Unfehlbar
„Unfehlbar?“ Robert Moulin lachte spöttisch auf. „Mein lieber Junge, wenn du in den letzten Jahren so halbwegs regelmäßig deine Zeitung durchblättert hast – und ich nehme das an, da du den größten Teil des Tages in Kneipen und Kaffeehäusern zuzubringen pflegst –, so wirst du sicherlich häufig genug von Leuten gelesen haben, die bei einem solchen Geschäft, mochte es auch noch so schlau angelegt gewesen sein, nichts anderes eroberten als – einige Jahre Aufenthalt in einem kleinen, fest gemauerten Stübchen mit fest vergitterten Fenstern. An einen reichen Mann einen Drohbrief schreiben, der die liebenswürdige Ausforderung enthält, einige tausend Franken springen zu lassen, ist ja allerdings weiter kein Kunststück. Desto schwerer aber ist’s, eine Methode auszuklügeln, wie und wo man dann das Geld in Empfang nehmen soll, ohne dabei der Polizei in die Hände zu geraten. Und über diese Schwierigkeit sind schon genialere Köpfe wie du ins Zuchthaus gestolpert. Du kannst es mir daher nicht verargen, wenn ich zu deinem sogenannten „unfehlbaren“ Plane recht wenig Vertrauen habe und jede Teilnahme rundweg ausschlage. Ich möchte mich nämlich meiner Freiheit, wenn irgend möglich, noch einige Zeit erfreuen.“
„Aber du kennst meinen Plan ja noch gar nicht! Wie kannst du dich da nur gleich derart ablehnend verhalten!“ meinte Jacques Orville leicht gereizt. „Hast du denn wirklich allen Mut zu einem gewinnbringenden Geschäft verloren! Früher warst du jedenfalls kein so großer Angsthase!“
„Reg dich nicht auf, mein Lieber!“ meinte Moulin etwas gönnerhaft. „Die größere Erfahrung von uns beiden besitze doch zweifellos ich – das wirst du kaum bestreiten können. Und diese Erfahrung sagt mir: Es gibt keinen unfehlbaren Trick, um ein solches Geschäft vollkommen gefahrlos ausführen zu können. Und wenn du mir jetzt endlich dein angeblich erstklassiges Plänchen verraten willst, so werde ich dir nachher sofort auseinandersetzen, wo sich in deinem Geistesprodukt die schwachen Stellen befinden. Selbstverständlich verspreche ich dir, daß kein Sterbenswörtchen darüber über meine Lippen kommt. Und auf Robert Moulin kann man sich in dieser Beziehung verlassen.“
Niemand hätte in den beiden elegant gekleideten Herren, zwischen denen diese Unterhaltung an einem warmen Frühlingstage auf einer Bank des Luxemburggartens in Paris stattfand, Mitglieder jener gefährlichen Hochstaplerzunft vermutet, die besonders zahlreich gerade in der schönen Seinestadt mit ihrem internationalen Fremdenverkehr vertreten ist.
Jacques Orville, offenbar der Jüngere der beiden, begann seinem Gefährten in sehr klar durchdachter Weise sein Unternehmen zu entwickeln.
Zunächst drückte sich in Moulins hagerem Gesicht nur eine recht mittelmäßige Spannung aus. Aber je länger Orville sprach, desto interessierter wurde er. Und zum Schluß stieß er mit rückhaltloser Begeisterung hervor: „Sag nur, Junge, wo hast du diese Idee her? Alle Wetter, damit läßt sich allerdings was anfangen! Hier, schlag ein. Ich bin dein Mann!“
In der etwa fünf Kilometer von Paris entfernten Ortschaft Vélizy mieteten die Verbündeten schon am nächsten Tage ein kleines Häuschen, das der Besitzer an Sommergäste zu vermieten pflegte. Es entsprach durchaus ihren Wünschen. Es lag etwas abseits am Nordausgange des Dorfes und stieß mit dem dazu gehörigen Gärtchen an den Park von Meudon, der sich zwischen Versailles und Paris mit seinen wohlgepflegten Anlagen hinzieht. Der Preis war mäßig, und so mieteten sie das Grundstück gleich auf ein halbes Jahr. Dem Eigentümer gegenüber gaben sie sich als Maler aus, und niemand zog dies irgendwie in Zweifel, zumal in ihrem Tun und Lassen auch nicht das geringste Auffällige zu bemerken war.
Nachdem sie sich in ihrer neuen Behausung eingerichtet hatten, verreiste Robert Moulin für zwei Tage. Die Zeit seiner Abwesenheit benützte Jaques Orville dazu, auf dem Boden des Häuschens einen Taubenschlag aus Brettern und Latten zusammenzuzimmern.
Als er eben auf dem Hofe mit einer Handsäge ein Brett kürzte, erschien der dicke Herr Loisin, der Besitzer des Häuschens, um einmal nachzuschauen wie den beiden Künstlern ihr Sommerheim zusage.
„Danke sehr, Herr Loisin – prächtig gefällt es uns hier, ganz prächtig,“ meinte Orville liebenswürdig. [602] „Und gut, daß Sie gerade heute bei uns vorsprechen. Ich hätte sonst nämlich an Sie geschrieben. Ich bin ein großer Liebhaber von Tieren und möchte mir hier draußen ein paar Hühner und Tauben halten. Sie haben doch wohl nichts dagegen. Mein Freund beabsichtigt außerdem für die nächste Ausstellung einen Geflügelhof zu malen, und da verbinden wir das Angenehme mit dem Nützlichen: Ich kann meiner Liebhaberei frönen, und Moulin hat gleich lebende Modelle für sein Bild.“
„Meinetwegen können Sie sich eine ganze Menagerie zulegen,“ lachte der Hauswirt gutmütig. „Nebenbei – ich züchte selbst Hühner, und meine Bramaputrahähne sind schon auf zwei Geflügelausstellungen mit Preisen gekrönt worden. Wenn Sie mal eine Stunde opfern wollen, kommen Sie nur zu mir, Sie werden Ihre Freude an meinem Hühnerhof haben.“
Jacques Orville nahm die freundliche Einladung dankend an. Weit war es ja auch nicht bis zu Herrn Loisin, der eine größere Besitzung am Südausgange von Vélizy sein eigen nannte. –
Als Robert Moulin am nächsten Abend von seiner Reise zurückkehrte – er hatte eine lange, schmale Kiste mitgebracht, die von den beiden Freunden äußerst vorsichtig behandelt wurde –, erzählte Orville ihm lachend von dem Besuche des braven Loisin.
„Das hast du gut gemacht, mein Junge,“ sagte Moulin daraufhin anerkennend. „Die Geschichte von meinem Gemälde für die Ausstellung und deiner Schwärmerei für Geflügel klingt recht harmlos und durchaus glaubwürdig. – Also du bist auch schon mit dem Taubenschlag fertig? Hast dich ja mächtig dazugehalten! Dann wollen wir auch gleich den lieben Tierchen ihre neue Wohnung anweisen.“
Die lieben Tierchen waren zehn Brieftauben, die Moulin in Rouen von einem bekannten Züchter gekauft und gleich mitgenommen hatte. Als er jetzt die Tauben einzeln aus der Kiste herausnahm und auf den mit Sand sauber bestreuten Boden des Schlages setzte, meinte er: „Der brave Mann in Rouen ahnt nicht im geringsten, daß seine Ware zu dieser Stunde hier in der Nähe von Paris ausgepackt wird. Ich stellte mich ihm nämlich als Brüsseler vor, der von seinen großartigen Zuchterfolgen gehört hätte, und der eitle Mensch war über diese Schmeichelei derart entzückt, daß er mir am liebsten noch ein halbes Dutzend dazugeschenkt hätte.“ –
In den nächsten Wochen – inzwischen waren auch noch einige Hühner angeschafft worden, um den Schein zu wahren –, sah man die beiden Sommerfrischler häufig mit ihren auffallend breiten Malkästen die Umgegend durchstreifen.
Dann meinte Moulin eines Abends, nachdem er einen Abschnitt in dem Buche „Der Taubenzüchter“ wiederholt genau durchgelesen hatte: „Mein Junge, morgen früh können wir das Flugloch des Schlages zum ersten Male probeweise öffnen. Um aber ganz sicher zu gehen, werden wir erst nur zwei Tauben hinauslassen.“
Der Versuch glückte. Die Tiere hatten sich inzwischen an die neue Umgebung gewöhnt und kehrten nach kurzen Rundflügen immer wieder auf das Dach des Häuschens und in den hellen, stets außerordentlich sauber gehaltenen Schlag zurück.
Ein heimlicher Beobachter der angeblichen Künstler hätte nun manch interessante Entdeckung machen können. Aber niemand fiel es ein, den beiden so harmlos erscheinenden Menschen irgendwie nachzuspionieren. Und so entging es allen, daß die wirklich mit allen Hunden gehetzten Gauner bei ihren Spaziergängen in ihren Malkästen regelmäßig einige ihrer Brieftauben mit sich führten und diese ebenso regelmäßig bald hier bald dort in der Gegend auffliegen ließen, um den Orientierungssinn und das Gedächtnis der Tiere zu stählen.
Hierbei gingen Moulin und Orville mit äußerster Achtsamkeit vor. Niemals gaben sie die Tauben frei, wenn jemand in der Nähe war, und so ahnte auch dann noch niemand etwas von ihrem geheimnisvollen Treiben, als die klugen, pfeilschnellen Vögel bereits mit größter Sicherheit die Strecke von St. Cloud nach Vélizy zurücklegten. Und auf St. Cloud, die reiche, an der Seine gelegene Vorstadt von Paris, hatten die geriebenen Hochstapler von vornherein ihr Augenmerk gerichtet.
Der Rentier Isfort, der in der Rue Montretout in St. Cloud einen wahren Palast bewohnte, gehörte zu jenen Leuten, mit denen ein anständiger Mensch unmöglich verkehren konnte. Es war eben allzusehr in die Öffentlichkeit gedrungen, daß sein Reichtum aus einer recht unlauteren Quelle stammte. Isfort hatte im Deutsch-französischen Kriege als junger, aber bereits völlig skrupelloser Spekulant für die französische Armee ungeheure Lieferungen an Getreide und Vieh ausgeführt und dabei in einer geradezu schamlosen Weise betrogen. Es war ihm dann dieserhalb auch später der Prozeß gemacht worden, aber die Sache war im Sande verlaufen, ohne daß Isfort sich genötigt sah, für einige Zeit eines der ungemütlichen Gefängnisse der Republik zu beziehen. –
An einem regnerischen Julimorgen saß der Rentier, der seit Jahren Witwer war, mit seinem einzigen Kinde, einem hübschen jungen Mädchen von ungefähr achtzehn Jahren, auf der glasbedeckten, an der Rückseite des Hauses befindlichen Veranda beim Kaffee. Die zwischen Vater und Tochter augenblicklich herrschende Stimmung entsprach völlig dem trüben Wetter draußen, dem bleigrauen, düsteren Himmel und dem unaufhörlich herabströmenden Regen. Wie so oft war auch heute wieder Viktor Desartelle, ein vorläufig noch ziemlich wenig gesuchter Advokat, die Ursache einer erregten Aussprache zwischen den beiden gewesen.
Die Sache lag so, daß Yvette Isfort fürs Leben gern Viktor Desartelle die Hand zum Bunde gereicht hätte, wovon aber der Herr Papa nichts wissen wollte, da er mit seinem einzigen Kinde andere Pläne hatte. Im stillen hoffte der so übelbeleumundete frühere Armeelieferant noch immer, es würde sich irgend ein durch den Glanz des Isfortschen Goldes angelockter Graf oder Baron finden, der Yvette und damit auch ihren Vater in Gesellschaftskreise einführen könnte, die ihnen bis jetzt verschlossen geblieben waren. Ob seine Tochter dabei glücklich oder unglücklich wurde, das war dem nach der Gemütseite hin nicht allzu stark entwickelten Rentier völlig gleichgültig.
Jedenfalls wiederholte er Yvette fast täglich dasselbe: „Nie gebe ich dir meine Einwilligung zu einer Heirat mit diesem armen Schlucker von Desartelle, dessen Mutter noch vor drei Jahren hinter ihrem Grünkramtisch in den Markthallen gesessen hat.“ Und mit diesen Worten hatte er auch die heutige Aussprache über dieses Thema wieder schroff und kurz abgeschnitten.
Ein Diener betrat die Veranda und überreichte Isfort auf silberner Platte die Morgenpost. Darunter befand sich auch ein Brief, den der Rentier erst kopfschüttelnd von allen Seiten betrachtete, bevor er die Siegel aufbrach und den großen, mehrmals zusammengefalteten Bogen herausnahm. Isfort war die Handschrift völlig unbekannt, und so begann er denn neugierig den Inhalt des Schreibens zu überfliegen. Aber schon die ersten Zeilen trieben ihm das Blut in starker Welle zu Kopf. Eifrig las er weiter, um dann plötzlich einen Fluch auszustoßen, der Yvette angstvoll aus ihrem Korbsessel emporschnellen ließ.
„Was hast du nur?!“ fragte das junge Mädchen mit leisem Vorwurf. „Du bist ja leichenblaß geworden, und dicke Tropfen stehen auf deiner Stirn!“
„Was ich habe – was ich habe?! Da – da lies einmal! – Diese Schurken, diese dreimal verwünschten Halunken!“
Er hatte seiner Tochter den Brief zugeschleudert und rannte jetzt, Verwünschungen vor sich hinmurmelnd, wie ein gereizter Tiger auf der Veranda auf und ab.
Der offenbar mit verstellter Handschrift geschriebene Brief lautete folgendermaßen: „Wir, die internationale Erpressergesellschaft der schwarzen Hand, teilen Ihnen mit, daß heute noch bei Ihnen mit der Post ein Korb eintreffen wird, in dem sich zehn lebende Brieftauben befinden. Sie werden an die beiden mittelsten Schwanzfedern jeder dieser Tauben mit Seide je drei eng zusammengerollte Tausendfrankennoten annähen. Wir warnen Sie, der Polizei oder irgend einer dritten Person von dem Inhalt dieses Briefes Kenntnis zu geben. Ihr Haus wird ständig bewacht. Sollten die Tauben in der vorgeschriebenen Weise nicht innerhalb drei Tagen zu uns zurückgekehrt sein oder aber irgendwelche Anzeichen dafür sprechen, daß Sie die Hilfe der Behörden nachgesucht haben, so machen Sie nur getrost Ihr Testament. Wir werden Sie zu finden wissen. Außerdem hätte eine Benachrichtigung der Polizei auch gar keinen Zweck, da wir bei dieser Art unseres Vorgehens nicht zu fürchten brauchen, bei Empfangnahme des Geldes abgefaßt zu werden, wie dies den weniger intelligenten Erpressern zumeist passiert. Dem Fluge der Brieftauben vermag niemand zu folgen, das werden Sie selbst einsehen. Es ist also vollkommen ausgeschlossen, die Unterzeichneten auszukundschaften und ihre weiteren Pläne zu vereiteln. Kurz – unser Risiko bei der Sache ist gleich Null, während es sich bei Ihnen um Sein oder Nichtsein handelt. Und sechzigtausend Franken dürfte Ihnen, Herr Isford, Ihr Leben wohl wert sein.“
„Das ist ja entsetzlich!“ stöhnte jetzt auch Yvette auf, als sie zu Ende gelesen hatte. „Was wirst du tun.?“
„Was ich tun werde?“ donnerte Herr Isfort los. „Ich werde – ich werde – ja, was werde ich denn? – Was, was soll ich da tun?“ schloß er weinerlich. „Ich kann ja nichts gegen die Halunken unternehmen – nichts, gar nichts! Mir sind die Hände völlig gebunden. Die schwarze Hand, das ist ja jene Bande, die drüben in den Vereinigten Staaten schon unzählige, ebenso freche wie raffinierte Schandtaten verübt hat. Immer wieder liest man davon in den Zeitungen. Mit denen ist nicht zu spaßen. Die Kerle machen Ernst, wenn ich nicht gehorche. Und wie schlau die Schufte die Geschichte eingefädelt haben, wie teuflisch schlau! Sie sind ja tatsächlich nicht zu fassen, das sage ich mir selbst, das habe ich sofort gemerkt. – Ach, diese Halunken. Wenn es ein Mittel gäbe, ich würde es mich etwas kosten lassen, sie unschädlich zu machen.“
„Väterchen,“ meinte Yvette, „vielleicht ist es auch nur ein schlechter Scherz, den sich jemand mit dir macht. Wollen doch erst sehen, ob der Korb mit den Tauben wirklich eintrifft.“
Isfort blieb bei diesem Hoffnungsschimmer wie angewurzelt stehen.
„Kind,“ sagte er stockend und kaum mehr eines klaren Gedankens fähig, „Kind, wenn das der Fall wäre – oh, ich würde dir dann aus Freude jeden Wunsch erfüllen, jeden –“
In diesem Augenblick betrat der Diener abermals die Veranda und meldete: „Soeben ist ein Korb mit der Post angekommen. Es sind Tauben darin, wie ich durch das Geflecht sehen konnte.“
Da fiel Isfort mit dumpfem Ächzen in den nächsten Sessel.
Am Abend dieses aufregenden Tages ließ sich Viktor Desartelle bei dem Rentier melden. Er hatte am Nachmittag mit seiner Yvette eine schon früher verabredete Zusammenkunft gehabt und wurde bei dieser Gelegenheit von ihr in alles eingeweiht, trotzdem Isfort seiner Tochter aufs strengste untersagt hatte, auch nur eine Silbe von dem Inhalt des Briefes jemand zu verraten. Der junge Advokat war, um keine Vorsicht außer acht zu lassen, in der Verkleidung eines Postboten erschienen und fand bei dem völlig niedergeschmetterten Rentier einen ungewöhnlich freundlichen Empfang.
Die Unterredung zwischen den beiden Männern dauerte nicht lange. In kurzen Worten setzte Desartelle dem freudig aufhorchenden alten Herrn auseinander, auf welche Weise er die Gauner trotz ihres scheinbar unfehlbaren Tricks doch zu überlisten gedächte.
„Sie brauchen dabei für Ihr Leben wirklich nicht zu fürchten, Herr Isfort,“ erklärte er zuversichtlich. „Wenn Sie vorläufig Ihr Haus nicht verlassen, kann Ihnen nichts geschehen. Und inzwischen hoffe ich, die Spitzbuben, die hier unter der drohenden Maske von Mitgliedern der schwarzen Hand segeln – in Wirklichkeit werden es gewöhnliche Pariser Gauner sein – völlig unschädlich machen zu können.“
Isfort war nach einigem ängstlichen Zögern mit allem einverstanden, und der junge Advokat kehrte nach Paris zurück, um unverzüglich ans Werk zu gehen. Mit sich aber nahm er in einem ganz unauffälligen Koffer die zehn Brieftauben.
In seiner Wohnung angelangt, verfertigte er zunächst aus einer Bleiplatte eine ganze Anzahl von kurzen, an einer Seite offenen Röhrchen, die sich bequem um die Kiele der Schwanzfedern der Tauben durch Zusammendrücken befestigen ließen. Hierauf stellte er mit den Brieftauben in seinen Zimmern Versuche an, mit wie vielen von den Bleiröhrchen das einzelne Tier belastet werden müßte, um es an allzu schnellem Fliegen zu hindern.
Es war schon spät geworden, als Desartelle dies genügend ausprobiert hatte. Dann begab er sich sofort nach der nächsten Polizeiwache, legitimierte sich als Advokat und bat um die Überlassung von mehreren Kriminalbeamten, die ihm auch bereitwilligst zur Verfügung gestellt wurden.
Am nächsten Morgen wurden Moulin und Orville durch heftiges Klopfen an der Vordertür ihres Sommerhäuschens recht unsanft geweckt. Moulin eilte nur notdürftig bekleidet ans Fenster, riß den Flügel auf und schaute hinaus. In dem Vorgärtchen stand ein elegant gekleideter, ihm jedoch völlig unbekannter Herr.
Dieser trat jetzt näher, lüftete leicht den Hut und begann mit offenbar stark ironisch gefärbtem Lächeln: „Wie mir in dem Hause dort drüben gesagt wurde, wohnen hier zwei Pariser Künstler.“
„Allerdings,“ beeilte sich Moulin zu erwidern. „Womit kann ich Ihnen dienen?“
Der Herr lächelte stärker. „Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen, daß Ihre Brieftauben zurückgekehrt sind.“
[604] Inzwischen war auch Orville hinter seinem Freunde sichtbar geworden, und beide riefen jetzt, vorläufig noch völlig ahnungslos, freudig überrascht:
„Wirklich, unsere Brieftauben sind da?“
„Ja, Ihre Brieftauben,“ antwortete der Fremde jetzt mit offensichtlichem Hohn in der Stimme. „Ihre Brieftauben sind da, aber ohne die erhofften Banknoten, meine Herren.“
Würde der Blitz vor den am Fenster stehenden Hochstaplern in die Erde gefahren sein, sie hätten kaum entsetztere Gesichter machen können als in diesem Augenblick, wo sie ihren raffinierten Plan aufgedeckt sahen.
Aber sie sollten nicht dazu kommen, diese wenig erfreulichen Gedanken weiter auszuspinnen, denn während Viktor Desartelle das Verbrecherpaar ans Fenster gelockt hatte, waren die Kriminalbeamten durch die Hintertür geräuschlos eingedrungen und nahmen jetzt die völlig überraschten „Künstler“, die keinerlei Widerstand zu leisten wagten, fest.
Ruhig ließen sich Moulin und Orville die Handschellen anlegen, wobei der erstere nur zu seinem Verbündeten mit blutiger Ironie bemerkte: „Ich fürchte, mein Junge, dein unfehlbarer Trick wird uns teuer zu stehen kommen. Jedenfalls wirst du vorläufig keine Gelegenheit haben, deiner Geflügelliebhaberei weiter zu frönen, und mein Gemälde dürfte wohl kaum zur nächsten Ausstellung fertig werden.“
Eine Viertelstunde später fuhr der geschlossene Wagen vor, in dem die Verhafteten nach Paris geschafft werden sollten. Desartelle ließ es sich nicht nehmen, die Herren „Künstler“ zu begleiten. Er wollte auf der Polizeipräfektur den Triumph auskosten, diese beiden gefährlichen Galgenvögel unschädlich gemacht zu haben.
Unterwegs wandte sich Moulin, der im Gegensatz zu seinem völlig niedergebrochenen Genossen dieses ungeahnte Pech mit voller Gleichgültigkeit ertrug, mit der höflichen Bitte an den jungen Advokaten, ihm doch zu erklären, auf welche Weise man ihnen eigentlich auf die Spur gekommen sei.
Desartelle hatte keinen Grund, die Antwort hierauf zu verweigern. „Wir, die Kriminalbeamten und ich,“ erklärte er sehr höflich, hatten für heute bei Morgengrauen auf offenem Felde westlich von St. Cloud ein Zusammentreffen verabredet. Drei von den Beamten waren dazu auf Fahrrädern erschienen. Sobald es völlig Tag geworden war, ließen wir von Ihren Brieftauben, die in einem Korbe mitgenommen und durch Bleistücke an der vollen Entfaltung ihrer Fluggeschwindigkeit gehindert worden waren, zunächst zur Probe nur zwei aufsteigen. Schwerfällig erhoben sie sich in die Lüfte, kreisten in mäßiger Höhe erst einigemal um unsere Köpfe und schlugen dann langsam eine direkt südliche Richtung ein, gefolgt von den Radfahrern, die hierbei die zahlreichen, das Gelände durchschneidenden Wege und Fußpfade benutzten. Aber die sonst so schnellen Tauben kamen, ganz wie ich gerechnet hatte, infolge der Belastung durch die Bleistücke nicht weit. Bereits nach kaum zwei Kilometer ließen sie sich auf dem Dache einer im Parke von St. Cloud stehenden Villa völlig erschöpft nieder, so daß es auch uns Fußgängern möglich war, nachzukommen. Nach einer Weile jagten wir dann die Vögel wieder auf, die jetzt noch niedriger und noch langsamer, aber in derselben Richtung dahinstrichen. Dergestalt überzeugten wir uns, daß der Ort, wo die Tauben beheimatet waren, fraglos irgendwo im Süden von St. Cloud zu suchen sei. Um nun das Verfahren abzukürzen – inzwischen hatten die Tauben abermals auf einem Hause Station gemacht – ließ ich zu ihrer Beobachtung einen der Radfahrer zurück und fuhr mit den anderen Beamten und den noch nicht verwendeten acht übrigen Tauben zu Wagen nach Chaville, das bekanntlich vier Kilometer südlich von St. Cloud an der Straße nach Versailles liegt. Hier in der Nähe von Chaville wiederholten wir auf übersichtlichem Gelände unser Experiment mit einer weiteren Taube. Auch diese flog nach Süden zu davon, woraus hervorging, daß wir über den von uns gesuchten Ort noch nicht hinausgekommen waren. Da ich mit meinem Material sparsam umgehen mußte – ich konnte ja nicht wissen, wie oft wir noch Tauben auffliegen lassen mußten, um durch sie zu ihrem Schlage geleitet zu werden – scheuchten wir die in Chaville freigegebene Taube so lange auf, bis es uns gelang, sie auf dem Hofe einer Farm wieder einzufangen. Dann brachten uns die Wagen auf meine Anordnung hin bis Jouy, das wieder vier Kilometer südlich von Chaville liegt. Abermals sollte uns hier eine weitere Taube die fernere Richtung für unsere Verfolgung anzeigen. Sie flatterte hoch, kreiste einigemal in der Luft, um sich zu orientieren, zog dann jedoch nicht wieder nach Süden, sondern vielmehr nach Nordost davon, für uns ein Beweis, daß ihr heimatlicher Schlag sich zwischen Joup und Chaville befinden mußte. Nachdem wir dann noch in Zwischenräumen von je ein Kilometer drei weitere Tauben, und zwar die letzte in Vélizy selbst, hatten aufsteigen lassen, führte uns diese zu dem von Ihnen und Ihrem Genossen gemieteten Haus, wo sie sofort in dem offenen Flugloch unter dem Dache verschwand.“
„Das haben Sie außerordentlich fein angestellt, mein Herr,“ sagte Moulin anerkennend. „Alle Hochachtung vor Ihrem Scharfsinn!“ Und zu dem in seiner Wagenecke hockenden Jacques Orville gewandt, fügte er hinzu: „Weißt du noch, mein Junge, wie ich dich damals auf der Bank im Luxemburggarten warnte? Nun sind wir wirklich über die schwache Stelle in deinem unfehlbaren Trick ins Zuchthaus gestolpert!“
Viktor Desartelle wurde durch den in ganz Frankreich großes Aufsehen erregenden Fall als tüchtiger Advokat überall bekannt und kam außerdem noch zu seinem reizenden Frauchen.