeit so viele Fälle, in denen der gebildete Mensch zählt, ohne es zu wissen, daß es ihm unmöglich sein würde, sich in der Welt zurecht zu finden, falls er plötzlich diese Fähigkeit verlieren sollte.

Liegen drei Geldstücke neben einander auf dem Tische, so wird Jeder, der sie sieht, auf die Frage „wie viele es seien?“ nach einem einzigen Blicke antworten „3“; auch wenn 4 oder 5 Münzen nur einen Augenblick angesehen werden, erfolgt fast jedesmal die richtige Antwort ohne Zögern. Sie wird so schnell gegeben, daß zum überlegten, wenn auch noch so beschleunigten Zählen keine Zeit bleibt.

Also ist unbewußtes Zählen nicht nur nichts in sich Widersprechendes, sondern etwas Alltägliches. Man darf nicht einwenden, das sei kein Zählen mehr; denn wenn Jemand bestimmt angeben kann, ob 3 oder 4 oder 5 Gegenstände sich vor ihm befinden, so muß er Zahlen unterscheiden können, und gewiß ist, daß, wer nicht zählen kann, auch jene Fragen nicht zu beantworten vermag. Kinder müssen, um 3 Kugeln von 4 Kugeln zu unterscheiden, anfänglich die eine Kugel zur anderen fügen; manche lernen aber dadurch zählen, ehe sie die Zahlwörter kennen.

Hierdurch ist bewiesen, daß Zählen die Kenntniß der Zahlwörter nicht nothwendig voraussetzt, wie denn auch ungebildete Taubstumme, die noch nicht lesen und schreiben können, ohne Ziffern nur mittels ihrer Finger zählen.

Dann folgt aber weiter aus dem Verhalten des Kindes, welches die Bedeutung der Zahlwörter erlernt hat, daß nur durch Uebung, das heißt durch sehr oft wiederholte Zählung von wirklichen Dingen, die Sicherheit des unbewußten Zählens beim bloßen Anblick von 1, 2, 3, 4 bis 5 Dingen erreicht wird. Wer sich nicht übt, wie der Blödsinnige, kann nicht, ohne die Eins zur Eins zu fügen, bis 3 zählen und bleibt auf der niedrigsten Entwicklungsstufe des Kindes stehen.

Nun ist aber bekannt, daß Niemand, wenn etwa 50 Stahlfedern oder einzelne Markstücke ungeordnet vor ihm liegen, in einem Augenblicke sagen kann, wie viele zu sehen sind. Der Eine zählt schneller als der Andere, der Lehrling macht Gruppen von drei, von fünf, von zehn und faßt die Gruppen zusammen, der erfahrene Geldwechsler übersieht mit großer Sicherheit vielleicht in wenigen Sekunden die ganze Summe, ohne das Geld zu berühren, aber auch er wie jeder Andere muß aufmerksam zählen, sowie die Anzahl der Stücke über eine gewisse Grenze hinausgeht. Wo liegt diese Grenze?

Der bekannte Rechenkünstler Dase, welcher im Jahre 1861 starb, sagte, für ihn wären einige dreißig gleichartige Gegenstände ebenso sicher in einem einzigen Augenblicke gesondert wahrnehmbar, wie für andere Menschen drei oder vier, und es ist oftmals bestätigt worden, daß er nicht übertrieb; denn wenn er schon durch seine kaum von den besten Rechenmaschinen seiner Zeit übertroffene Sicherheit im Kopfrechnen das größte Aufsehen erregte, so ist doch seine Art zu sehen, die Geschwindigkeit, mit der er die Anzahl von Schafen in einer Herde, von Büchern in einem Repositorium, von Fensterscheiben in einem großen Hause richtig angab, noch erstaunlicher.

Weder vor ihm noch nach ihm hat man von einem solchen Talent etwas gehört. Da aber jeder Mensch dasselbe Vermögen in geringem Grade besitzt und, wie ich hier zeigen will, durch Uebung steigern kann, so ist es wohl möglich, daß in Zukunft mehrere derartige Zählkünstler auftauchen werden. Die Meisten wissen nur nicht, wie leicht es ist, sich zu üben.

Zunächst kann man sich schon durch wenige Proben davon überzeugen, daß ohne Uebung nicht Jedermann 6 und 7 ebenso sicher unterscheidet, wie 3 und 4. Aber man braucht nur mit bekannten kleinen Gegenständen, wie Zündhölzchen oder Stecknadeln, die in unbekannter Menge unter einem Blatt Papier liegen und die man während der Dauer einer Sekunde enthüllt und ansieht, Rathversuche anzustellen, so merkt man bald, daß nicht viel dazu gehört, um 6 bis 7 und dann bis 9 ebenso sicher jedesmal richtig zu taxiren, wie 3 bis 5. Aber man muß sich wohl hüten, bei diesen Bemühungen bewußt zu zählen – dazu darf man sich gar nicht [16] Zeit nehmen – oder nachher in der Erinnerung zu zählen, das würde viel zu lange dauern, vielmehr ist es nothwendig, einfach mit größter Anspannung der Aufmerksamkeit zu schätzen.

Wer sich jedesmal ernstlich bemüht richtig zu rathen, wundert sich, nachdem er sich an dem unterhaltsamen Spiele öfters betheiligt hat, daß ein falsches Errathen immer seltener vorkommt, während es anfangs häufig war. Erst wenn die Zahl der angeschauten Gegenstände größer als 9 wird, kommen wieder Fehler in größerer Häufigkeit und größere Fehler als 1 zuviel oder 1 zuwenig vor. Jedoch weitere Uebungen im Schätzen auch größerer Mengen kleiner Gegenstände vermindern auffallend schnell die Größe und Häufigkeit der Fehler. Manchem will es freilich nach vielen Proben nicht glücken über die 10 hinauszukommen, wahrscheinlich wegen mangelhafter Anspannung der Aufmerksamkeit, welche anfangs groß sein muß und erst nach Erwerbung der neuen Fertigkeit im Schnellsehen nicht mehr besonders anstrengend ist. Dann hat man ein Gefühl, als wenn die richtige Zahl blitzschnell in den Kopf hineinführe.

Um diese Art der Zählung methodisch einzuüben, zeichnete ich auf weiße Karton-Vierecke (vergl. beifolgende Abbildungen) unregelmäßig und regelmäßig vertheilte Punkte und kleine schwarze kreisförmige Felder, welche einen Augenblick angesehen werden und sich vorzüglich zur Erlernung des unbewußten Zählens eignen. Es zeigte sich dabei, daß sehr viel auf die Anordnung der Punkte ankommt. Ein Kartenspieler erkennt sofort, ohne zu wählen, daß auf der Karte „Herz-zehn“ zehn Herzchen dargestellt sind, nicht aber ebenso schnell und ebenso sicher zehn Herzen oder Punkte, die z. B. ein Kreuz bilden. Die Symmetrie der Anordnung allein macht also nicht die Schätzung leichter, sondern die Kenntniß der Art der symmetrischen Anordnung.

Die Punkte der Kreuze, von denen man auf einmal nur eines freilegt und etwa eine Sekunde lang ansieht, sind schwerer richtig zu schätzen, als die Punkte in Kartenanordnung und in daraus gebildeten Figuren:

Noch leichter aber sind die Punkte zu schätzen in der Anordnung der Dominosteine und in derselben entsprechenden Figuren:

Man darf dabei die Punkte nicht zu klein zeichnen und muß sie tiefschwarz auf weißem Grunde oder umgekehrt vor sich haben. Alle Felder außer dem zu betrachtenden bleiben verdeckt. Am schwersten gelingt die Schätzung ungeordneter Punkte, zum Beispiel in folgenden Figuren:


Uebung, welche nur geduldige und aufmerksame Wiederholung ist, macht auch hier den Meister. Indessen ist schon durch den Fall Dase dargethan, daß noch so lange fortgesetzte Uebung über eine gewisse Grenze nicht hinausführt. Für die rasche Schätzung oder unbewußtes Zählen von Punkten in unbekannter symmetrischer Anordnung oder beliebigen gleichartigen ungeordneten Gegenständen scheint die Summe der Finger und Zehen, also 20 die Grenzzahl zu sein. Jenseit 20 hört wahrscheinlich, jenseit 30 zweifellos die Sicherheit auf auch nach der größten Uebung, an welcher es Dase nicht fehlte.

Damit ist nun nicht gesagt, daß mehr als 30 Punkte überhaupt nicht mit Sicherheit fast gleichzeitig unter besonderen Umständen aufgefaßt werden könnten; aber sie müssen dann schon in längst bekannter, förmlich auswendig gelernter Anordnung vorliegen. So können sehr geübte Karten- und Domino-Spieler in Neunern und Zehnern oder Fünfern und Sechsern etc. gegen 40 Punkte so schnell übersehen, daß sie sich der Addition nicht bewußt werden. Hierbei ist es aber nicht mehr die unmittelbare Anschauung der einzelnen Punkte, sondern die der Bilder, welche entscheidet. So wenig jemand beim Anblick der Zahl 8 von 1 bis 8 zählt, zählt der Spieler beim Anblick der Herz-acht. Das Kind, welches die Karten noch nicht kennt, zählt die einzelnen Herzen, indem es jedes derselben mit dem Finger betastet.

Um es schnell möglichst weit zu bringen, ist sehr bequem für Anfänger die Einübung mittels eines Buches. Wer mit geschlossenen Augen ein Buch aufschlägt und den größeren Theil einer Seite verdeckt oder durch einen Andern verdecken läßt, hierauf einen schnellen Blick auf die freigelassenen Zeilen wirft, um sofort zu errathen, wieviele es sein mögen, wird nach öfterer Wiederholung des einfachen Versuches, jedesmal mit einer andern Seite und ohne zu zählen, verwundert sein über die Sicherheit im Schätzen, welche dadurch sich ausbildet. Das kleine Kind aber ist völlig außer Stande, auch nur drei Zeilen mit einem Blick von einer Sekunde richtig zu schätzen.

Während der geistigen Entwickelung findet also eine Abkürzung, Vereinfachung und Beschleunigung des Zählens statt. Was zuerst mit Langsamkeit und Bedacht, mit gespannter Aufmerksamkeit und in mehreren Abtheilungen vorgenommen wurde, wird später sehr schnell ohne Anstrengung, ohne besondere Anspannung der Aufmerksamkeit, fast „wie von selbst“ oder „mechanisch“ ausgeführt.

Allemal ist mit einer ganz neuen geistigen Erregung von Gehirntheilen der höchste Grad des Bewußtseins verbunden, daher das Packende einer neuen Idee, während mit der Wiederholung derselben Erregung, je mehr also der Reiz des Neuen schwindet, auch um so weniger Bewußtsein in Anspruch genommen wird. Das Zählen wird schließlich durch immer wiederholtes Fortschreiten von 1 zu 2 zu 3 zu 4 etc. unbewußt wie zum Beispiel das schnelle Bewegen der Finger beim Klavierspielen, welches anfangs große Mühe und Willenskraft erforderte. Es wird in allen ähnlichen Fällen Bewußtsein erspart.

Was beim erstmaligen Eindruck höchst überraschend erschien, kann sogar, wenn es gar zu oft wiederkehrt, wie das ABC, trivial werden, nämlich abgenutzt. Am Scheideweg, wo drei häufig begangene Wege zusammentreffen, ist der Boden mehr abgetreten, als auf jedem einzelnen Wege, daher das Wort (aus dem Lateinischen tres, tria „drei“ und via „Weg“). Geradeso die einfache Verstandesthätigkeit des Zählens, deren zugehörige Bewegung schließlich die sehr oft benutzten Nervenfasern und Nervenzellen im Gehirn unbewußt durchläuft. Auf neu angelegten Eisenbahnen fahren nur langsame Züge; je älter die Bahn, je besser sie sich bewährt, um so schneller saust der Kourierzug dahin, ohne an Zwischenstationen zu halten. Aehnlich der Eilzug menschlicher Gedanken im Gehirn.

Und hierauf beruht auch die praktische Bedeutung der Schnell-Zähl-Uebungen.

Wer bis 20 oder nur bis 12 unbewußt sicher zählt, hat einen großen Vortheil vor Anderen voraus, welche nicht einmal 6 von 7 unfehlbar unterscheiden können, ohne zu zählen, weil er sein Bewußtsein anderen Dingen zuwendet und namentlich durch die Uebung im Schnellsehen überhaupt seine Kenntnisse wesentlich erweitert, wo ein Anderer nur ganz langsam von der Stelle kommt.

Diejenigen Bewegungen des Menschen, welche durch einen äußeren Eindruck ohne Betheiligung des Bewußtseins geschehen, wie z. B. die Verengerung der Pupille, wenn helles Licht in das Auge fällt, nennt man bekanntlich Reflexbewegungen. Dieselben kommen zum Theil dadurch zu Stande, daß oft wiederholte willkürliche Bewegungen (z. B. das Schließen des Auges, wenn man mit der Hand dagegen fährt, ohne zu berühren, das Hutabnehmen beim Grüßen) immer schneller ohne Willen und Ueberlegung verlaufen. So wird auch das Zählen von 1 bis 5 bei jedem durch Wiederholung unbewußt und nähert sich der Reflexbewegung. Und wenn viele solcher einfacher geistiger Vorgänge, bei deren bewußter Wiederholung man nichts Neues lernt und nur Zeit verliert, immer schneller und mehr wie Reflexe ablaufen, dann wird das Gehirn frei für höhere Geistesthätigkeit.


[36]
II.

Auch im Gebiete anderer Sinne zeigt sich die Richtigkeit der in der vorigen Nummer ausgesprochenen Schlußfolgerung.

Zwar hält es sehr schwer, beim gleichzeitigen Berühren einer Hautstelle mit mehreren Nadelspitzen oder kleinen Erhabenheiten zu unterscheiden, ob 4 oder 5 Berührungen stattfinden – weil die Erfahrung außer bei Blinden darüber fehlt –, aber erstaunlich fein ist das Vermögen des unbewußten Zählens beim Hören, besonders in der Musik ausgebildet.

Wenn zwei Töne gleichzeitig oder schnell nach einander erklingen, so hat man entweder ein Gefühl der Befriedigung über das Zusammenklingen – dann bilden die Töne einen Wohlklang (eine Konsonanz) – oder ein Gefühl der Unbefriedignug – dann bilden sie einen Mißklang (eine Dissonanz). Im ersteren Falle ist stets das Verhältniß der beiden Töne ein einfaches und durch kleine Zahlen ausgedrückt. Das Verhältniß der Anzahl der Schwingungen, welche sie in der Luft und im Ohre in gleichen Zeiten bewirken, ist bei dem vollkommenen Wohlklang der Oktave 1 zu 2, bei der Quinte 2 zu 3, bei der Quarte 3 zu 4, bei der großen Terz 4 zu 5, bei der großen Sexte, 3 zu 5, bei der kleinen Terz 5 zu 6 und bei der am wenigsten befriedigenden Konsonanz der kleinen Sexte 5 zu 8. Alle anderen Tonverhältnisse innerhalb der Oktave sind dissonant, so namentlich die Intervalle 15 zu 16 und 24 zu 25, der sogenannte große und kleine halbe Ton, auch die große Septime 8 zu 15. Woher diese auffallende Verschiedenheit?

Wenn man bedenkt, daß außerhalb des Ohres in der Luft die tonerzeugenden Schwingungen sich durch ihre Geschwindigkeit und Stärke von einander unterscheiden, so daß die kleinen und schnellen Schwingungen leise hohe Töne geben, die großen schnellen laute hohe, die kleinen langsameren leise tiefe, endlich die großen langsamen laute tiefe Töne hervorbringen, dann erscheint es natürlich anzunehmen, daß die im inneren Ohre vorhandenen elastischen Theilchen an den äußersten Enden der Hör-Nervenfasern abgestimmt seien und in ebenso viele Schwingungen gerathen wie die schallende Luft und das Trommelfell, und zwar wie diese stark und schwach. Jedem Ton entspricht eine Faser, welche allein am stärksten mitschwingt, wenn er erklingt. Eine solche Ansicht hat sehr scharfsinnig Helmholtz begründet. Wenn nun im Ohre eine große Anzahl von Nervenenden (nach den Zählungen guter Beobachter jedenfalls mehr als 16 000, wahrscheinlich über 20 000) wie die Tasten des Klaviers neben einander ausgebreitet sind und jeder Faser ein Ton entspricht, so erscheint es wohl annehmbar, daß man beim Hören der Töne, welche um gleichviel von einander abstehende Fasern in Thätigkeit setzen, ein anderes Gefühl, und zwar ein befriedigenderes habe, als wenn sie ohne Rücksicht auf die Anzahl der zwischenliegenden unerregten Nervenfaserenden durch einander erklingen. Wenn also z. B. ein Ton von 64 Schwingungen in der Sekunde, ein tiefes C, ertönt und mit ihm oder sogleich nach ihm das angestrichene mit 128 Schwingungen, so wird dieses Tonpaar vor allen anderen mit dem C gebildeten ausgezeichnet sein dadurch, daß der Ton, vom Anfang der Tastatur im Ohr an gerechnet, gerade so viel unerregte Nervenenden unter sich hat, wie bis zum zweiten Ton über ihm liegen.

Diese Gleichheit des Abstandes kann sehr wohl eine Befriedigung gewähren, wie Jeder sie beim Hören der Oktave hat und wie sie in ähnlicher Weise beim Sehen eines Kreises auftritt. Die Kreislinie zeichnet sich ja dadurch aus, daß jeder Punkt in ihr vom Mittelpunkt die gleiche Entfernung hat. Auch im Auge sind die lichtempfindlichen Enden des Sehnerven für die Beurtheilung der Schönheit einer Figur unerläßlich, auch da wird der Abstand zweier Punkte durch die Anzahl der zwischenliegenden Nervenenden unbewußt geschätzt, und auch da bewirken gewisse Verhältnisse eine größere Befriedigung als andere, z. B. das Quadrat, das gleichseitige Dreieck eine größere als das Trapez oder das ungleichseitige Dreieck. Es kommt bei der Beurtheilung der Schönheit eines Gebäudes, eines Schrankes, einer Landschaft, eines Gesichtes vor allen Dingen auf das Verhältniß der einzelnen Theile zu einander an, auf die Dimensionen. Sowie dieses Verhältniß in einem Punkte erheblich gestört ist, nähert sich das Ganze der Karikatur oder der Mißgeburt und ist häßlich. Immer kommt es auf die Abstände der einzelnen Punkte, der Grenzen, der Linien von einander im Gesehenen an, das heißt auf die Schätzung der Anzahl der zwischen ihren Bildern auf der Netzhaut des Auges befindlichen Nervenelemente.

Wie bei dem bewußten Taxiren ist natürlich auch bei diesem ganz unbewußten erblichen, schon in der Jugend ausgebildeten Zählvermögen die Schätzung der Verhältnisse 1 : 2 und 1 : 11/2, auch 1 : 11/4, viel leichter als die Schätzung der Verhältnisse 1 : 1/7 und 1 : 11/9 oder 1 : 11/11. Ich meine: dasselbe muß für das Gehör gelten. Erstere Zahlen entsprechen angenehmen, letztere unaugenehmen Tonpaaren. Erstere sind leicht zu verstehen, letztere unverständlich. Das Unverständliche hat immer etwas Unlusterregendes an sich.

Wenn daher zwei Töne erklingen, von denen der eine die 100., der andere die 170. Faser vom Anfang der Klaviatur an gerechnet trifft, so wird man, meine ich, deßhalb unbefriedigt von dem Intervall sein, weil man nicht den Abstand von 7/10 der ersten Strecke genau beurtheilen kann, während die 100. und 125. und 150. Faser, wenn sie zusammenschwingen, die Beurtheilung von 1/4 und 1/2 der ersten Strecke verlangen und eine große Befriedigung gewähren, entsprechend dem Wohlklang des Akkords c e g. der in Zahlen durch 1 : 11/4 : 11/2 ausgedrückt wird.

Aehnlich alle anderen Konsonanzen und Dissonanzen. Sowie die Verhältnisse der Schwingungszablen der beiden Töne (die zugleich oder nach einander erklingen) und damit die der Mengen der im Ohre zwischen den entsprechenden Hör-Nerventasten liegenden ruhenden Tasten (Stäbchenzellen) verwickelt sind, nicht mehr durch kleine ganze Zahlen (1, 2, 3, 4, 5) ausgedrückt werden können, lassen sich die Unterschiede der beiden Strecken (vom Nullpunkt bis zur Taste des ersten Tons und von dieser bis zur Taste des zweiten Tons) und das Verhältniß der Anzahl der Nervenfaserenden beider Strecken zu einander nicht mehr leicht beurtheilen, daher die Unbefriedignng, welche alle Dissonanzen geben.

Für die Oktave ist die Schätzung am leichtesten, weil die ganze Strecke vom Anfang bis zum ersten (tieferen) Ton gleich ist der von diesem zum zweiten (höheren); sie heiße 1; für die Quinte ist sie dann 1/2, da 2 : 3 = 1 : 11/2, für die Quarte 1/3, da 3 : 4 = 1 : 11/3, für die große Terz 1/4, da 4 : 5 = 1 : 11/4. Die Abstände der unvollkommenen Konsonanzen sind aber etwas schwieriger zu schätzen, nämlich die Bruchtheile 1/5, 2/3, 3/5 des ersten Abstandes und vollends die aller Dissonanzen noch viel schwieriger zu erkennen, weil sie kleineren Bruchtheilen entsprechen.

In der Musik zählt man nur bis 5.

Schwierige Rechenexempel sind dem Kopfrechner unangenehm, während leichte ihm Vergnügen bereiten. Dem Künstler geht es ebenso. Ihm ist ist das Kopfrechnen unbewußt. Von Schwingungszahlen, Nervenfaserenden, Abständen der Stäbchenzellen weiß der Musiker nichts, wenn er innerlich die herrlichsten Akkorde hörend seine Symphonie komponirt. Auch der Maler und Architekt, der Bildhauer und Kupferstecher wissen nichts von den vielen hunderttausend Sehnervenfaserendigungen im Auge, nichts von der Kraft und Zahl der Aetherschwingungen des Lichts und zählen doch unbewußt die mikroskopischen Entfernungen des einen Mosaikfeldchens der Netzhaut vom anderen mit einer Genauigkeit, die den übrigen Sterblichen wunderbar erscheint, weil sie es nicht können und nicht verstehen.

Der große Denker Leibniz hatte Recht, als er im Jahre 1712 mit einer merkwürdigen Vorahnung künftiger Forschungsergebnisse schrieb: „Die Musik ist ein verborgenes Rechnen des Geistes, welcher nicht weiß, daß er zählt. Denn er thut Vieles mit unklaren oder unmerklichen Perceptionen, was er in deutlicher Apperception nicht wahrnehmen kann. Die irren, welche meinen, es geschehe nichts in der Seele, dessen sie selbst nicht bewußt sei. Obwohl also die Seele nicht fühlt, daß sie zählt, fühlt sie doch das Ergebniß dieser unmerklichen Zählung, das heißt das aus ihr fließende Vergnügen bei den Konsonanzen, Mißvergnügen bei den Dissonanzen. Denn aus vielen unmerklichen Uebereinstimmungen entsteht das Vergnügen.“

In ähnlichem Sinne hatte sich auch der jugendliche Descartes schon 1618 und gerade ein Jahrhundert später der Mathematiker Euler ausgesprochen. Aber keiner, auch unter den Forschern der Gegenwart keiner, dachte daran, daß es höchst wahrscheinlich beim unbewußten Zählen die Endigungen der Nervenfasern sind, deren Anzahl geschätzt wird. Alles Andere, was außerdem beim Hören in Betracht kommt, namentlich die Schwebungen der Obertöne und die Differenztöne, obwohl sehr wesentlich, kann doch nicht von solcher Wichtigkeit für die Unterscheidung der Konsonanzen von den Dissonanzen sein, weil diese auch beim Nacheinandererklingen der zwei Töne sofort vom musikalischen Ohre unterschieden werden, Schwebungen und Differenztöne und Rauhigkeit aber nur beim gleichzeitigen Erklingen zweier Töne entstehen. Sie erleichtern jenes schnelle Zählen.

Auch beim Schätzen der Entfernung zweier nach einander berührter Hautstellen von einander kommt es auf das unbewußte Zählen der zwischen ihnen liegenden Hautnervenendigungen an, wie beim Sehen zweier nach einander aufblitzender Sterne von gleicher Farbe, Größe und Lichtstärke an verschiedenen Orten auf das unbewußte Zählen der zwischen ihren Bildern, im Augenhintergrunde liegenden unerregten Netzhautelemente. Andernfalls würde man den zweiten Stern an derselben Stelle wie den ersten sehen. Nur Blinde, welche mit den tastenden Fingerspitzen zählen gelernt haben, bringen es aber dahin, mit diesen 3 von 4 und 5 kleinen erhabenen Stellen einer Fläche ebenso sicher ohne bewußtes Zählen zu unterscheiden, wie Sehende durch einen einzigen Blick.

Es ließe sich ein ganzes Buch über das im praktischen Leben in mannigfaltiger Weise sich bethätigende unbewußte Zählen schreiben. Doch werden die besprochenen Fälle schon genügen, um seine Bedeutung erkennen zu lassen.

Jena, im December 1885.