Unsere Wintergäste

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Titel: Unsere Wintergäste
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 125–127
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Offene Wintertafel

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Unsere Wintergäste.

Mit Abbildung.

Der Mensch steht dem Menschen natürlich am nächsten, der darbende Mitbruder, die leidende Mitschwester hat den ersten und drängendsten Anspruch auf unsere Theilnahme, unsere werkthätige Hülfe, – allein über der Erfüllung dieser unserer nächsten und wichtigsten Pflicht dürfen wir nicht vergessen, daß auch die Thierwelt in ihren Nöthen ein Anrecht auf unser fürsorgliches Interesse, unsern Schutz und unsere Unterstützung besitzt, wenn sie deren bedarf. Auch in ihr giebt es eine zahlreiche Classe, die, sobald der Winter einzieht mit Frost und Kälte, sobald Schnee und Eis Feld und Flur bedecken, sich nicht mehr die nöthige Leibesnahrung und -Nothdurft verschaffen kann und oft genug der Noth der Zeit zahlreich zum Opfer fällt. Wir meinen vor allen jene anmuthigen befiederten Geschöpfe, die als Wintergäste sich den menschlichen Wohnstätten nähern und hülfeflehend unser Mitleid anrufen. Man muß nur einmal hinausgehen an einem strengen Wintertage, um zu sehen, wie viele der Nothleidenden, der Hungernden und Frierenden auch hier es giebt. – Dort sitzt z. B. ein Goldämmerchen zusammengekugelt, die Füßchen verbergend in das aufgebauschte Gefieder, das seinen Leib mit doppelt wärmender Luftschicht umhüllt. Wie traurig und selten erklingt jetzt sein „sit, sit!“ gegen das fröhliche Sommerliedchen: „Sichelchen schnied! – s’is s’is früh!“, mit dem es die Arbeit des Landmannes begleitet! Hier trippelt ein altes Finkenmännchen umher, das ausnahmsweise einmal seine Wintersaison bei uns Norddeutschen halten wollte; Weibchen und Junge wagen solch’ bedenkliches Unternehmen nie, sondern ziehen im Herbste südwärts. Was ist es aber, das diesen Sonderling zum Dableiben bestimmte? Ist der alte Herr zu träge zum Reisen und der fremden Länder überdrüssig, oder baute er fest auf die Mildthätigkeit der Deutschen und hält die Bangigkeit seiner Genossen vor dem deutschen Winter für ein angeborenes Vorurtheil? Wie demüthig-schweigsam aber, fast als hätte er einen unüberlegten Entschluß zu bereuen, sucht er nun die spärlichen Körnchen der „Wegebreite“ und der wilden „Cichorie“, die von den Winden verstreuten Sämchen der Erlen und Birken auf den verschneiten Wegen zusammen! Nicht einmal seinen einfachen Finkenruf, noch viel weniger seinen kecken „Schlag“ läßt er hören!

Haubenlerchen, Grauammern und Feldspatzen, Amseln, Goldhähnchen und Meisen aller Art flüchten aus Feldern und Wäldern in die Nähe unserer Wohnungen, um hier Schutz und Nahrung zu suchen:

„Im Felde draußen da giebt’s nichts mehr,
Der Schnee deckt Alles rings umher.
Da hörten wir euern Drescherschlag
Und ziehen dem lieben Klänge nach.“

Indeß nicht alle unsere Wintergäste lassen sich von der eisigen Hand des Winters niederbeugen; manche trotzen als wahre Helden jedem Ungemach. Meisen und Goldhähnchen, die ewig beweglichen und thätigen; sieht man nie traurig und verzagt still hocken wie Ammern und andere Feldflüchter. Der zwergige Zaunkönig treibt sich, als wollte er durch gymnastische Bewegungen seinen winzigen Körper erwärmen, unermüdlich in den Hecken und Reisighaufen umher und läßt selbst bei der strengsten Kälte seine kräftig schmetternde Stimme erschallen. Der Gesang des schmucken Wasserstaares ertönt sogar zwischen den Eisschollen an den Rändern der Gebirgsbäche und Wasserfälle.

Häufig gesellen sich zu unsern ständigen Wintergästen auch nordische Flüchtlinge, wie der „Quäker“ oder Bergfink, der „Zetscher“ oder Bergzeisig; seltener erscheint in ungewöhnlich strengen Wintern – unsere thüringischen Vogelsteller meinen irrig alle sieben Jahre – der schönbefiederte Seidenschwanz. Diesen Bewohnern des unwirthlichsten Nordens ist auch der strengste deutsche Winter nur Spaß gegen den ihrer Heimath, und unser Thüringer Wald mag ihnen selbst in seiner rauhesten Jahreszeit noch so mild und angenehm erscheinen, wie etwa uns ein Winteraufenthalt in Nizza oder Algier. Erlen- und Birkensamen, Wachholdern und Ebereschen, selbst die Beeren des gemeinen Faulbaums und Weißdorns –- kurz all’ die deutschen Baum- und Strauchfrüchte, welche unsere einheimischen Vögel verschmähten oder übrig ließen, sind für sie wahre Leckerbissen.

Diejenigen Vögel aber, welche von Natur nicht mit solchem Heldenmuthe begabt und überdies auch noch durch die Strenge des Winters ihrer gewöhnlichen Nahrung beraubt sind, haben umsomehr Ansprüche auf den Schutz des Menschen.

Auf keine bessere und zugleich für uns angenehmere und lohnendere Weise können wir ihnen solchen gewähren, als durch Anlegung von Fütterungen in der Nähe unserer Wohnungen, daß wir so zu sagen „offene Tafel“ für unsere lieben Gäste halten, von der sich ein jeder nach Lust und Bedürfniß, und wie es seinem besondern Geschmack und Appetit beliebt, zulangen kann. Vieljährige Erfahrung hat uns gelehrt, daß sich die Vögel für die ihnen so erwiesenen Wohlthaten nicht nur dankbar zeigen, ja oft dankbarer, als viele Nebenmenschen, sondern unsere Mildthätigkeit auch reichlich vergelten und daß uns aus dem sorglichen Hegen und Pflegen dieser nützlichen Thierchen ein hohes, reines Vergnügen erwächst.

Man versuche nur, auf dem Hofe, in einem offenen Schuppen, oder an einem sonstigen geschützten Platze, Körner und Küchenabfälle aller Art, auch Hollunder- und Vogelbeeren auszustreuen, und man wird bald zu seiner Freude bemerken, welch’ zahlreiche Gesellschaft von hungrigen Gästen sich einfindet, zumal wenn tiefer Schnee die Flur bedeckt, Reif und Eis die Bäume überzieht.

Noch ein größeres Vergnügen gewähren Fütterungen, die man vor den Fenstern der Hof- und Gartenseite des Hauses anlegt, indem man dazu entweder ein Blumenbret benutzt, oder ein ähnliches, womöglich aber altes Bret annagelt, auf dasselbe ein niedriges Fichtenbäumchen setzt und allerlei Futter ausstreut: Hafer, Rübsamen, Mohn, Hanf, gehacktes Fleisch, Brodkrumen etc.; Stückchen Speck, Lichtstümpfchen, Wurstschalen, Wallnußkerne an Fädchen gebunden, Haferkörner zu Kränzchen geschnürt und in die Zweige des Bäumchens gehängt, geben Hauptleckerbissen für die Meisen. Welch’ ein fröhliches Getümmel entwickelt sich vor unseren Augen, sobald die erste Scheu der armen, gedrückten Thierchen überwunden ist! Haus- und Feldspatzen, Ammern und Lerchen, Finken und Spechte, ja selbst die sonst so scheuen Amseln und Raben sprechen als willkommene Gäste vor. Von letzteren besuchen nun schon vier Jahre nacheinander dieselben Pärchen unsere Fütterungen, die wir mitten im Thüringer Walde theils auf Bäumen vor den Wohngebänden, theils an unsern Fenstern errichtet haben. Ja, es führen uns die einmal befreundeten Vögelchen, mögen sie ständige oder ambulante Wintergäste sein, auch von ihren Nachkommen und Verwandten alljährlich neue zu, gleichsam als sage es einer dem andern, [126] wo ein Plätzchen zu finden ist, an dem man es hegt und pflegt und dieser Pflege auch gern wohl ein Opfer bringt.

Vor Allem findet sich jedoch das muntere Volk der Meisen, klein und groß, auf unserer Fensterfütterung zahlreich ein: die schmucke, große Kohlmeise, die herrschsüchtige, kräftige Spechtmeise, das niedliche, zaghafte Tannen- oder Harzmeischen, die boshaft-tückische Blaumeise, seltener Hauben-, Sumpf- und Schwanzmeisen. Alle lassen sich’s wohl sein, wenn es auch nicht immer friedlich und rechtlich beim Schmause hergeht; denn auch hier, wie so oft im Menschenleben, muß der Friedlichere und Schwächere dem Unverschämten und Mächtigen weichen. Legt man ihnen einen Knochen mit Knorpel oder Fett hin, so ist dieser ganz besonders ein Gegenstand fortwährenden Streites und Kampfes, eines beständigen Drängens und Treibens. Begierig sucht sich jedes den besten Bissen abzumeißeln, was natürlich der Spechtmeise mit ihrer kräftigen „Keilpicke“ am leichtesten gelingt. Die in den Zweigen aufgebundenen Nußstückchen und Haferkränzchen werden entweder hängend und schaukelnd aufgepickt, oder zierlich zwischen die Krällchen gefaßt und auf dem Rande der Fütterung, meistens aber auf den nächststehenden Bäumen, verzehrt. Kurz, es ist ein gar lustiges und überaus anmuthiges Schauspiel, das sich tagtäglich an unserer Gasttafel erneuert.

Sobald indeß der Schnee verschwindet, werden unsere Fütterungen seltener besucht; die meisten unserer Schützlinge gehen dann, die Almosen verschmähend, in den Gärten und Feldern der von Natur ihnen angewiesenen Nahrung nach. Neue Freuden für uns und reiche Segnungen für die Fluren erblühen aber, wenn wir dafür sorgen, daß es unsern Wintergästen späterhin nicht an Gelegenheit zum Nisten fehlt, sie werden sich dann um so lieber auch häuslich bei uns niederlassen und den Sommer über in unserer Nähe verweilen.

Dies erreicht man am sichersten dadurch, daß man einestheils für die kleinen Sänger an geschützten, ruhigen Orten dichte Laubhecken anlegt, anderntheils für die Höhlenbrüter, namentlich Meisen, alte, hohle Bäume stehen läßt und zu Vogelwohnungen herrichtet. Wer dies aber nicht in seiner Umgebung hat oder nicht dulden mag, der kann auch dafür in zweckmäßigen Nist- und Brutkästen einigen Ersatz bieten.

Gelingt es uns, recht viele Miethsleute für unsere „Arbeiterquartierchen“ herbeizuziehen – welcher Genuß erwächst uns daraus! Schon das Beobachten dieser reizenden, immerfrohen, ewig regsamen Thierchen mit ihren heitern Sangesweisen, das Belauschen beim Bauen, Brüten und Füttern gewährt ein stilles, inniges Vergnügen. Und welch’ eine Freude erst, wenn die kleinen Nimmersatte, eins nach dem andern, als wollte es gar kein Ende nehmen, fröhlich piepend aus ihren Löchern schlüpfen, sich auf den nächsten Zweigen in Reih und Glied niederlassen oder mit lebhaftem Gezirpe schaarenweis von Baum zu Baum schwärmen, während die Alten in der emsigsten Geschäftigkeit sorglich um sie herflattern, fütternd, schützend und warnend!

So gewährt das Hegen und Pflegen unserer Wintergäste nicht nur hohe, reine Naturfreuden, sondern trägt auch wesentlich dazu bei, daß im Frühjahr Gärten und Fluren, von zahlreichen Sängern belebt, von Insectenfraß verschont, im schönsten Grün und vollster Blüthenpracht prangen.

Gewiß, es bedarf für den Naturfreund keiner besonderen Aufforderung, unsern befiederten Lieblingen, vor allen aber den Wintergästen, jeden möglichen Schutz angedeihen zu lassen.